• Keine Ergebnisse gefunden

Das trauliche St¨ ubchen als R¨ uckzugsort

4.5 Das eigene Zimmer aus der Sicht von Heranwachsenden in der

4.5.5 Das trauliche St¨ ubchen als R¨ uckzugsort

Viele Lebenserinnerungen zeigen, daß der Wunsch nach einem Eigenraum und R¨uckzugsort im 18. Jahrhundert kaum mehr als Ausnahmeerscheinungen gewertet werden kann.

Frederike Baldinger, eine 1739 geborene G¨ottinger Professorentochter, cha-rakterisierte ihr Zimmer im wesentlichen als R¨uckzugsort.

”Meine Mutter verlor durch den Krieg ihr ganzes Verm¨ogen – sie konnte dahero auf mei-ne Erziehung nichts verwenden. Wie viel die Geistes=Kr¨afte unter solchen niederschlagenden Umst¨anden gewinnen, giebt die Erfahrung. Ich f¨uhlte nur gar zu schmerzlich, daß es viele meinesgleichen besser h¨atten als ich. Daß unvern¨unftige Menschen mir jene vorzogen, dies machte, daß ich mich schon als Kind in meine Stube zur¨uckzog, um mich nicht verachten zu lassen. Aber dadurch entgieng mir aller Vortheil welchen der Verstand aus Menschen-kenntniß ziehen kann, und ich muß mich daher oft ¨uber mich selbst wun-dern, wie es m¨oglich gewesen ist, daß ich Menschen habe gefallen k¨onnen, da ich so wenig wuste wie man ihnen gefallen m¨usse“354. Bildung – also Le-sen, Schreiben, aber auch die eigene Person und Handlungen zu reflektieren – erfordert einen Raum, in den man sich ungest¨ort zur¨uckziehen kann. Ein

¨uberraschender Aspekt, der in Baldingers ¨Uberlegungen auftaucht, ist der R¨uckzug ins eigene Zimmer als Reaktion auf soziale Ausgrenzung oder aus Angst vor sozialer Diskriminierung.

352vgl. Bronner 1795

353vgl. Zschokke 1842

354Baldinger in: LaRoche 1791, S. 19

Der Wunsch nach Bildung und Zur¨uckgezogenheit tauchte ebenfalls bei A.

Weikard auf, der 1742 als Sohn eines Kaufmanns geboren wurde. Nachdem er seine Eltern fr¨uh verloren hatte, wurde er von einem alten, knauserigen und verschrobenen Onkel erzogen. Seinen lebenslangen Wunsch nach einer einsamen Stube sah er durch Erziehung und h¨ausliche Verh¨altnisse bedingt.

Die Abgeschiedenheit, in der sein Onkel lebte, geringe emotionale Anteilnah-me und die Ignoranz des Onkels gegen¨uber seinen Zukunftsvorstellungen von einem Studium, verst¨arkten Weikards kritische, ablehnende Haltung, die sich in dem Wunsch nach Zur¨uckgezogenheit und einem Privatraum niederschlug.

Offen bleibt, ob ihm dieser Privatraum tats¨achlich zur Verf¨ugung stand.

In seiner Lebensbeschreibung, die unter dem Namen

”Dichtung und Wahr-heit“ bekannt ist, erz¨ahlte Johann Wolfgang von Goethe (geb. 1749) von sei-ner Kindheit und Jugend in eisei-ner Frankfurter Juristenfamilie. Nach dem Tod der Großmutter ließ Goethes Vater das Haus umbauen, und beide Kinder der Familie erhielten ein eigenes Zimmer. Goethe nannte ein Giebelzimmer sein eigen, das zum Lern-, Spiel-, aber auch R¨uckzugsort wurde. Ein Ort, an dem Theaterst¨ucke f¨ur kindliche Zuschauer aufgef¨uhrt, aber auch Eigenphantasien und Imaginationen ausgelebt wurden, f¨ur die eine intimere Atmosph¨are not-wendig war. In Goethes Schilderung wurde eine weitere Funktion des Raumes sichtbar: die des Arrests. Allerdings war seine Ausgrenzung selbstgew¨ahlt355. Auch von H.A.O. Reichhard, 1751 als Sohn eines Beamten geboren, wurde die Kinderstube mehr als R¨uckzugsort und Eigenraum, denn als Unterrichtsraum wahrgenommen. Lesen und Geschichten erz¨ahlen waren T¨atigkeiten, denen er hier am liebsten nachging.

