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Opferschutz und Kindesschutz nach Trennung ernst nehmen

Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass die gewaltbetroffenen Frauen mit ihren Schilderungen bei Gericht nicht ernst genommen werden. Tötungsfälle205 – im Zusammenhang mit Umgangssitua-tionen – sind dafür ein schockierender Beleg.

202 Staatsinstitut für Frühpädagogik 2001: Vorläufige deutsche Standards zum begleiteten Umgang, [online] http://

www.fthenakis.de/c2/data/55/Projekt_BU_Standards.pdf (aufgerufen am 10.09.2020).

203 BMJV 2019: Arbeitsgruppe zur Reform des Sorge- und Umgangsrechts, [online] bmjv.de/SharedDocs/Artikel/

DE/2019/102919_AG_SorgeUndUmgangsrecht.html (aufgerufen am 02.07.2020).

204 CDU, CSU und SPD Koalitionsvertrag, 18. Legislaturperiode: „Wir wollen das Ineinandergreifen von Gewalt-schutz und Umgangsrecht in Bezug auf das Kindeswohl wissenschaftlich untersuchen.“ [online] https://www.

bundesregierung.de/breg-de/themen/koalitionsvertrag-zwischen-cdu-csu-und-spd-195906 (aufgerufen am 23.09.2020), S. 70.

205 BKA 2019: Partnerschaftsgewalt Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2018, [online], https://www.bka.

de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_

node.html (aufgerufen am 02.07.2020), S. 27: 122 getötete Frauen in 2018.

Die Zeit der Trennung ist statistisch gesehen die gefährlichste Zeit für eine Frau und ihre Kinder.

Bedrohung, Stalking, körperliche und sexualisierte Gewalt kommen häufig vor: 41 % der Frauen und 15 % der Kinder wurden während der Umgangs- und Besuchszeiten körperlich angegriffen. In 27 % der Fälle wurde die Drohung ausgesprochen, die Kinder zu entführen, in 9 % der Fälle wurden die Kinder tatsächlich entführt. In 11 % der Fälle wurde versucht, die Frau zu töten206. Empirische Unter-suchungen zeigen, dass in der Trennungsphase das Gewalt- und Tötungsrisiko für Frauen und Kin-der um ein Fünffaches höher ist207.

Statt Berücksichtigung der Gefährdung erfolgt in der Rechtsprechung oft ein Gewalt ausblen-dender, mit „Blick nach vorn“ gerichteter Umgangsbeschluss nach dem Grundsatz „Trial and Error“

(Versuch und Irrtum). Es fehlt in Fällen des Verdachts auf Gewalt in Sorge- und Umgangsverfah-ren eine pflichtgemäße multiprofessionelle Gefährdungseinschätzung im Sinne von Art.  51 IK vor Beschlussfassung, wie z. B. im Sonderleitfaden des Amtsgerichts München208 mit standardisiertem Fragebogen vorgeschlagen wird.

Das FamFG (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilli-gen Gerichtsbarkeit) begünstigt vorschnelle Entscheidunfreiwilli-gen, da bestimmte Kindschaftssachen, wie auch die Regelung des Umgangs, beschleunigt durchzuführen und binnen eines Monats zu terminie-ren sind (§ 155 FamFG). Hinzu kommt, dass das Gericht auf ein Einvernehmen besonders hinzuwirken (§ 156 FamFG) und darüber hinaus auf eine außergerichtliche Beratung (§§ 135, 156 FamFG) hinzu-weisen hat. Auch die Durchsetzung von Umgangsentscheidungen unterliegt dem Beschleunigungs-grundsatz (§ 88 III FamFG). Problematisch sind auch die verschärften Sanktionierungsmöglichkeiten wie Ordnungsgeld/-haft statt Zwangsmittel (§ 89 FamFG). All dies veranschaulicht, dass Umgang in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Trennung erzwungen werden kann, ohne dass eine gerichtliche Überprüfung möglich ist. Denn in der Regel wird über den Umgang im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorläufig entschieden, mit der Folge, dass ein Rechtsmittel ausscheidet (§ 57 FamFG). Dadurch droht eine massive, teilweise tödliche Gefährdung der Frauen und ihrer Kinder209. Der vorbeschriebene Beschleunigungsgrundsatz findet keine Anwendung auf Gewaltschutzver-fahren nach § 210 FamFG. So wird in manchen Fällen über Fragen des Sorge- und des Umgangs-rechts entschieden, bevor das Verfahren zum Gewaltschutz überhaupt durchgeführt wurde. Diese Asynchronität im Verfahrensrecht führt zu einer Prolongierung der Gefährdung von Frauen und Kindern. In Kindschaftssachen, im Verfahrensrecht und im materiellen Recht fehlen explizite Rege-lungen zum Vorgehen bei häuslicher Gewalt.

Das BMFSFJ hat eine Arbeitshilfe zum Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenhei-ten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) bei Vorliegen häuslicher Gewalt210 veröffentlicht. Diese findet jedoch in den Gerichten wenig bis keine Beachtung. Dies ist auf die fehlende ressortübergrei-fende Gesamtstrategie der einzelnen zuständigen Ministerien zurückzuführen.

