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Grundstimmung und Atmosph¨ are im kindlichen Wohn-

4.4 Fallbeispiel II

4.4.6 Grundstimmung und Atmosph¨ are im kindlichen Wohn-

In den Textbeispielen gibt es keine genaue Schilderung der Ausstattung und Gliederung des Raumes. Im Rahmen ihrer sozialen und pers¨onlichen Kontext-und Erlebnisbeschreibung gew¨ahrte die Autorin dem Leser dagegen Einblicke in ihr Raumerleben und die Bedeutung, die diese beiden R¨aume f¨ur ihre pers¨onliche Entwicklung hatten. Vordergr¨undig waren Lage, Funktion und Charakter der R¨aume Schwerpunkt ihrer Schilderungen, doch sind es vor al-lem unterschwellige Bemerkungen und Untert¨one, in denen die Atmosph¨are

und Stimmung im Raum zum Ausdruck kommen, die einen Eindruck vom kindlichen Leben in diesen R¨aumen vermittelten. Wiederholt wies Elisa dar-auf hin, daß Kinder im Haus der Großmutter ins

”letzte Zimmer“314zum Spie-len verbannt wurden, wenn sie in der Gesellschaft von Erwachsenen st¨orten oder ungehorsam waren. So bekam die Kinderstube in Elisas Erz¨ahlung den bitteren Beigeschmack eines Verbannungsortes, denn

”die Halberwachsenen sollten nur gleich im letzten Zimmer unter sich fr¨ohlich sein, und sich nicht unter die Erwachsenen mischen. Ich wurde mit den anderen jungen M¨adchen meines Alters fortgeschickt, und die jungen Leute, die zu unserem Alter paß-ten, folgten uns“315.

In einem weiteren Textbeispiel wurde nach Zwistigkeiten unter den Kindern nur Elisa verbannt.

”Nun wurde die Verordnung gemacht, daß ich nicht mehr in Gesellschaft erscheinen, sondern in dem Zimmer bleiben mußte“316. Die-se gemeinsame Kinderstube, wie sie die Autorin erlebte, war kein Ort des Friedens. Harmonische Spiele waren selten, Streitigkeiten und Intrigen be-stimmten die Raumatmosph¨are und wurden dort unerbittlich ausgetragen, wobei es immer Sieger und Unterlegene gab. Die Autorin stellte ihn nicht nur in diesem Beispiel als Ort ihrer Niederlagen dar, denn trotz der Aufsicht einer ehrw¨urdigen Matrone fanden ihre Vettern M¨oglichkeiten, Elisa

”ihren vollen Unwillen f¨uhlen“317 zu lassen. Funktion dieses Raumes war, so kann man den Schilderungen entnehmen, die eines Aufbewahrungsraumes. Dies wies auf den geringen Stellenwert bzw. Status hin, den der Raum nicht nur im Haus ihrer Großmutter hatte, sondern auch im Bewußtsein der Autorin.

F¨ur die Autorin war dieser Raum dar¨uber hinaus durch Leid, Schmerz und Kummer gekennzeichnet und wurde als Leidensst¨atte, nicht nur als Konflikt-bereich, erlebt. Ihr eigenes Zimmer im Haus ihrer Stiefmutter wurde ihm als Gegenmodell gegen¨uber gestellt.

Ein wesentlicher Aspekt f¨ur ihre Begeisterung war, daß sie nun einen Raum f¨ur sich allein besaß und ihn nicht mit anderen Personen teilen mußte. Ihrem Bed¨urfnis nach Intimit¨at, Ruhe und Geborgenheit wurde ebenso Rechnung getragen wie ihrem Streben nach Eigenst¨andigkeit. Vor willk¨urlicher Behand-lung durch negativ eingestellte Personen war sie hier gesch¨utzt. Daß nun die

