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Die regionale Ebene im Sowjetsystem

3. Faktoren institutionellen Wandels: Strukturen – Akteure –

4.1 Die regionale Ebene im Sowjetsystem

Das formale Arrangement staatlicher Macht bestand im Sowjetsystem auf regiona-ler und lokaregiona-ler Ebene vor allem aus drei Organen: dem Sowjet, der alle zweiein-halb Jahre nach einem ausgeklügelten korporativen Proporzsystem und mit Ein-heitslisten gewählt wurde; dem aus seiner Mitte gewählten Präsidium, das zwi-schen den Sitzungen des Sowjets Dekrete mit vorläufiger Wirkung erlassen durfte;

und dem Exekutivkomitee, das vom Sowjet bestellt wurde, diesem formal unter-stand und die eigentliche Verwaltungsbehörde der entsprechenden Ebene darstell-te.

Formal umfaßte der Kompetenzbereich der örtlichen Sowjets alle Fragen der staatlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung innerhalb ihrer territorialen Zuständigkeit. „Örtlich“ (mestnyj) wurde dabei in der Sowjet-union als Sammelbezeichnung für die drei untersten Verwaltungsebenen – vom Dorf oder Stadtbezirk über den Kreis (rajon) oder die Stadt bis zum Verwaltungs-gebiet (oblast’, kraj) – verwendet.128 Die tatsächliche Kompetenz der örtlichen Sowjets war jedoch bereits durch eine Reihe von organisatorischen Faktoren er-heblich eingeschränkt:

• Ihre repräsentative Zusammensetzung ließ die Sowjets zwar wie gewünscht als Spiegelbild der Gesellschaft erscheinen, stand aber einer Professionalisierung und einem entsprechenden Kompetenzerwerb in Sachfragen entgegen.

• Sitzungen fanden nur in größeren Abständen statt, die Sowjets waren keine ständig tagenden Arbeitsparlamente, die Gesetzesvorlagen ausgiebig diskutier-ten und bearbeitediskutier-ten. Statt dessen wurden weitgehend lediglich solche Doku-mente abgesegnet, die vom Präsidium, vom Exekutivkomitee oder – mit höch-ster Priorität – von Sowjets höherer Ebene vorgelegt worden waren.

• Sowjets unterer Ebenen waren gegenüber Sowjets höherer Ebenen weisungs-gebunden. Jede Entscheidung auf allen unteren Ebenen unterlag theoretisch dem Vorbehalt einer anderslautenden Entscheidung auf höherer Ebene. In

Hegemonieanspruch der Kommunistischen Partei.

128 In der Umgangssprache hat sich dieser Gebrauch bis heute erhalten. Juristisch hat sich indes mit dem föderalen Rahmengesetz zur lokalen Selbstverwaltung vom 12. August 1995 eine neue Un-terscheidung durchgesetzt, wonach die Ebene der oblasti und kraja sowie der (ehemals auto-nomen) Republiken nicht mehr als „örtlich“ bezeichnet wird. Als solche gilt nur noch die Ebene

gleicher Weise waren auch die Exekutivkomitees einer Hierarchie unterstellt, an deren Spitze der Ministerrat der Sowjetunion stand. Damit ging dem „Föde-ralismus“ der RSFSR ein wesentliches Element föderaler Systeme ab: die ver-tikale Gewaltenteilung. De facto sicherte dieses System des sogenannten

„Demokratischen Zentralismus“ die Funktion der Sowjets als Legitimations-beschaffer und der Exekutivkomitees als nachgeordnete territoriale Ausfüh-rungsorgane ab.

Die entscheidende Beschränkung für die Macht der Sowjets bildete allerdings – wie auf Unions- und Republikebene – die dominante Stellung der Parteiorgane.

Das jeweilige Parteikomitee der KPdSU, insbesondere sein Erster Sekretär, war dasjenige Organ, bei dem faktisch die Fäden der Macht in der Region zusammen-liefen. Dem Parteikomitee waren alle wichtigen Personalentscheidungen ein-schließlich der Einheitslisten für die Wahlen des Sowjets vorbehalten, und es be-saß gegenüber jedem staatlichen Organ derselben und aller untergeordneten Ver-waltungsebenen Weisungsgewalt, die über den Artikel 6 der sowjetischen Verfas-sung abgesichert war. Der Parteiapparat duplizierte in weiten Teilen den Verwal-tungsapparat der Exekutivkomitees und verfügte dadurch nicht nur über die Auto-rität, sondern auch über das Wissen und die Detailkenntnis, um alle relevanten Entscheidungen zu kontrollieren. Die verschiedenen Ebenen der sogenannten

„administrativ-territorialen Aufteilung“ des Landes waren also einerseits über die hierarchischen Strukturen der Sowjets, der Regierung und der Exekutivkomitees sowie der Partei vertikal eng miteinander verbunden, andererseits durch die Wei-sungsrolle der Parteiorgane auch horizontal hierarchisch strukturiert.

