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Verbleibende Herausforderungen

Trotz positiver Entwicklung der Gesetzeslage besteht im Hinblick auf den effektiven Schutz der Opfer von Nachstellungen noch Handlungsbedarf.

Die Nachstellung ist im Grunddelikt nach § 238 Abs. 1 StGB nicht von der kostenfreien psycho-sozialen Prozessbegleitung nach § 406g Abs. 3 i.V.m. § 397 Abs. 1 StPO gedeckt. Eine kostenfreie Prozessbegleitung ist nur möglich, sofern die Verbrechenstatbestände nach § 238 Abs. 2 und Abs.

3 verwirklicht sind234.

Die in § 4 Abs. 1 GewSchG vorgesehene Strafbewehrung gegen Verstöße gegen gerichtlich be-stätigte Vergleiche ebenso wie gerichtliche Anordnungen ist in der Höhe der Strafandrohung zu kritisieren. Eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe decken den Unrechtsgehalt

231 Deutscher Bundestag 2016: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksache vom 12.10.2016 18/9946, S. 13.

232 Ebd.; Deutscher Bundestag 2016: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbrau-cherschutz (6. Ausschuss), Drucksache vom 14.12.2016 18/10654; Mosbacher, Andreas 2017: Neuregelung der Stalking-Strafbarkeit, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2017, S. 983 f.

233 Vgl. Deutscher Juristinnenbund 2016: Stellungnahme: 16 – 12 zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen, 06.05.2016, [online] https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st16-12-1 (aufgerufen am 31.10.2020).

234 Deutscher Juristinnenbund 2018: Stellungnahme: 18 – 18 Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezo-gener Gewalt, 22.11.2018, S. 21 f., [online] https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st18-18/ (aufgerufen am 31.10.2020).

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der Taten nicht ab und verfehlen somit wohl ihre spezialpräventive Wirkung235. Im Gesetzgebungs-verfahren hatten auch die Ausschüsse236 dem Bundesrat unter anderem eine Anhebung der Straf-rahmenobergrenze in Artikel 4 GewSchG auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren empfohlen.

In praktischer Hinsicht ist anzumerken, dass die von Praktiker*innen dargelegte Gerichtspraxis, trotz der gegensätzlichen Regelung des §  36 Abs. 1 Satz 2 FamFG, auf Vergleiche hinzuwirken, kritisch hinterfragt werden sollte. Im Zeitpunkt des Gewaltschutzverfahrens sind die ungleichen Machtverhältnisse von Täter und Opfer gerade noch nicht behoben und drohen durch vergleichs-weise Regelungen verfestigt zu werden.

Der Schutz vor Nachstellung kann sich generell nicht nur in der Schaffung entsprechender Straf-tatbestände erschöpfen, sondern bedarf einer umfassenden Sensibilisierung im Umgang mit der Problematik.

Empfehlungen

Wir empfehlen dem Gesetzgeber/der Bundesregierung,

» die Strafbewehrung in § 4 Abs. 1 GewSchG auf drei Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe zu erhöhen.

» die Möglichkeit der kostenfreien psychosozialen Prozessbegleitung auf die Fälle der Nachstel-lung im Grunddelikt zu erweitern.

» in die derzeit beim Bundesministerium der Justiz begonnene Evaluation des § 238 StGB nicht nur die Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verbände einzubeziehen, sondern auch die Fach-praxis, also Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen.

» die Verbesserung der besonderen Lage im Kindschaftsrecht. Bisher sind Nachstellungen für Täter sehr einfach durch komplizierte Umgangsregelungen realisierbar, z. B. ein Kind wech-selt alle drei Tage und das Geschwisterkind wöchentlich zwischen den Elternhaushalten. Mit der Begründung „gemeinsame Erziehung“ haben Täter beinahe unbegrenzten Zugriff auf die Mutter. Hier sollte auf ein Sensibilisieren der Richter*innen und Jugendamtsmitarbeiter*innen hingewirkt werden, dass Mütter ein Recht auf Privatsphäre und ein Recht auf Trennung vom Täter haben.

Wir empfehlen der Bundesregierung und den Bundesländern,

» umfassende und kostenlose Beratungs- und Hilfeangebote für Opfer von Stalking sicherzu-stellen, insbesondere bei der Inanspruchnahme der im GewSchG vorgesehenen Maßnahmen.

» auf Landes- und Bundesebene die Sensibilisierung und Schulung von Polizei, Staatsanwalt-schaft und Justiz sicherzustellen

Wir empfehlen der Justiz und den Rechtsanwender*innen,

» die umfassende Gerichtspraxis, auf Vergleiche hinzuwirken, kritisch zu hinterfragen.

235 Vgl. Deutscher Juristinnenbund 2016: Stellungnahme: 16 – 12 zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen, 06.05.2016, [online] https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st16-12-1 (aufgerufen am 31.10.2020).

236 Deutscher Bundesrat 2016: Federführender Rechtsausschuss, Ausschuss für Frauen und Jugend sowie Aus-schuss für Innere Angelegenheiten, Drucksache 420/1/16.

