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Untersuchungsziele und Vorgehensweise

Die Bestandsaufnahme des Forschungsstandes offenbart eine Reihe von offe-nen Fragen und Fehlst¨anden:

1. Historische Abhandlungen konzentrierten sich bisher vorwiegend auf das 19. Jahrhundert. Neuere regionale Studien der Volkskunde bele-gen allerdings, daß der Entstehungszeitraum f¨ur die in der st¨adtischen Hierarchie f¨uhrenden Haushalte zu sp¨at angesetzt ist42. Die Studie zum Braunschweiger Alltagsleben von R. Mohrmann43enth¨alt eine erste An-gabe zur Kinderkammer bereits f¨ur das Jahr 1590 und f¨unf weitere Quellenangaben zur Kinderkammer bzw. -stube im 17. Jahrhundert.

Viele historische Quellen sind weder themenbezogen noch umfassend ausgewertet worden, sondern wie die autobiographischen Quellen des 18. Jahrhunderts bisher vor allem unter literarischen und gattungs-spezifischen Gesichtspunkten untersucht worden. Hier hat sich in den

42vgl. Spohn 1993

43Mohrmann 1990, S. 585, 588, 589, 592, 593

letzten Jahren aus meiner Sicht ein neuer Forschungsbedarf ergeben, zumal neuere Studien zum Kinderzimmer ihren historischen Abriß nur in Teilbereichen um eigene Forschungsbeitr¨age erg¨anzt haben.

2. Abgesehen von einer volkskundlichen Studie zur historischen Entwick-lung und Bedeutung von Wandschmuck (vgl. S.13) wurde Inventarbe-standteilen des Kinderzimmers seit 1970 kaum Beachtung geschenkt.

Erst in aktuellen Untersuchungen taucht die Frage nach der Bedeutung der Dingvielfalt44 in heutigen Kinderzimmern wieder auf. Allerdings macht gerade diese un¨uberschaubare Inventarvielfalt

”eine genaue, ei-ne z¨ahlende Erforschung derKinderzimmerinhalte sehr m¨uhsam“45, wie Buchner-Fuhs feststellt. Die Erforschung der Bedeutungs- und In-ventarvielfalt ist eine Aufgabenstellungen f¨ur k¨unftige Kinderzimmer-studien.

3. Die kindliche Perspektive, d.h. die Sicht der Heranwachsenden auf ihren eigenen Raum und dessen Bedeutung, fehlt in vielen ¨alteren und auch in aktuellen Studien. Selten lassen Forscher oder Forscherinnen Kin-der direkt zum Ph¨anomen Kinderzimmer Stellung nehmen, so daß hier kaum individuelle, facettenreiche, authentische und dichte Bilder des Untersuchungsraumes entstanden sind. Das Raumerleben von Heran-wachsenden ist somit ein weiterer Aspekt, der intensiv erforscht werden sollte.

In den bisherigen Ausf¨uhrungen und der darin erhobenen Forderung, die Diskrepanz zwischen tats¨achlicher Bedeutung des Kinderzimmers und zuge-schriebenem Stellenwert zu revidieren, ist ein weiterer Aspekt implizit enthal-ten, der einer allm¨ahlichen Ver¨anderung unterliegt. Bisher stand der Raum, als Teil einer die soziale Wirklichkeit des Kindes pr¨agenden Umwelt im Mit-telpunkt von Forschungsarbeiten; wie Kinder ihren eigenen Raum erleben, blieb dagegen unber¨ucksichtigt. Mit einer st¨arkeren Betonung der Leiblich-keit des Kindes ver¨anderte sich auch die wissenschaftliche Perspektive auf

44

Ursuppe“ nennt A. Hacke die Dingvielfalt im Kinderzimmer

bestehend aus Legostei-nen, Puppenarmen, Bonbont¨uten, Bekleidungsfetzen, welche Kinderzimmerb¨oden bedeckt, [sie] entsteht ohne das Zutun von Menschen. Es handelt sich vielmehr um einen kaum er-forschten, vielleicht gar nicht erforschbaren Fortpflanzungsvorgang unbelebter Materie.“