Charlotte von Kalb, 1761 als Tochter eines Adligen geboren, verlor fr¨uh die Mutter und wuchs mit ihren Geschwistern im Schloß von Verwandten auf.

Ihr und ihren Schwestern stand eine Kinderkammer zur Verf¨ugung, die sie sich mit einer W¨arterin teilten. Der Raum diente allen als Schlaf- und Auf-enthaltsraum, allerdings standen den Kindern weitere R¨aume im Schloß of-fen. Trotz der Mitbewohner empfand die Autobiographin ihn als

”trauliches St¨ubchen“356, in das sie sich auch gern allein zur¨uckzog.

Im Jahre 1771 wurde G.F. Schumacher geboren, der Sohn einer verarm-ten Kaufmannswitwe. Er beschrieb die famili¨aren Wohnverh¨altnisse als

be-355Goethe 1985

356Kalb 1879

engt. Obwohl die Kinder einen eigenen Schlafraum hatten, waren sie ge-zwungen, sich im gemeinsamen Wohnraum aufzuhalten, da die Kammern zu eng und nicht beheizbar waren. Als Gymnasiast besuchte Schumacher einen Mitsch¨uler, der ein

”St¨ubchen f¨ur sich“357 hatte und wurde dort ins Tabak-und Pfeifenrauchen Tabak-und ins Weintrinken eingef¨uhrt. Allerdings war

”die klei-ne R¨auberh¨ohle“358 immer in Gefahr, entdeckt zu werden.

Die 1776 geborene Johanna Schopenhauer reflektierte in ihrer Lebensreise die Kinderstube zun¨achst als Etappe in ihrer Kindheit. Im R¨uckblick war sie weiterhin ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit, an dem man mit Puppen spielte, eine Entwicklungsetappe auf dem Wege in die Erwachsenenwelt, ein R¨uckzugsort, an dem man sich immer wieder sammeln und f¨ur sich sein konnte.

”Ich aber schlich mich ganz versch¨uchtert in die Kinderstube, die noch immer meine eigentliche Heimat, mein Asyl in allen N¨othen war“359. Sie symbolisierte f¨ur Johanna Schopenhauer zum einen eine bestimmte zeitliche Etappe ihres Lebens, aber auch einen Raum, der sich von der Spielstube zum R¨uckzugsort, an dem Probleme reflektiert und Entscheidungen selbst¨andig getroffen wurden, entwickelte.

Helmina von Ch´ezy wurde als Tochter einer selbst¨andigen K¨unstlerin 1786 geboren. Im Haus ihrer Mutter stand ihr ein eigenes Zimmer zur Verf¨ugung, in dem sie malte, las oder Besuch von Freundinnen empfangen konnte.

Einen detaillierten Einblick in seinen kindlichen Wohnbereich gestattet die Autobiographie Justinus Kerners, der 1786 als Sohn eines Beamten geboren wurde. Trotz reichhaltiger materieller Ausstattung – B¨uchern und B¨ ucher-st¨andern, Tieren, die er im K¨afig halten durfte, Pflanzen im Fenster, sowie Sammlungen, die er anlegen durfte – zog es den Knaben st¨arker in die freie Natur. Sein Reich nennt er kritisch seinen

”Erkerk¨afig“. Ob diese Hinwen-dung zur freien Natur und die kritische Haltung gegen¨uber geschlossenen R¨aumen durch Rousseaus

”Emil“ und die moralischen Wochenschriften und medizinischen Ratgeber bedingt waren, oder ob die Ursache kindlicher Wi-derstand gegen diese Form der Domestizierung und Verh¨auslichung war, ist nicht eindeutig entscheidbar. Um so erstaunlicher ist jedoch die Tatsache, daß sich die Kinderstube in Familien mit starkem Bildungsinteresse gerade

357Schumacher in: Schlumbohm 1983, S. 403

358Schumacher in: Schlumbohm 1983, S. 404

359Schopenhauer 1884, S. 190-191

in einer Zeit, wo das Naturkind Leitbildfunktion hatte, etablierte.