Jenseits der formalen Strukturen spielten die oblasti, kraja und autonomen Gebietseinheiten im sowjetischen Rußland eine besondere Rolle, die sich von je-ner der Einheiten anderer Ebenen (RSFSR als Unionsrepublik; Kreise, Städte und Dörfer) qualitativ unterschied. In mancher Hinsicht waren die Regionen – und die in ihnen agierenden Eliten – zu autonomen Akteuren im Sowjetsystem geworden.

Der russische Sozialwissenschaftler Sergej Medvedev hat vier Aspekte dieser Au-tonomisierung hervorgehoben:129 Als Schlüsselebene für die administrative Im-plementation (funktionaler Aspekt), als tatsächlich territorial abgegrenzte Einhei-ten (territorialer Aspekt), als Umschlagplatz von Waren und administrativen Dienstleistungen (wirtschaftlicher Aspekt) und als Bezugsrahmen für die

der Selbstverwaltungsorgane unterhalb der „Föderationssubjekte“.

129 MEDVEDEV 1995: 6-14. Die Überlegungen Medvedevs stützen sich auf Arbeiten Vladimir KAGANSKIJS (1995) über den sowjetischen Raum sowie Simon KORDONSKIJS (1986) und Vitalij NAIŠULS (1991, 1992) über den administrativen Markt.

bildung von Eliten (personeller Aspekt) stellten die Regionen diejenige Ebene dar, auf der der sowjetische Staat den Menschen unmittelbar gegenübertrat, Funktio-nen für sie erfüllte oder von ihFunktio-nen umgangen wurde.

(1) In funktionaler Hinsicht entwickelten sich die Regionen innerhalb der administrativ-territorialen Aufteilung der Sowjetunion zu jenen Einheiten, die vor allen anderen Ebenen zur unmittelbaren Erfüllung staatlicher Aufgaben und verti-kaler Befehlsketten dienten. Der Staat trat dem einzelnen Sowjetbürger in erster Linie in Gestalt der regionalen Behörden gegenüber. Die Grenzen dieser administ-rativen Einheiten überlagerten damit nach und nach die anderer Kategorien wie Ethnizität, Geographie oder historische Entwicklung und dominierten diese schließlich vollends:

„The whole spectrum of state activities (law enforcement, military draft, ideology, education, health care, housing, day-to-day management of local industry and agricul-ture, etc.) was carried out entirely on the regional level and almost never went beyond it. All state functions were concentrated in the regions, which became focal points, vi-tal centres, ‘the cells of guaranteed survival of the local population.’ Regions did in-deed emerge as principal institutions of the state.“130

Unter diesen Umständen entwickelten sich die Regionen zu autarken Gebilden, die zur Erfüllung ihrer vielfältigen Funktionen über erhebliche personelle und or-ganisatorische Ressourcen verfügten, deren Anwendung allerdings dem Vorbehalt der grundsätzlichen Zweckdienlichkeit im Sinne der zentralen Direktiven unterlag.

(2) Auch in territorialer Hinsicht bildeten die Regionen eine eigene Identi-tät aus. Klassische Zentrum-Peripherie-Strukturen eines zentralistischen Staatswe-sens wiederholten sich in den Regionen. Jede Region hatte in der Regel ihr ein-deutiges Zentrum, das nicht nur als Verwaltungssitz diente, sondern in dem auch größere Infrastruktureinrichtungen konzentriert waren, auf das alle größeren Ver-kehrswege zuliefen und das im Falle der nicht-ethnischen Gebietseinheiten auch in aller Regel als Namensgeber für die Region diente. Mit größerer Entfernung zum Zentrum sank die Bevölkerungsdichte und nahm das allgemeine Entwick-lungsniveau ab.

„The administrative borders of the region become quite real: this is where many roads and communications are interrupted, the specialisation of agriculture is changed, etc.“131

Das Alltagsleben der Menschen spielte sich innerhalb ihrer Region ab. Was es in ihr nicht gab, war auch in den Nachbarregionen nicht zu vermuten (von

130 MEDVEDEV 1995: 6f.

131 MEDVEDEV 1995: 8.

phischen Eigenheiten einmal abgesehen); dazu wurde eine Reise nach Moskau angetreten. Damit stellten die Regionen kompakte, kontrollierbare Einheiten dar, die Ansprüche begründeten und geltend machen konnten.