Hacke 1992, S. 28

45Buchner-Fuhs 1998, S. 165

Ph¨anomene des Kinderlebens. Insbesondere die ph¨anomenologische Kind-heitsforschung thematisierte ausdr¨ucklich

”das menschliche Zur-Welt-sein als leibliches Sein“46. Langefeld hatte 1968 bereits angemerkt,

”das Menschen-kind aber lebt nicht versteckt in seinem Leibe wie ein Weichtier in seiner Muschel. Der Mensch ist der Externe . . . , er wohnt in der Welt mit seinem Leibe“47, und widmete der leiblichen Komponente der menschlichen Existenz entsprechende Aufmerksamkeit. Lippitz Versuch die konkrete mitmenschliche Lebenswelt gegen die Verselbst¨andigung der theoretischen Erkenntnis und die Entm¨undigung gelebter Praxis zu rehabilitieren48, kommt in diesem Zusam-menhang besondere Bedeutung zu. Sein ph¨anomenologischer Ansatz zur Re-stitution lebensweltlicher Erfahrung unterliegt nicht den Einseitigkeiten be-stimmter Konzeptionen derAlltagswende, die die

”R¨ucknahme kritischer Fortschritte in der p¨adagogischen Theoriebildung zugunsten des Primats der Selbstbek¨ummerung (Betroffenheit)“49 fordern, wie Meyer-Drawe mit Be-zug auf Ruhloff feststellt. Statt dessen bindet er die theoretischen Gestalten menschlicher Welt- und Selbstkonzeptionen an den konkreten Kontext, in dem sie entstanden sind. Weitere f¨ur meine Untersuchung relevante Studien von Ch. Rittelmeyer und W. Lippitz50, die dem ph¨anomenologischen Anlie-gen zur Restitution lebensweltlicher Erfahrung zugerechnet werden k¨onnen, besch¨aftigen sich mit ph¨anomenologisch orientierten Vorgehensweisen, um Ph¨anomene des Kinderlebens zu erforschen.

Aufgabe einer Studie zum Kinderzimmer sollte es sein, ein dichtes, authen-tisches Bild von Stationen und Phasen seines Herausbildungs- und Entwick-lungsprozesses zu zeichnen, historische Quellen und autobiographisches Ma-terial aktualisiert, umfassend und nicht lediglich selektiv auszuwerten. Au-ßerdem sollte gekl¨art werden, warum das Kinderzimmer als Forschungsge-genstand erst relativ sp¨at auf wissenschaftliches Interesse gestoßen ist und warum bisher ausschließlich Außenr¨aume Forschungsschwerpunkte waren.

Deshalb soll im folgenden eine exakte Beschreibung des kindlichen Wohnbe-reichs aus der Sicht von Heranwachsenden, erg¨anzt durch architektonische, historische, volkskundliche, p¨adagogische und soziologische Abhandlungen,

46Meyer-Drawe 1984, S. 57

47Langeveld 1968, S. 142

48Lippitz 1984, S. 81–90

49Meyer-Drawe 1984, S. 55

50Lippitz/Rittelmeyer 1989

die Bedeutung des Raumes und seines Arrangements f¨ur das Kinderleben in Vergangenheit und Gegenwart kl¨aren. Dar¨uber hinaus sollen Einblicke in das Raumerleben von Heranwachsenden vermittelt werden. Erster Schritt ist die Auswertung der historischen und aktuellen Raumbeschreibungen unter der Fragestellung, wie das eigene Zimmer im R¨uckblick erlebt und beschreiben wird. Die Analyse dieser Frage soll wesentliche Komponenten des Raumerle-bens von Heranwachsenden erhellen, die in ihren ¨Außerungen zum Ausdruck kommen.

Neben dem historischen Entstehungsprozeß und Wandel des Kinderzimmers steht deshalb das Verh¨altnis des einzelnen Kindes zu seinem intimen Wohnbe-reich im Mittelpunkt dieser Studie. Wie Kinder diesen eigens f¨ur sie geschaffe-nen Wohnbereich erleben, erschließen und gestalten, sind Fragen, die anhand von Fallbeispielen und Fallstudien untersucht werden sollen, um Aufschluß

¨uber Formen kindlichen Raumerlebens und Raumerschließens zu gewinnen.