314vgl. Rachel 1900, S. 47, 54

315Rachel 1900, S. 47

316Rachel 1900, S. 47

317Rachel 1900, S. 47

Leidenszeit der von ihr als qualvoll erlebten Kindheit zu Ende war, wurde ihr erst in ihrem eigenen Zimmer bewußt. Dieses Zimmer steigerte ihr Gl¨ ucks-gef¨uhl ganz erheblich, denn als die empfindsame Pers¨onlichkeit, als die sie sich entworfen hatte, ben¨otigte sie einen eigenen Raum, in dem sie sich ihren Gef¨uhlen und Gebeten unbeobachtet hingeben konnte. Besonders die Tat-sache, daß ihre Fenster Ausblick auf die von ihr so lange entbehrte Natur gew¨ahrten, stimmte sie euphorisch,

”Ich sprang die Nacht oft aus meinem Bette, trat ans Fenster, das auf den Garten stieß, sah den spiegelhellen See, hob meine H¨ande gen Himmel und sagte: Gott! wie gut bist du! Morgen und ¨ubermorgen und alle Tage werde ich dies mit meinen bloßen Augen sehen k¨onnen318. Auf diese Weise erlebte sie ihre neue Umgebung einschließlich ihres Zimmers als Teil einer freien offeneren Welt und f¨uhlte sich ihr dement-sprechend eng verbunden.

Aus Elisas Zustandsbeschreibungen lassen sich gleichfalls R¨uckschl¨usse auf ihre emotionale Befindlichkeit ziehen. Ihr unterschiedliches Verh¨altnis zu bei-den R¨aumen wurde durch ihre jeweilige Stimmungslage entscheidend mitbe-stimmt. Stimmung und Atmosph¨are in der gemeinschaftlichen Kinderstu-be spiegelten ¨uberdies die Stimmungslage in der Kindergemeinschaft wider, dementsprechend herrschte hier oft eine gedr¨uckte Grundstimmung vor und die Atmosph¨are war spannungsgeladen. Die Autorin erlebte sie demgem¨aß als einen Ort der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung, der ihr we-nig Spielraum und Gestaltungsm¨oglichkeiten ließ. Ihre Stimmung in bezug auf das eigene Zimmer kann als euphorisch bezeichnet werden. Dieser Raum gew¨ahrte ihr den individuellen Freiraum, den sie bisher so schmerzlich ver-mißt hatte: Distanz zur ¨ubrigen Hausgemeinschaft, Zeit und Raum zum Aus-leben der eigenen Gef¨uhle und Gedanken sowie freien Zugang zur nat¨urlichen Welt statt Abschottung. Gerade daß sie in diesem Zusammenhang ¨uber die reine Zustandsbeschreibung hinausgeht und ihre Kindheit mit den Worten

”Mein gl¨uckliches Gef¨uhl werden wenige sich denken k¨onne, weil nur wenige eine so qualvolle Kindheit, als ich, gehabt haben“319 beschreibt, ist m.E. ein signifikanter Hinweis auf die Bedeutung, die die Tatsache, ihr eigenes Zimmer zu besitzen, f¨ur sie in dieser Lebensphase hatte. Sie empfand es als einen Ort der Intimit¨at. Er bot f¨ur sie insbesondere einen Freiraum zum Ausleben ihrer

318Rachel 1900, S. 61

319Rachel 1900, S. 61

pers¨onlichen Gef¨uhle, und war Zugang zu, nicht Abschottung vor der Welt.

W¨ahrend die gemeinsame Kinderstube im Haus ihrer Großmutter im wesent-lichen ein ¨offentlicher Raum war, und kaum als individueller bzw. kindlicher Lebensbereich gestaltet werden konnte, erhielt sie nun einen eigenen Raum, in dem sie so sein konnte, wie sie war. Ohne st¨andige Selbstbehauptung und Rechtfertigung konnte sie sich eigenen Gedanken und intimeren T¨atigkeiten wie Beten hingeben. Spannungen, Depressionen und der damit verbundene Druck ließen nach, so daß sie zur Ruhe kommen und allm¨ahlich ihren Frieden finden konnte. Trotz ihrer nun st¨arker individualisierten Lebensweise, hatte Elisa das Gef¨uhl, sich eine gr¨oßere Welt er¨offnet zu haben.