206 Schweikert, Birgit & Gesa Schirrmacher 2001: Sorge und Umgangsrecht bei häuslicher Gewalt – Aktuelle rechtliche Entwicklungen, Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“, [online] https://www.bmfsfj.de/

blob/94636/2b01702ede6fae116bd2d04fe5edd4aa/prm-21075-materialie-gleichstellungspoli-data.pdf (aufge-rufen am 09.09.2020).

207 Ebd.

208 Sonderleitfaden zum Münchner Modell, [online] https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoer-den-und-gerichte/amtsgerichte/muenchen/familiensachen/sonderleitfaden_muenchner_modell_190701.pdf (aufgerufen am 02.07.2020).

209 Salgo, Ludwig 2013: Häusliche Gewalt und Kindeswohl – Möglichkeiten und Grenzen familiengerichtlicher und jugendhilferechtlicher Intervention, [online] https://www.dgtd.de/fileadmin/user_upload/issd/tagung_2013/

nachlese/pdf/dgtd_bad-endorf_2013_vortrag_salgo.pdf (aufgerufen am 10.09.2020).

210 BMFSFJ 2011: FamFG – Arbeitshilfe zum neu gestalteten Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) bei Vorliegen häuslicher Gewalt, [online]

ht tps: //w w w. b mf s f j .d e / b mf s f j /se r vice /p ublikatio n e n /a rb eit shilfe zum ve r f a h re n in f a milie n s a - chen-und-in-den-angelegenheiten-der-freiwilligen-gerichtsbarkeit--famfg--bei-vorliegen-haeuslicher-gewalt-/80730 (aufgerufen am 13.08.2020).

Kapitel V 110

Empfehlungen

Wir empfehlen der Bundesregierung/dem Bundesgesetzgeber,

» den Bestrebungen, das gemeinsame Sorgerecht zu stärken, für Fälle häuslicher und sexua-lisierter Gewalt entgegenzutreten, da eine gemeinsame Sorgerechtsausübung aufgrund des Macht- und Kontrollverhältnisses in gewaltgeprägten Beziehungen nicht möglich ist.

» in Fällen häuslicher und sexualisierter Gewalt in der Regel das Umgangsrecht auszuschließen, alternativ die Umgänge begleiten zu lassen, fallweise auch dauerhaft, oder durch Auflagen (wie z. B. Täterkursteilnahme) zu beschränken. Dies soll explizit im Gesetzestext festgeschrie-ben werden. In den Reformvorhafestgeschrie-ben zum Sorge- und Umgangsrecht darf daher der Umgang mit der gewaltausübenden Person nicht höher bewertet werden als der Schutz und die Sicher-heit des Kindes.

» bei Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz das Umgangsrecht für die Dauer der An-ordnung auszuschließen sowie die Umgänge nach Beendigung des Gewaltschutzes so lange weiter zu begrenzen, bis die gewaltbetroffene Frau die Traumata verarbeitet hat und stabil ist.

Eine entsprechende Formulierung hierzu soll in die Paragrafen des Gewaltschutzgesetzes und in § 1684 BGB Eingang finden.

» die gesetzliche Regelung des § 1671 BGB dahingehend zu schärfen, dass die Abwägung der Eignung des antragstellenden und des anderen (in der Regel des betreuenden) Elternteils nicht überwiegend zu Gunsten des antragstellenden Elternteils ausfällt. Dadurch würde der derzeit zu beobachtenden Praxis begegnet, dass eine Übertragung des alleinigen Sorgerechts nur schwer rückgängig gemacht werden kann.

» eine Definition als Regelbeispiel für Sorgerechtsübertragungen und Umgangseinschränkun-gen in §§ 1671 und 1684 BGB zu verankern, wie es z. B. auch im Family Law Act 2011 (Austra-lien) geregelt ist.

» eine Reform des Gutachterwesens an Familiengerichten, damit die Bildung von Interessen-gruppierungen an den Gerichten verhindert werden kann. Durch die finanzielle Abhängigkeit von Verfahrensbeiständen und Gutachter*innen von der Beauftragung durch Richter*innen kann es passieren, dass ein*e Richter*in, u. a. aus Kapazitätsgründen, immer wieder den*die-selbe*n Gutachter*in beauftragt, der*die in einer Interessengruppierung tätig ist, die gegen die IK agiert (vgl. Agenda Europe).

» Regelungen zu schaffen, nach denen die Möglichkeit besteht, einen Verfahrensbeistand zu entpflichten. Verfahrensbeistände und Ausbildungsinstitute, die sich lobbyistisch gegen Ge-waltschutzrechte von Frauen engagieren, sollten entpflichtet werden können.

» alle am Familienverfahren beteiligten Fachkräfte – auch die Richter*innen – überprüfbar zu verpflichten, sich zu den Themen häusliche Gewalt, die zugehörige Psychotraumatologie, Langzeitfolgen und Gefahren von Retraumatisierungen, psychische Gewalt im Sinne von coer-cive control (Zwangskontrolle), sexualisierte Gewalt und Kindeswohlgefährdung fortzubilden.

(Siehe auch Empfehlungen zu Artikel 15.)

Artikel 32