Um die Frage, wie ein Mensch seinen Eigenraum erlebt und strukturiert, und damit nach den

”kognitiven Verfahren“51 und individuellen Bewußtseinslei-stungen52, die eine sinnvolle Orientierung des Menschen in seiner Lebenswelt erst erm¨oglichen, zu beantworten, ist es sinnvoll, das Verh¨altnis von Mensch und Wohnraum in einem weiteren Schritt anhand von Fallbeispielen zu un-tersuchen. Bewußtseinsleistungen des einzelnen, die erforderlich sind bzw.

erbracht werden m¨ussen, um den allt¨aglichen

”Nahraum“53 so zu strukturie-ren, daß er in ihm leben und handeln kann, zeigen sich u.a. in der Art der Beschreibung seines

”Eigenraumes“54 und in den f¨ur ihn charakteristischen Merkmalen bzw. Bedeutsamkeiten, in denen bereits erste Typisierungen bzw.

Verallgemeinerungen enthalten sein k¨onnen.

Im folgenden sollen Vor- und Nachteile einer ph¨ anomenologisch-hermeneu-tisch orientierten Vorgehensweise er¨ortert werden, mit denen zentrale Aspek-te kindlicher Wohnraumwahrnehmung und kindlichen Raumerlebens in au-tobiographischen Texten ermittelt werden k¨onnen. Methodische Grundlage einer ph¨anomenologischen Studie zum Kinderzimmer w¨are nach dem Verh¨ alt-nis des Menschen zu diesem Kindheitsraum zu fragen, um die Grundstruktu-ren dieses Verh¨altnisses zu erfassen. Subjektive Deutungen sind als Formen

51Mollenhauer/Rittelmeyer 1977, S. 63

52vgl. Rittelmeyer 1989

53Bollnow 1997, S. 47

54Bollnow 1997, S. 284 f

individueller Sinngebung in einer ¨Außerung, einer Beschreibung, einer Er-fahrung oder einem Erlebnis enthalten. Auf diese Weise k¨onnen individuelle Sinngebungen im Kontext gesellschaftlich relevanter Sinngebungen interpre-tiert werden.

Die Frage nach dem Verh¨altnis des Menschen zu seinem Raum, um dessen Grundstruktur zu erfassen, beschreibt L. Kruse55 als den ersten und zweiten Schritt einer ph¨anomenologischen Vorgehensweise. Im dritten Schritt soll der Forscher

”zu den Sachen selbst“, wie Husserl56 forderte, kommen, d.h. durch theoretische Voreinstellungen Verdecktes in Erscheinung treten lassen. So soll in meiner Studie beispielsweise nicht Struktur und Strukturierung von Raum beurteilt oder bewertet werden, sondern sowohl vorgegebene Strukturen als auch subjektive Strukturierungen dieses Kindheitsraumes, die das Verh¨altnis des Menschen zu seinem Wohnbereich bestimmen, analysiert werden. Auf-gabe der ph¨anomenologischen Methode ist es, ins Bewußtsein zu heben, was als Raum schon immer gegenw¨artig, unthematisch erfaßt und gewußt wurde.

Nach Kruses Vorgehensweise sollte der leibliche Mensch z.B. zum Verhalten im Raum befragt werden und seine Rolle bei der Konstitution von R¨aumen untersucht werden, denn der Mensch bedarf des Raumes als Bedingung und M¨oglichkeit von Verhalten und als Medium und Instrument dieses Verhaltens.