Artikel 35 Körperliche Gewalt

237 BMFSFJ 2019. Gewalt gegen Frauen – Zahlen weiterhin hoch Ministerin Giffey startet Initiative „Stärker als Ge-walt“ – Pressemitteilung, [online] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/ge-walt-gegen-frauen---zahlen-weiterhin-hoch-ministerin-giffey-startet-initiative--staerker-als-gewalt-/141688 (aufgerufen am 02.11.2020).

238 Bundeskriminalamt (BKA) 2019. Partnerschaftsgewalt – Kriminalstatistische Auswertung 2018, Wiesbaden: Bun-deskriminalamt, S. 5.

239 Ebd., S. 21.

240 Bundeskriminalamt (BKA) 2020. Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017 I V 1.2. Wiesbaden: Bundeskriminal-amt, S. 49.

241 BMFSFJ 2005: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – lange Fassung, S. 28.

242 BMFSFJ 2019: Gewalt gegen Frauen – Zahlen weiterhin hoch Ministerin Giffey startet Initiative „Stärker als Ge-walt“ – Pressemitteilung, [online] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/ge-walt-gegen-frauen---zahlen-weiterhin-hoch-ministerin-giffey-startet-initiative--staerker-als-gewalt-/141688 (aufgerufen am 02.11.2020).

243 Schröttle, Monika 2017: Zentrale Studien und Befunde der geschlechterkritischen Gewaltforschung, in: Korten-diek et al. (Hrsg.) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, Wiesbaden:

Springer, S. 7 f.

Anforderungen

Artikel 35 verpflichtet die Bundesregierung, die vorsätzliche Anwendung körperlicher Gewalt gegen eine andere Person unter Strafe zu stellen.

Herausforderungen

Sowohl die Anwendung körperlicher Gewalt als auch der Versuch der Anwendung wird hierzulande als Körperverletzung (§ 223 StGB), gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB), schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) oder als Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) unter Strafe gestellt.

Im Jahr 2019 veröffentlichte das Bundeskriminalamt Zahlen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland: Mehr als ein Mal pro Stunde wurde 2018 eine Frau in der Partnerschaft gefährlich körperlich verletzt237. 73 % der Fälle partnerschaftlicher Gewalt sind den Deliktbereichen einfache, gefährliche, schwere Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge zuzuordnen238. Auch der seit Jahren kontinuierliche Anstieg der Opferzahlen im Bereich der Partnerschaftsgewalt ist vor allem auf vermehrte Gewalthandlungen im Bereich der einfachen und gefährlichen Körperver-letzungen zurückzuführen239. 22 % der Frauen und Mädchen (ab 16 Jahren) in Deutschland fürchten, Opfer körperlicher Gewalt zu werden240, während 37 % berichten, bereits mindestens einmal körper-liche Gewalt erfahren zu haben241.

Derartige Statistiken können nur die polizeilich erfassten Folgen und Fälle körperlicher Gewalt dokumentieren. Da nur die wenigsten Frauen und Mädchen nach einer Gewalterfahrung Hilfe suchen oder diese zur Anzeige bringen, wird von einer sehr viel höheren Dunkelziffer ausgegangen, nämlich dass ca. jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erfährt242.

Die von der Bundesregierung ins Leben gerufene Initiative „Stärker als Gewalt“ ist begrüßens-wert und ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Nun gilt es, den Gewaltschutz besonders vul-nerabler Gruppen ebenso konsequent in den Blick zu nehmen und strukturell zu verankern: Frauen und Mädchen mit Behinderungen und/oder mit Fluchterfahrung sind einer noch höheren Gewaltbe-troffenheit ausgesetzt als Frauen und Mädchen der Durchschnittsbevölkerung243. Für sie bedeutet

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die Überschneidung und Gleichzeitigkeit mehrerer Diskriminierungsformen (Intersektionalität) ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Für trans- und homosexuelle Personen wird ebenfalls eine erhöhte Gefährdung vermutet, jedoch gibt es keine repräsentativen Daten bezüglich möglicher Gewalterfahrungen244.

Der Umstand, dass die Zahl weiblicher Gewaltopfer trotz Aufklärungs-, Präventions- und Hilfs-kampagnen weiterhin steigt, verdeutlicht die in der Gesellschaft weiterhin wirkenden patriarchalen Strukturen, die wiederum durch gegen Frauen und Mädchen gerichtete Gewalt aufrechterhalten werden245.

Empfehlungen

Wir empfehlen der Bundesregierung,

» die Erhebung repräsentativer Daten zu den Erfahrungen körperlicher Gewalt von Mädchen unter 16 Jahren, geflüchteten Frauen und Mädchen, Frauen und Mädchen mit Behinderungen und LBTI* Jugendlichen und Erwachsenen.

244 Ebd., S. 8.

245 Walby, Sylvia 1989: Theorizing Patriarchy, in: Sociology, Vol. 23 No. 2, S. 224.

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