”Ich sprang die Nacht oft aus meinem Bette, trat ans Fenster, das auf den Garten stieß, sah den spiegelhellen See, hob meine H¨ande gen Himmel und sagte: Gott! wie gut bist du! Morgen und ¨ubermorgen und alle Tage werde ich dies mit mei-nen bloßen Augen sehen k¨onnen320. Ihr neues Zimmer wurde zum Symbol des positiven Wandels und vermittelte ihr die Erfahrung von Freiheit und die Entdeckung einer neuen Welt. In dieser aufregenden Lebensphase wurde ihr der eigene Raum zum Ruhepol, in den sie sich zur¨uckziehen konnte, auch auf sich selbst ohne das schmerzhafte Erleben von Trennung und Ausschluß.

”Als ich allein in meinem Zimmer war, st¨urzte ich, ehe ich mich ins Bett legte, auf meine Knie, betete – weinte vor Freuden und betete wieder“321. In dieser Umgebung fand sie zu einer optimistischeren Grundhaltung dem Leben gegen¨uber.

Die Gegen¨uberstellung der beiden R¨aume zeigt, daß die Autorin sie als Kon-traste erlebt hat: 1.) die Zugang zu bzw. Abschottung von der Welt bedeuten k¨onnen 2.) die Schutz- und Zufluchtsorte oder Austragungsorte pers¨onlicher oder sozialer Konflikte, also friedliche oder feindliche Orte sein k¨onnen, 3.) die zu R¨uckzugsorten mit intimer Atmosph¨are zum Ausleben und Ausbalancie-ren des eigenen Gef¨uhlslebens oder zu Kontrollr¨aumen werden k¨onnen. Dieser Vergleich verdeutlicht die unterschiedliche Atmosph¨are und Grundstimmung in beiden Kinderr¨aumen, je nachdem ob die Familien kindorientiert oder er-wachsenenorientiert sind.

320Rachel 1900, S. 61

321Rachel 1900, S. 61

4.4.7 Erschließung des eigenen Raumes

E. von der Recke skizzierte einen Gemeinschaftsraum im Hause ihrer Groß-mutter, dem sie distanziert und ablehnend gegen¨uberstand. Schon die Be-zeichnungen

”entfernten“322oder

”hintersten“323 Zimmer deuten an, daß sich das Kind hier eigentlich nicht heimisch gef¨uhlt hat. Es war ein Raum, in dem aus Elisas Sicht soziale Stellung, soziale Kontrolle und Willk¨ur dominier-ten, und insofern stellte er ein getreues Abbild der Erwachsenenwelt dar.

Selbst Kinderspiele waren von untergeordneter Bedeutung gegen¨uber der do-minierenden Dynamik, den die unmittelbare soziale Selbstbehauptung und das Austragen von Konflikten entfalteten. Die Autorin, die sich meist als die unterlegene erlebte, konnte sich diesen Raum, der vor allem durch sozia-le Position, Spannungen und Interessenskonflikte strukturiert wurde, nicht erschließen. Es entwickelte sich keine pers¨onliche Bindung.

Im Gegensatz zu der von einer unpers¨onlichen Atmosph¨are gepr¨agten gemein-schaftlichen Kinderstube hat sie vom ersten Moment an Besitz von dem von ihrer neuen Familie f¨ur sie bereitgestellten eigenen Zimmer ergriffen. Sie sehn-te sich nach einem R¨uckzugsort, um sich

”diesem Ausbruch des Gef¨uhls zu

¨uberlassen“324. Von dem Moment an, wo sie ihre ¨uberschwengliche Gef¨ uhls-welt unbeobachtet ausleben konnte, stellte sie eine enge emotionale Bindung zu ihrem Zimmer her. Wie heimisch sie sich von Anfang an in ihrer neuen Umgebung f¨uhlte, kommt in der folgenden Passage des letzten Absatzes zum Ausdruck.