Als sinnvollen Rahmen f¨ur eine systematische Untersuchung von Struktur und Aspekten des Raumes schl¨agt sie seine Untergliederung in gestimmten Raum, Handlungsraum, Wahrnehmungsraum und orientierten Raum – als Auspr¨agung der beiden letztgenannten – vor. Allerdings ist dieser Rahmen vor allem auf eine allgemeine Untersuchung von R¨aumen zugeschnitten und ber¨ucksichtigt nicht unbedingt die Ding- und Bedeutungsvielfalt, die Kinder den von ihnen geschaffenen und bewohnten R¨aumen verleihen. Ebensowe-nig sind kindliche Perspektive, Eigent¨umlichkeiten der Eigenwelt des Kindes sowie die individuellen Eigenarten des kindlichen Raumerlebens ein zentra-les Anliegen dieses Forschungsansatzes. Aus diesem Grund werden die Vor-und Nachteile unterschiedlicher Forschungsans¨atze in Hinsicht auf ihre Eig-nung zur Erforschung des Raumerlebens aus der Sicht von Heranwachsenden abgew¨agt und gegebenenfalls um geeignetere Vorgehensweisen erweitert.

55Kruse 1974

56Husserl 1984, S. 10

Auf unterschiedliche Auspr¨agungen in den methodischen Vorgehensweisen, kritische Einw¨ande, z.B. den Vorwurf des Subjektivismus und des fehlenden gesellschaftlichen Kontexts, sowie ein alternatives ph¨anomenologisches Pro-gramm weist Rittelmeyer57 hin. So sieht er die Aufgabe der Ph¨anomenologie darin, die sinnkonstituierende Leistung des Bewußtseins aufzudecken und den Logos unter dem subjektiv einzelnen Erlebnis, d.h. den grundlegenden Mo-dus der Intentionalit¨at aufzusp¨uren. Themen der Ph¨anomenologie sind die Strukturen der Erlebnisse des erkennenden Denkens sowie die Analyse von Sachverhalten wie sie sich dem Betrachter ergeben und die gleichzeitige Ana-lyse des Betrachters und seiner m¨oglichen Positionen58. Maxime dieser Vor-gehensweise ist, die Welt so zu beschreiben, wie sie dem Menschen erscheint und Innen- und Außenerfahrung nicht auseinander zu spalten. Die Welt wird somit als objektiver Sachverhalt beschrieben, der dem einzelnen Menschen urspr¨unglich und trotzdem perspektivisch erscheint, d.h. jeder Mensch sieht den gleichen Gegenstand etwas anders.

Eine m¨ogliche Folgerung w¨are, daß der Raum als objektiver Sachverhalt perspektivisch erscheint und intentional erschlossen wird. Der erste Arbeits-schritt w¨are somit eine exakte Beschreibung des konkreten Kinderzimmers.

Der zweite Schritt ist die Methode der Wesenserschauung, auch Epoch´e ge-nannt: darunter wird die Außerkraftsetzung aller mit dem Gegenstand ver-bundenen Urteile verstanden. Hier wird nach der Wesensform von Welt, nicht nach der faktisch wirklichen Welt gefragt. Die Welt, wie sie dem Menschen er-scheint, wird als untrennbarer Bestandteil ihrer Selbst begriffen. Dazu geh¨ort zun¨achst das Erlebnis bzw. die Schau des reinen Gegenstandes und sodann die Begegnung mit dem eigenen Bewußtsein als Sph¨are, in der sich der reine Gegenstand konstituiert als Erscheinungsform desselben, objektiv und vorge-geben. Im dritten Schritt, der Ideation, wird nach dem Gegenstand ¨uberhaupt gefragt. Aus der Vielfalt und dem Variationsreichtum, in dem ein Gegen-stand in der konkreten Lebenswelt vorkommt, wird das allgemeine Wesen, das Gleichbleibende, die Idee herauskristallisiert. So hat das individuelle Sein

Kind eine Seinsweise Kindheit59. Die einzelnen Schritte der ph¨ anome-nologischen Methode werden bezeichnet als

57Rittelmeyer 1989, S. 9 ff.