„On the political level, regions became […] the basic units in negotiating, trading and defining the balance of power on the Soviet political scene.“132

(3) Des weiteren wuchs den Regionen eine Schlüsselrolle im realen Wirt-schaftssystem der Sowjetunion zu. Zur Beschreibung dieses WirtWirt-schaftssystems entwickelten Simon Kordonski und Witali Naischul in den achtziger Jahren das Konzept des „administrativen Marktes“. Die Wirtschaft der Sowjetunion ent-sprach danach keineswegs der reinen Form eines administrativen Kommandosys-tems, wie es noch in den dreißiger und frühen vierziger Jahren unter Stalin etab-liert und praktiziert worden sei. Vielmehr verloren die Beziehungen zwischen den diversen am Wirtschaftsprozeß beteiligten Interessengruppen seit den späten vier-ziger Jahren viel von ihrem hierarchischen Zuschnitt und verwandelten sich in ein System vielfältiger abgestufter Beziehungen und Querverbindungen. Wirtschafts-branchen, meist unter dem Dach eines zentralen Moskauer Ministeriums, und Re-gionen formten die wesentlichen Interessengruppen in dieser Wirtschaftsform aus.

Diese Gruppen handelten ihre Erfolge bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Zwecke untereinander aus, wobei die jeweiligen administrativen und materiellen Ressour-cen einer Interessengruppe deren Stellung in diesem administrativen Markt be-stimmten. Dazu ist es sinnvoll, davon auszugehen, daß sektorale und regionale Bürokratien de facto nach und nach bestimmte Teile des Plan- und Verwaltungs-systems, der Informations- und Entscheidungskanäle quasi privatisiert hatten und die ihnen möglichen „administrativen Dienste“ als ihre Währung in den Markt einbringen konnten. Faktischer Umschlagplatz materieller Ressourcen und admi-nistrativer Dienste war die regionale Ebene, da die relevanten Wirtschaftsinteres-sen (in erster Linie Brennstoff- und Energiekomplex, Militärindustrieller Kom-plex, Agroindustrieller Komplex sowie die Sicherheitsorgane mit ihrer eigenen Wirtschaftstätigkeit) ihre Organe in allen Regionen hatten. Die Regionen nahmen damit einen zentralen Platz für die offizielle (Plan-) wie für die inoffizielle (Schat-ten-)Wirtschaft ein. Ihre Position als Grundeinheiten sowjetischer Politik und Wirtschaft wurde durch den administrativen Markt noch gestärkt.133

Mitte der achtziger Jahre, als das alte Wirtschaftssystem für viele Insider erkennbar in seine endgültige Krise eintrat, standen die Akteure des

132 MEDVEDEV 1995: 9.

133 MEDVEDEV 1995: 9f.

ven Marktes vor der Notwendigkeit, aus dem erreichten Niveau informeller Priva-tisierung tatsächlich Kapital zu schlagen und echtes materielles Eigentum zu er-werben. Ein wichtiger erster Schritt, Jahre vor dem offiziellen Beginn der russi-schen Privatisierung, bestand darin, Kompetenzen auch über solche Betriebe, die den Republik- oder den Unionsministerien unterstellt waren, zu regionalisieren.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der Parteiherrschaft verloren viele der alten sektoralen Hierarchien auch ihre noch verbliebene Wirk-samkeit. Die Regionen, als Ort der horizontalen Verbindungen, gewannen so noch zusätzlich an Bedeutung.134

(4) In personeller Hinsicht schließlich, und in gewisser Weise als logi-sches Resultat der drei vorgenannten Aspekte, waren die Regionen wesentliche Formationszellen der politischen Elite und bildeten jeweils ihre eigenen regiona-len Eliten aus. Diese setzten sich aus Vertretern unterschiedlichster Gruppen zu-sammen (traditionelle Clanvertreter, Parteifunktionäre, Betriebsdirektoren, Leiter der Sicherheitsorgane), die je nach Region unterschiedliches relatives Gewicht besaßen.135 Zusammengenommen bildeten sie eine Art regionaler Oligarchie (oder Aristokratie – je nach Wahrnehmung) unter der Leitung des Parteisekretärs. Zwar pflegten die Mitglieder einer regionalen Elite auch außerhalb ihrer jeweiligen Re-gion vielfältige Kontakte; dennoch blieben sie in vielen alltäglichen Fragen stark aufeinander bezogen und untermauerten damit die Bedeutung der Region als wirt-schaftlicher, politischer und sozialer Einheit.

