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Herausforderungen zur Psychosozialen Prozessbegleitung (Artikel 55 Abs. 2 IK)

Gemäß § 406g StPO haben Verletzte zwar das Recht auf eine psychosoziale Begleitung im Straf-prozess (§ 406 Abs. 1 StPO), nicht alle aber einen rechtlichen Anspruch auf eine Kostenübernahme (§ 406 Abs. 3 StPO). Insbesondere werden die einfache Körperverletzung (§  223 StGB), die ein-fache Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) sowie die Bedrohung (§ 241 StGB) nicht von einem solchen Rechtsanspruch und der damit verbundenen Übernahme der Kosten erfasst und im Bereich der sexualisierten Gewalt (§  177 StGB) nur die Verbrechenstatbestände und die besonders schweren Fälle eines Vergehens nach § 177 Abs. 6 StGB. Gerade diese Straftatbestände sind aber regelmä-ßig bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erfüllt, sodass der Ausschluss von der Fi-nanzierung insbesondere Betroffene aus dem Anwendungsbereich der IK trifft350. In diesen Fällen müssen die Betroffenen die Begleitung selbst finanzieren und nehmen sie deshalb faktisch nicht in Anspruch. Daher bleibt die Regelung der psychosozialen Prozessbegleitung in diesen Fällen hinter dem Schutzniveau des Artikel 55 Abs. 2 IK zurück351.

Empfehlungen

Wir empfehlen der Bundesregierung/dem Gesetzgeber,

» das Recht auf kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung auf alle Betroffenen von ge-schlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention auszuweiten.

Es bedarf einer Erweiterung des § 406g StPO, welche sicherstellt, dass alle Betroffenen von Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexualisierter Gewalt, und häuslicher Gewalt die Möglich-keit haben, das Recht auf psychosoziale Prozessbegleitung kostenfrei in Anspruch zu nehmen.

Wir empfehlen dem Bundesjustizministerium und den Landesministerien,

» in die RiStBV einen ausdrücklichen Hinweis auf das Vorliegen des besonderen öffentlichen und öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Ge-walt aufzunehmen.

349 Diese Forderung wurde bereits im November 1993 von der Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministe-rinnen an die Justizministerkonferenz herangetragen, die dieser Aufforderung auf ihrer Herbstkonferenz im Jahr 1994 auch gefolgt ist. Dies hat aber bislang keine ausdrückliche Erwähnung in der RiStBV gefunden, die aber an dieser Stelle wichtiges Arbeitsinstrument für die Staatsanwaltschaft ist. Dennoch kam Prof. Dr. Dagmar Oberlies in einer Aktenstudie für das Land Sachsen-Anhalt für die Jahre 2002–2004 zu dem Ergebnis, dass 78,2 % der An-zeigen wegen häuslicher Gewalt und 75,1 % der angezeigten Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach

§ 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden, weil kein „genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ oder

„kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung“ besteht, vgl. Dagmar Oberlies 2005: Erledigungspraxis in Fäl-len häuslicher und sexueller Gewalt, Eine Aktenstudie bei den Staatsanwaltschaften des Landes Sachsen-Anhalt, [online] https://www.frankfurt-university.de/fileadmin/standard/Hochschule/Fachbereich_4/Kontakte/Profes-sorInnen/Dagmar_Oberlies/sachsenanhalt_bericht.pdf (aufgerufen am 29.10.2020), S. 23.

350 Wolf, Anne-Katrin 2018: Opferschutz im Strafverfahren – die Regelungen der Psychosozialen Prozessbegleitung im Lichte der Istanbul-Konvention, in: djbZ, Jg. 21, Nr. 4, S. 216–219, hier S. 216.

351 djb 2018: Stellungnahme zur effektiven Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in Deutschland, 29.01.2018, [online] https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st18-02/ (aufgerufen am 18.01.2021), S. 12 f.

Kapitel VI 168

» Empfehlungen oder Richtlinien zur Handhabung des (besonderen) öffentlichen Interesses in Fällen geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt zu erstellen.

Wir empfehlen der Bundesregierung und den Bundesländern,

» sicherzustellen, dass auf die besonders schutzwürdige Situation von Betroffenen regelmäßig im Rahmen von verpflichtenden Fortbildungsmaßnahmen für Richter*innen und Staatsanwalt-schaft hingewiesen werden.

» sicherzustellen, dass für Opfer von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt, auch in Kindheit und Jugend, ausreichend Angebote zur Verfügung stehen, die den Anforderungen an Krisen-zentren im Sinne des Artikel 25 der Konvention entsprechen.