58vgl. Orth 1976, S. 12

59vgl. Lippitz/Rittelmeyer 1989, S. 19

1. Deskription, 2. Reflexion, 3. Intuition.

Kritische Einw¨ande bzw. Zweifel entstehen an der Frage, ob ¨uberhaupt von einem Wesen der Gegenst¨ande, die u.U. nur vorl¨aufige bzw. historisch evi-dente Epi-Gegenst¨ande sind, gesprochen werden darf. Diese Vorgehensweise wird als Weg in den Mystizismus kritisiert. In diesem Einwand ist bereits ein zweiter enthalten, n¨amlich die Frage, ob die Ph¨anomene lediglich Epi-Ph¨anomene sind. Dahinter verbirgt sich die Leitfrage f¨ur ein alternatives ph¨anomenologisches Programm: w¨are es nicht sinnvoller,

”statt nach siche-ren Erkenntnissen, nicht vielmehr nach den stets wandelbasiche-ren, unersch¨ opfli-chen, historisch-lebensweltlichen Ereignissen und Strukturen zu fragen, in die wir selber eingebunden sind, ohne sie jemals ganz ausloten zu k¨onnen?“60. In Frage gestellt wird dadurch die letztlich transzendentale Orientierung der Ph¨anomenologie und ihr Subjektivismus, der zur Mißachtung des konkre-ten geschichtlichen Subjekts und der eigenst¨andigen materiellen Welt f¨uhren k¨onnte. Forderungen, insbesondere der p¨adagogischen Ph¨anomenologie, sind daher ein nachhusserlsches Lebensweltverst¨andnis, die Anerkennung der Ge-schichtlichkeit menschlicher Existenz sowie eine Hinwendung zu konkreten gesellschaftlichen Subjekten, die sozialen Sinn konstituieren, sich aneignen und tradieren61. Insgesamt k¨onnte man sie als Forderungen einer strenge-ren Bindung der Erkenntnis an die Erfahrungs- und Erlebnisvollz¨uge der menschlichen Existenz zusammenfassen. Diese Forderungen finden ihre Ent-sprechung in den Motiven der p¨adagogischen Alltagswendung. Das Inter-esse am Besonderen im Allgemeinen, die Differenzierung und Vervielf¨altigung von Sinn statt Gleichschaltung und Reduzierung, die Beachtung des Einzel-nen und Subjektiven statt deren Mißachtung k¨onnten ihre Programmpunkte sein. Allerdings ist damit nicht gemeint, daß die Dinge bzw. Gegenst¨ande, wie sie den Menschen erscheinen, sich beliebig zeigen, sondern als Objekte mit unendlich vielf¨altigen Eigenschaften. Trotz Perspektivismus und subjek-tiven Sichtweisen vom Objekt ist es ein gemeinschaftliches Objekt und die-ses Gemeinschaftliche kann als Logos des Gegenstandes gesehen werden.

60Rittelmeyer 1989, S.22

61vgl. Lippitz 1980, S. 2

Rittelmeyer pl¨adiert f¨ur eine individualisierende Ph¨anomenologie, die er an Goethes Arbeitsweise illustriert.

”Die betrachteten Dinge zeigen sich gerade in ihrer Verschiedenheit, dem Betrachter gehen aus diesem Prinzip gerade f¨ur das immer neue Dasein der Pflanzen die Augen auf, ohne daß ihm das gemeinsame, verbindende verloren geht“62.

Diese Methode ist m.E. besonders geeignet, die sich im autobiographischen Textmaterial dokumentierende Vielfalt von kindlichen Eigenr¨aumen und de-ren Wandel zu analysiede-ren. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise be-steht darin, daß neben dem Menschen Dingvielfalt und Bedeutungsvielfalt als gleichrangige Untersuchungsgegenst¨ande behandelt werden und ihr Verh¨ alt-nis zueinander im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht. Bereits beim ersten Arbeitsschritt, dem Materialdurchgang sowohl der autobiographischen Textdokumente als auch der Interviews, fiel mir auf, daß immer wieder Stim-mung und Atmosph¨are im Raum – selbst in reinen Raum- und Gegen-standsbeschreibungen – als wichtige Bestandteile des skizzierten Raumbil-des beschrieben wurden. Zum Teil in Form eines besonderen Untertons oder durch unterstreichende Adjektive werden Grundstimmung und Atmosph¨are des Kinderzimmers angedeutet und die pers¨onliche Bedeutung des Kinder-zimmers bzw. eigenen Zimmers f¨ur den Heranwachsenden zum Ausdruck gebracht. Dar¨uber hinaus enthalten die autobiographischen Text- und In-terviewdokumente Hinweise auf unterschiedliche und z.T. sehr individuel-le Versuche Heranwachsender, sich eine Welt f¨ur sich zu schaffen. In den autobiographischen Texten versuchen die Autoren, sich eine Eigenwelt zu erschließen, nicht nur im konkreten eigenen Raum sondern dar¨uber hinaus auch in der Phantasie- und Gedankenwelt. Die Interviews zeigen deutlich, daß die Priorit¨at heutzutage nicht mehr auf der Raumerschließung liegt, sondern eher auf ihrer Abgrenzung gegen Gleichaltrige, Geschwister und dominante Einfl¨usse aus der Erwachsenenwelt. Raumschilderungen von Heranwachsen-den enthalten demnach charakteristische Merkmale einer individuell durch-aus unterschiedlichen Atmosph¨are und Grundstimmung und der pers¨onlichen kindlichen Eigenwelt, die in ihrer Gestaltung und ihrer Bedeutungsvielfalt vornehmlich im Spiel zum Ausdruck kommen.

