• Keine Ergebnisse gefunden

Politische Institutionen in der Systemtransformation – einige

3. Faktoren institutionellen Wandels: Strukturen – Akteure –

3.4 Politische Institutionen in der Systemtransformation – einige

Das in diesem Kapitel skizzierte Feld der Bedingungsfaktoren institutionellen Wandels in den russischen Regionen ist zweifellos stärker von Überlappungen und fließenden Übergängen gekennzeichnet als von klaren Grenzmarkierungen zwischen den aufgeführten Einzelfaktoren. Informelle Netzwerke sind gleicher-maßen Ausdruck bestimmter Akteursinteressen wie Anzeichen für das Fortwirken struktureller Erbschaften aus dem Sowjetsystem; institutionelle Eigendynamiken folgen oft zugleich konkreten individuellen Interessen; umgekehrt definieren Ak-teure ihr Eigeninteresse unter dem Einfluß ihrer eigenen kulturellen und sozialen Prägung; die Wirksamkeit struktureller Erbschaften schließlich erhöht oder ver-mindert sich erheblich im Verhältnis zum konkreten Nutzen, den sich bestimmte Akteure von ihrer Indienstnahme erhoffen.

Die hier zunächst isoliert dargestellten Erklärungsmuster und kausalen Zu-sammenhänge sind daher auf der Suche nach Erklärungen für institutionelle Er-gebnisse nicht als fertige Antworten zu verstehen, sondern als unterschiedliche Perspektiven, die zusammengenommen die Bildung von komplexeren Arbeits-hypothesen erlauben. Für die empirische Analyse scheinen mir dabei abschließend die folgenden Hypothesen von Nutzen zu sein:

(1) Die Umwandlung und Neuschaffung politischer Institutionen im Zuge der regionalen Regimebildung in Rußland ist nur als ein Vorgang von eminenter machtpolitischer Bedeutung denkbar. Dies folgt aus der Kombination mehre-rer sich gegenseitig verstärkender Faktoren: der stabilisierenden Wirkung, die jede Form der Institutionalisierung für bestehende politische Machtverhältnis-se hat; den besonderen Möglichkeiten, die die „Neuverteilung“ von Partizipa-tionschancen für ehrgeizige, aufstrebende Akteure bietet; sowie der bedeuten-den Rolle der regionalen Ebene im sowjetischen System und bedeuten-den sich daraus ergebenden Zugriffschancen auf materielle Erträge und ihre politische Absi-cherung in dem Moment, in dem das Zentrum seine Kontroll- und Steuerungs-fähigkeit weitgehend einbüßt.

(2) In wirtschaftsstarken und/oder ressourcenreichen Regionen konnte eine Stra-tegie regionaler Eliten, die darauf abzielte, den politischen Einfluß und die materiellen Verfügungsrechte des Moskauer Zentrums zugunsten regionaler

„Autonomie“ (im weitesten Sinne) zurückzudrängen, auf öffentliche Unter-stützung rechnen. Dabei konnte der regionale Exekutivchef – in der Tradition der Gebietsparteichefs – zugleich auch quasi als „Generalbevollmächtigter“

der regionalen Wirtschaftsinteressen auftreten. Für viele Regionen ließ dies eine fortdauernde Abhängigkeit der Wirtschaft von der politischen Spitze er-warten, sofern diese in der Lage war, sich als Garantin für föderale „Nicht-einmischung“ zu etablieren.

(3) Je weniger die Entscheidungen über neue formale Institutionen der Kontrolle einer Vielzahl konkurrierender Akteure und Interessengruppen unterworfen sind und je mehr Zeit dominante Akteursgruppen zur Verfügung haben, um Konsequenzen und Chancen aus bestimmten institutionellen Veränderungen für sich zu kalkulieren, desto mehr muß erwartet werden, daß die neuen insti-tutionellen Arrangements in erster Linie den Interessen dominanter Akteure entsprechen und deren Status absichern helfen werden. Die regionalen Eliten in Rußland waren diesbezüglich in einer vorteilhaften Lage: Der Verlauf des politischen Transformationsprozesses ließ ihnen verhältnismäßig viel Zeit, den Umbau ihrer regionalen Institutionen zu betreiben. Zusätzlich mußte ih-nen der schwache Organisationsgrad der politischen Öffentlichkeit entgegen-kommen, der die Möglichkeit kontroverser Diskussionen potentieller Ent-scheidungen erheblich einschränkte. Die Herausbildung effektiver, nicht-exklusiver formaler Institutionen in den russischen Regionen mußte aus dieser Perspektive als unwahrscheinliches Resultat gelten, die Lösung politischer Verteilungsfragen mit institutionellen Mitteln, mithin die Dominanz der „lo-gic of consequentiality“ dagegen als wahrscheinlichstes Ergebnis.