Artikel 56 Schutzmaßnahmen

Anforderungen

Hier soll durch Verfahrensrechte sichergestellt werden, dass Zeug*innen, die zugleich Überlebende der Gewalt sind, sich selbst aktiv über den Verlauf und über den Stand aller Phasen des strafrecht-lichen Verfahrens informieren können. Das dient der eigenen Aktivierung und Rückgewinnung von Autonomie, soll aber zugleich ein zum Verfahren paralleles Sicherheitsmanagement ermöglichen.

Herausforderungen

Einige Oberlandesgerichte haben in den letzten Jahren die Praxis ausgebildet, das Akteneinsichts-recht der Nebenkläger*in gem. § 406e Abs. 2 S. 2, 3 StPO einzuschränken, weil der „Untersuchungs-zweck, auch in einem anderen Strafverfahren, gefährdet erscheint oder das Verfahren durch die Akteneinsicht erheblich verzögert würde“.

Das Argument einer zeitlichen Verzögerung steht in Hinblick auf den rechtsstaatlichen Verfah-rensgewinn in keinem Verhältnis zu den dadurch erzeugten massiven Einschnitten in die Rechte der Opferzeug*in, die sich mit Hilfe psychosozialer und rechtlicher Beratung auf das Verfahren vorberei-ten soll, um Sekundärviktimisierungen so weitgehend wie möglich zu vermeiden.

Empfehlungen

Wir empfehlen dem Gesetzgeber,

» die Möglichkeit, das Akteneinsichtsrecht der Nebenkläger*in gem. § 406e Abs. 2 S. 2, 3 StPO einzuschränken, in Hinblick auf das überragende rechtliche Interesse der Opfer-Zeug*in an Verfahrenstransparenz und Sicherheit im Sinn einer „Schranken-Schranke“ zu begrenzen.

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Artikel 57 Rechtsberatung

352 Europarat 2011: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht, Council of Europe Treaty Series, No. 210, Art. 57, S. 102 f.

353 Ebd., S. 103, Rn. 295.

354 Zur Bedeutung der Nebenklage siehe auch: Kräuter-Stockton, Sabine 2008: Nebenklage: Im Sinne der Opfer und der Wahrheitsermittlung, Bewertung zweier aktueller Gesetzesentwürfe, in: Zeitschrift des Deutschen Juristin-nenbundes (djbz), Jg. 11, Nr. 2, S. 78 ff.

355 Vgl. Deutscher Juristinnenbund 2018: Stellungnahme: 18 – 18 Opferrechte im Strafverfahren wegen geschlechts-bezogener Gewalt, 22.11.2018, [online] https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st18-18/ (aufgerufen am 04.11.2020).

Anforderungen

Gemäß Artikel 57 IK muss das innerstaatliche Recht für Opfer von Gewalt gegen Frauen oder häusli-cher Gewalt einen Anspruch auf anwaltliche Vertretung und auf eine unentgeltliche Rechtsberatung vorsehen352. Artikel 57 verleiht dem Opfer dabei nicht automatisch einen Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung. Es obliegt immer noch den Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für eine solche kostenlose Rechtsberatung festzulegen.

Artikel 57 beschränkt den Anspruch dabei nicht auf das Strafverfahren. Die Mitgliedstaaten müssen einen kostenlosen Rechtsbeistand unter Umständen auch in Zivilrechtsverfahren gewähr-leisten. Dieser Anspruch ergibt sich, abgeleitet von dem Recht zum Zugang zu einem Gericht ge-mäß Artikel 6 Abs. 1 EMRK, aus der Zusammenschau zwischen Art. 57 IK, Artikel 6 Abs. 3 (c) EMRK, Artikel 6 Abs. 1 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR353.

Entscheidend ist, ob das Opfer in der Lage ist, sein Ansinnen auch ohne einen solchen Rechts-beistand zufriedenstellend hervorzubringen und in dem Sinne erfolgreich sein wird. Wenn es auf-grund der Komplexität des Verfahrens und/oder der emotionalen Belastung dazu nicht in der Lage ist, dann ist ihm auch in zivilrechtlichen Verfahren ein kostenloser Rechtsbeistand zur Verfügung zu stellen, selbst wenn das Gesetz das nicht vorsieht. Der Fokus liegt damit auf der Praktikabilität und Effektivität des Rechts auf Zugang zum Gericht.