Da in der ph¨anomenologischen Forschungstradition eine Reihe von Untersu-chungen zu r¨aumlichen Ph¨anomenen entstanden ist, steht damit ein

For-62Lippitz/Rittelmeyer 1989, S. 31

schungsansatz zur Verf¨ugung, mit dem Ph¨anomene wie Entwicklung und Wandel des Kinderzimmers im Spiegel subjektiver Beschreibungen und Re-flexionen der autobiographischen Literatur untersucht werden k¨onnen. Zu diesem Zweck werden zun¨achst einige f¨ur die Untersuchung von Kinder-r¨aumen maßgebliche ph¨anomenologische Ans¨atze in ihren Grundz¨ugen auf-gezeigt. Dazu werden die an Langeveld (1968) angelehnten neueren Studi-en der Utrechter Schule (1984) und von Lippitz (1989) kurz vorgestellt. In Grundz¨ugen sollen dabei ph¨anomenologische Vorgehensweisen skizziert wer-den, um wesentliche Aspekte der Mensch-Raum-Beziehung, u.a. das Verh¨ alt-nis von Raum und kindlichem Erleben, untersuchen zu k¨onnen.

Zentrale Aufgabe der Ph¨anomenologie ist es, die Welt in ihrer Bedeutsamkeit bewußt zu machen und ihre Strukturen aufzudecken. Zweitens thematisiert sie, was nicht unmittelbar zutage tritt und als Voraussetzung bzw. Vorbe-dingung im Hintergrund bleibt63. Die Untersuchungen der oben genannten Autoren unterscheiden sich nicht in ihren theoretischen Ausgangspositionen, sondern durch grunds¨atzliche Ver¨anderungen der Perspektive auf die Welt des Kindes. W¨ahrend Langeveld seine Begriffe, mit denen er Kinder versteht,

”gelegentlich noch zu sehr der Welt der Erwachsenen entnommen“64hat, wie Autoren, die in der Tradition der Utrechter Schule forschen, kritisieren, liegen den neueren Untersuchungen Akzentverschiebungen in Bezug auf die Unter-suchungssituation, die Perspektive und die Teilnahme am Leben der Kinder zugrunde. Neben Langevelds Einsichten in die

”eigene Welt“ der Kinder be-tonen heutige Forscher der Utrechter Schule

”die Thematik des Atmosph¨ ari-schen“65 sowie Stimmung und Erwachsenendominanz im Gegensatz zur Welt der Kinder. Sie gehen davon aus, daß oft gr¨oßere Lernfortschritte erzielt wer-den, ”wenn die Umgebung der Kleinkinder reiche kindgerechte Spielr¨aume bietet, als wenn Lerncurricula, zeitlich streng eingeteilt, rigide verabreicht werden“66. Obwohl ihre methodischen Vorgehensweisen sicherlich nicht in je-der Hinsicht den Anforje-derungen, die an eine sozialwissenschaftliche Studie gestellt werden, erf¨ullen, erweisen sich die von ihnen eingef¨uhrten Kategori-en ‘Atmosph¨are’, ‘Stimmung’ und ‘Erwachsenendominanz’ als fruchtbar f¨ur eine Analyse des Raumerlebens von Heranwachsenden.