Die Rolle des Gebietsparteisekretärs als dem obersten Patron der regiona-len Elite war durch die Ambivaregiona-lenz von regionaler und gesamtstaatlicher Verant-wortung gekennzeichnet. Die Macht des Parteisekretärs war um so gefestigter, je besser es ihm gelang, sowohl die Interessen seiner Region gegenüber dem Zent-rum zur Geltung zu bringen als auch die von seiner Region erwarteten wirtschaft-lichen Leistungen zu erbringen:

„Oblast party leaders are expected to get things done, and to fight for what is needed in order to fulfil plans. They are supposed, among other things, to represent the inter-ests of the oblast in battles over resource allocation. But they are also expected to bear responsibility for poor performance. Even though corruption and protection of-ten shield these men from serious retribution in the event of consisof-tently poor per-formance, the fiction is supposed to be maintained in print.“136

Vor dem Hintergrund der Rolle und Funktion der Regionen im spätsowjetischen System erklärt sich die herausragende Bedeutung, die diese Ebene des Staates

134 MEDVEDEV 1995: 17f.

135 MEDVEDEV 1995: 11f.

136 BRESLAUER 1984: 11.

auch für die postsowjetische Transformation Rußlands erlangte. Für den postsow-jetischen Verteilungskampf um politische Macht und wirtschaftliche Ressourcen waren die Regionen nicht nur irgendeine, sondern neben dem Schauplatz Moskau die entscheidende Arena.137

Verständlich wird damit auch, warum die Herausbildung von neuen politi-schen Institutionen auf der regionalen Ebene – also von Institutionen, die Macht verleihen und begrenzen – nicht mit ein paar autoritativen Federstrichen in Mos-kau zu bewerkstelligen war. Die Region hatte sich als Mikrokosmos etabliert, in-nerhalb dessen die herrschende örtliche Elite ihre Interessen zu definieren wußte, in dem Parteiorgane, Staatswirtschaft und Staatsverwaltung jenseits ihrer jeweili-gen Einbindunjeweili-gen in zentralistische Hierarchien zu Formen allseits vorteilhafter Beziehungen gefunden hatten, in dem sich Abgrenzungen von innerelitären Grup-peninteressen etabliert hatten und in dem schließlich die Elite eine routinierte Form der Kommunikation mit der Bevölkerung pflegte, die es ihr ermöglichte, ihren Führungsanspruch ohne massive Legitimitätszweifel auszuüben. Die Region war jene Ebene des sowjetischen Staates, auf der der „Brežnevsche Gesellschafts-vertrag“, der auf die pointierte Formel „Brot gegen Ruhe“ gebracht worden ist, seinen alltäglichen und wirksamsten Ausdruck fand. Nicht zufällig waren es die Gebietsparteisekretäre, die die zuverlässigste und stärkste Machtbasis des altern-den und kranken Generalsekretärs Brežnev und mit ihm die stärkste Front gegen eine Politik tiefgreifender Reformen bildeten. Jeder ernstzunehmende Reformver-such, jede „Rationalisierung“ der Wirtschafts- oder Verwaltungsabläufe, jedes Bemühen, das sowjetische Wirtschaftssystem auch nur seinen obersten Herren – der Führung im Kreml und den Abteilungen im Sekretariat des ZK der KPdSU – transparenter zu machen, drohte die Grundlage ihrer Herrschaft in Gefahr zu brin-gen. Dazu ließen sich durchaus rationale Argumente im Interesse der regionalen Eliten vorbringen. Die zahllosen informellen horizontalen Verbindungen, die im Widerspruch zu den formalisierten vertikalen Branchen-, Verwaltungs- und Par-teistrukturen standen und die eigentliche Essenz der regionalen Netzwerke aus-machten, erfüllten vielfach notwendige Funktionen der Informationsübermittlung, der Absicherung „eigenmächtiger“, d. h. ohne Rücksprache mit Moskau getroffe-ner Entscheidungen und nicht zuletzt der Korrektur von Fehlleistungen eigetroffe-ner über-forderten Planbürokratie.

137 Hieraus erklärt sich auch das herausragende sozialwissenschaftliche Interesse an der regionalen Ebene als Untersuchungseinheit, das sich spätestens seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre besonders bei russischen Sozialwissenschaftlern beobachten läßt: „[…] the region appears to be the main ‘natural’ unit of analysis“ (KAGANSKII 1995: 50).

4.2 Vom „Demokratischen Zentralismus“ zur Auflösung der