Im Zusammenhang mit seiner Vorliebe f¨urs Musizieren erw¨ahnte der 1795 geborene Arztsohn Adolf Bernhard Marx sein eigenes Zimmer. Wie schon angedeutet, musizierte er vor allem mit Freunden in diesem Raum.

Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Zimmertypen war das ‘trauliche St¨ubchen’ kein Raum, der in erster Linie funktional genutzt wurde, also Un-terrichtszwecken diente. Zwar spielte der Bildungsgedanke auch bei diesem Raumarrangement eine signifikante Rolle, jedoch in seiner erweiterten Be-deutung, und nicht mehr in einem funktionalen, starr auf schulische Zwecke ausgerichteten Sinne. Kinder empfanden dieses Zimmer im allgemeinen als ihr eigenes Reich, in das sie sich vor der Welt zur¨uckziehen konnten. Hier hatten sie die M¨oglichkeit ungest¨ort ihrer Leselust zu fr¨onen, d.h. sie lasen B¨ucher eigener Wahl wie Robinson Crusoe. Sie schrieben Briefe und Ge-dichte, erz¨ahlten Geschichten und spielten Theater allein oder mit anderen Heranwachsenden. So hatte dieses Zimmer ebenso wie die Studierstube einen hohen Stellenwert als privater und intimer Raum.

Der Bericht Schumachers von einer abenteuerlichen

”R¨auberh¨ohle“ zeigt u.a., daß die Vorstellungen von Kindern meist ¨uber den ihnen von Erwachsenen zugebilligten Rahmen hinausgingen. Einige Autoren, z.B. Goethe, variierten ihren Raum durch eigene Arrangements, w¨ahrend sich f¨ur die meisten Au-tobiographen lediglich die M¨oglichkeit bot, sich auf rein gedanklicher Basis ihre eigene Phantasiewelt zu konstruieren.

Aus der Sicht von Autorinnen waren es speziell Stimmung und Atmosph¨are, die die Anziehungskraft des Raumes ausmachten. Privatsph¨are und Abge-schiedenheit sowie Sicherheit und Geborgenheit sind Aspekte, die vor allem f¨ur weibliche Heranwachsende von hoher Bedeutung waren. Sie zeichneten das Bild eines Raumes mit sehr intimen Charakter, in den man sich gern allein zur¨uckzog. J. Schopenhauer fand hier Sicherheit und Geborgenheit und beschrieb ihn als

”Asyl in allen N¨oten“ sowie eigentliche Heimat ih-rer Kindheit. Dagegen deutete Fr. Baldinger in ihren Zeilen, indem sie die Nachteile des kindlichen R¨uckzugs in das eigene Zimmer reflektierte, bereits den grundlegenden Konflikt der Gratwanderung zwischen gesellschaftlichem und privatem Leben an. In den meisten Textstellen spiegelte sich denn auch dieser Wunsch nach einem gr¨oßeren Privatbereich und individueller Gestal-tung des eigenen Lebens wider. Dazu geh¨orten aber Zeit und Raum, ¨uber

sich und die Welt nachdenken, Probleme reflektieren und Entscheidungen selbst¨andig treffen zu k¨onnen. Auf diese Weise erarbeiteten sich Heranwach-sende von ihrem Zimmer aus sowohl einen eigenen Zugang zur Welt als auch individuelle Probleml¨osungsstrategien. Aber nicht f¨ur jeden Autoren war das eigene Zimmer Refugium und Br¨ucke zur Welt. In J. Kerners Schilderungen kamen insbesondere zivilisationskritische Komponenten zum Ausdruck, bei-spielsweise f¨uhlte er sich in seinem ‘Erkerk¨afig’ abgeschnitten vom Leben in der freien Natur. Obwohl sein Reich weitaus reichhaltiger ausgestattet war als manches heiß geliebte ‘Studierst¨ubchen’, zog das Landkind ein freies un-gebundenes Leben, besonders das Streifen durch die Natur, dem seßhaften Stubenleben vor.