63Kruse 1974, S. 27

64Beekmann/Polakow 1984, S. 79

65Beekman/Polakow 1984, S. 79

66Beekman/Polakow 1984, S. 80

In seiner Studie

”R¨aume – von Kindern erlebt und gelebt“ (1989) vertieft W. Lippitz den Einblick in charakteristische Aspekte der r¨aumlichen Um-welt von Kindern und setzt sich intensiver mit der Frage nach geeigneten Forschungsmethoden auseinander als die Utrechter Forscher. Seine Forderun-gen nach Ann¨aherung an die kindliche Perspektive, konkrete Anteilnahme am Leben der Kinder und an gelebten R¨aumen, d.h. dort wo sich ein be-tr¨achtlicher Teil des kindlichen Lebens abspielt, sind auf seinen Versuch, die konkrete mitmenschliche Lebenswelt gegen die Verselbst¨andigung der theore-tischen Erkenntnis und die Entm¨undigung gelebter Praxis zu rehabilitieren, zur¨uckzuf¨uhren. Voraussetzung hierf¨ur sind allerdings

”geeignete Forschungs-methoden, die besonders sensibel f¨ur nicht abfragbares Wissen, f¨ur dysfunk-tionale und kreative Aktivit¨aten des Be-deutens von Umwelt sind: Mit den Augen der Kinder Umwelt erleben und sie dann beschreiben“67. Mit Kindern Freundschaft schließen, nicht fremd bleiben, sie auf ihren Wegen begleiten, sind f¨ur ihn ad¨aquate Voraussetzungen und Mittel qualitativer Forschung.

Ferner sollte seines Erachtens der Forscher selbst zum Forschungsinstru-ment gemacht werden.

Anhand der Erinnerungen von Erwachsenen an ihre Kinderr¨aume untersucht er ¨uberdies R¨aume allgemein in bezug auf ihre besondere Bedeutung in der Lebensgeschichte. Neben der Atmosph¨are in Kinderr¨aumen steht die kind-liche Eigenwelt im Zentrum seines Forschungsinteresses: wo das Kind noch nicht zwischen Fiktion und Realit¨at unterscheidet, Innen- und Außenr¨aume noch fließende ¨Uberg¨ange haben, wo Kinder sich eine eigene Welt bauen und so gewissermaßen ihr Zuhause verdoppeln. Eine wesentliche Komponen-te von selbstgeschaffenen R¨aumen in R¨aumen ist die erlebte Atmosph¨are – Enge, D¨ammerlicht, stickige Luft und leibliche N¨ahe – die h¨aufig The-men wie Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften und Sexualit¨at erst moti-viert. Besitzanspr¨uche und Zugangsberechtigungen werden geltend gemacht, allt¨agliche Verrichtungen mit mehr Genuß ausgef¨uhrt.

”Kinderorte dieser Art sind sichtbareInnenwelten68. Ihre Anziehungskraft beruht auf dem ihnen zugrunde liegenden Bed¨urfnis nach Privatheit, wo das Kind f¨ur sich allein tr¨aumen, aber auch Kr¨ankungen verarbeiten kann.

”Das r¨aumliche The-ma von Distanz und N¨ahe, Verbundenheit und Trennung kennt vielf¨altige

67Lippitz 1989, S. 94

68Lippitz 1989, S. 102

Variationen“69. Dar¨uber hinaus zeigen die von Lippitz herangezogenen Bei-spiele anschaulich, daß die Sozialit¨at des Kindes auch r¨aumlich verankert ist, indem Spannung durch die r¨aumliche Thematisierung oder Inszenierung der Beziehung zu anderen abgebaut und neue Handlungsm¨oglichkeiten bzw.

Variationen“69. Dar¨uber hinaus zeigen die von Lippitz herangezogenen Bei-spiele anschaulich, daß die Sozialit¨at des Kindes auch r¨aumlich verankert ist, indem Spannung durch die r¨aumliche Thematisierung oder Inszenierung der Beziehung zu anderen abgebaut und neue Handlungsm¨oglichkeiten bzw.