(4) Folglich kann auch Demokratisierung nicht als gleichsam „natürliches“ Resul-tat des regionalen Transformationsprozesses erwartet werden. Demokratisie-rung erscheint vielmehr als ein ausgesprochen voraussetzungsreicher Prozeß.

So setzt er auf der Seite der Akteure ein hohes Maß an Bereitschaft voraus, sich auf Verfahren einzulassen, über deren Ergebnisse sie keine Kontrolle ha-ben – wovon gerade in langgestreckten Transformationsprozessen kaum aus-gegangen werden kann, da selbst unter idealen Bedingungen der Kampf um Macht und Ressourcen rasch einsetzt und idealistische Erwägungen zurück-drängt. Gerade unter solchen Umständen ist Demokratisierung besonders an-gewiesen auf externe Anreize bzw. Zwänge, demokratische Verfahren etablie-ren zu müssen. Als externe Faktoetablie-ren können sowohl die hohe Symbolbedeu-tung bestimmter formaler Institutionen der Demokratie (zum Beispiel Wah-len) als auch etwaige Forderungskataloge oder Rahmengesetze des föderalen

Zentrums angesehen werden. Da letztere jedoch einer glaubwürdigen Imple-mentationsbereitschaft bedürfen, muß ihre Wirkung als abhängig von der rela-tiven Ressourcenverteilung zwischen Zentrum und Region und der daraus re-sultierenden Konfliktbereitschaft betrachtet werden. Folglich kann erwartet werden, daß Autonomieeffekte die Wirksamkeit dieser externen Anreize er-heblich mindern.

(5) Die symbolische Bedeutung bestimmter formaler demokratischer Institutionen kann indes nicht einfach ignoriert werden. Hier ist mit einer erheblichen Ei-gendynamik zu rechnen. Da sich aber in der Transformationssituation neben den neu zu gründenden formalen Institutionen informelle Institutionen wie personale Netzwerke und Verpflichtungsbeziehungen als Stabilitätsfaktoren erweisen, droht neuen formalen Institutionen die stillschweigende Überwöl-bung bzw. Aushöhlung durch informelle Arrangements. Zu erwarten steht damit die Errichtung demokratischer Fassaden.

4. Die politisch-institutionelle Transformation der regionalen Ebene: Voraussetzungen, Ak-teure und Ergebnisse

Die postsowjetische Transformation der regionalen politischen Institutionen in Rußland hat eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Regime hervorgebracht, die jedoch nur in den seltensten Fällen als halbwegs funktionierende Demokratien bezeichnet werden können. Ein zentraler Umstand bei dieser Entwicklung ist die Bedeutung, die informellen Strukturen und Praktiken im Zuge der regionalen Re-gimebildung zukam. Damit überlagerten sich zwei widersprüchliche Grundten-denzen, die in der Summe zur Entstehung von „hybriden“ Regimen126 beitrugen:

Auf der einen Seite eine Tendenz zur Herausbildung äußerlich demokratischer formaler Institutionen, auf der anderen Seite die Durchdringung dieser Institutio-nen durch informelle Arrangements der regionalen Eliten untereinander und in Interaktion mit dem föderalen Zentrum.

Diese ambivalente Entwicklung steht im Einklang mit einem wichtigen, oft jedoch vernachlässigten Wesensmerkmal des sowjetischen Systems, wie es sich nach dem Ende des stalinistischen Terrors herausbildete: der Überlagerung des formalen Zentralismus durch ein hohes Maß an faktischer, ungeordneter Autono-mie der regionalen Eliten gegenüber der Moskauer Zentralmacht127, insbesondere in der Wahl ihrer Mittel zur Erreichung vorgegebener Ziele, zum Teil aber auch in der Art und Weise der Verfolgung ihrer eigenen Zwecke. Die Entwicklung der regionalen politischen Institutionen im postsowjetischen Rußland ist nur vor dem Hintergrund der Doppelrolle der regionalen Partei- und Staatsorgane als formaler Ausführungsorgane und als informeller Gestalter zu verstehen. Daher beginnt die-ses Kapitel zunächst mit einer Darstellung der formalen wie der informellen Ein-bindung der regionalen Ebene in das sowjetische Staats-, Wirtschafts- und Gesell-schaftssystem. Daran anschließend stelle ich – in aller Kürze – die Umstände dar, die zur Auflösung der Sowjetunion führten, ehe ich mich der Transformation der

126 GELMAN 1998b.

127 Vgl. auch KITSCHELT/SMYTH (1997: 5), die die Bedeutung dieser „Erbschaft“ des Kommunis-mus für die nachsowjetische Institutionenbildung höher einschätzen als den zentralistischen

regionalen Ebene im postsowjetischen Rußland zuwende und abschließend die Frage erörtere, welche Art politischer Regime in den Regionen entstanden ist.