”Gute liebe Mutter!“ betete sie hier,

”du, der ich mein Leben zu danken habe, die ich nur aus deinem sanft-lieblichen Bilde kenne, du, du hast mir wohl aus dem Himmel von Gott die Mutter erbeten, die mir nun auf dieser Erde schon einen Himmel macht?“325 Der Kreis schließt sich, so k¨onnte man die Textsequenz interpretieren, das Kind ist f¨ur den Moment jedenfalls am Ziel seiner Sehnsucht angelangt und hat endlich sein langersehntes Zuhause gefunden. Elisa entwickelte zu ihrer neuen Umgebung eine tiefe pers¨onliche Gef¨uhlsbindung.

322Rachel 1900, S. 520

323Rachel 1900, S. 47/48

324Rachel 1900, S. 61

325Rachel 1900, S. 61

4.4.8 Das eigene Zimmer als Ausdruck der Eigenwelt des Kindes

Die hohe soziale Kontrolle und strenge Hierarchie im Haushalt der Groß-mutter ließ den einzelnen Kindern wenig Spiel- bzw. Freiraum. Wie im Text angedeutet wird, wurden in diesem Raum auch Kinderspiele gespielt, doch bedeutsam waren f¨ur die Autorin die sozialen Konflikte, die hier ausgetra-gen wurden. Unterschiedliche Wertmaßst¨abe und Interessen f¨uhrten immer wieder zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen und Intrigen, die bis zum Ausschluß oder zur Bestrafung einzelner Kinder gehen konnte. Elisa als ei-nes der j¨ungeren und damit rangniederen Einzelkinder und Halbwaise geriet dabei h¨aufiger in die Defensive und setzte sich entsprechend gef¨uhlsbetont, jedoch erstaunlich bewußt mit den Ungerechtigkeiten in diesen Alltagssitua-tionen auseinander. Allerdings mußte sie sich meist den strengen Regeln und Anordnungen der Hausgemeinschaft f¨ugen und sich den ¨alteren Kindern un-terordnen. Distanz, R¨uckzug und Rechtfertigung all ihrer Handlungen waren Mittel, die ihrer Handlungsweise einen gewissen Autonomieanspruch verlie-hen. Noch h¨aufiger reagierte sie aber in dieser von ihr als feindlich emp-fundenen Gemeinschaft, wie sie beschreibt, mit

”Schwermuth“326 und w¨alzte

”romanhafte Ideen“327. Sie fl¨uchtete sich in eine individuelle Gef¨uhlswelt, um unangenehmer Gesellschaft und unangenehmen Situationen zu entflie-hen. Pers¨onliche und soziale Beziehungen gestalteten das Verh¨altnis Elisas zu ihrer Umwelt und strukturierten die Art ihrer Auseinandersetzung mit dieser.

Im Gegensatz zu diesem Typ der kaum von der Erwachsenenwelt abgeschot-teten Kinderstube erhielt sie im Haus ihrer Stiefmutter einen eigenen Raum, wo sie sich sofort wohlf¨uhlte. Indem sie hier ihre eigene Gef¨uhlswelt ausleben bzw. entfalten konnte, ergriff sie sogleich Besitz vom Raum und f¨ullte ihn mit sehr pers¨onlichen Handlungen und T¨atigkeiten, beispielsweise Dankgebeten, aus. Dadurch verlieh sie dem Zimmer ¨uber die individuelle Bedeutung hin-aus ihre ganz pers¨onliche Note und stellte auf diese Weise eine pers¨onliche Bindung her. Hier konnte sie tr¨aumen und ruhen, Spannungen abbauen und sich ihrer Selbst vergewissern. Der Raum war insgesamt wesentlich st¨arker auf die Bed¨urfnisse Elisas nach pers¨onlichem Bezug zugeschnitten und an einem selbstbestimmten Zugang auch zur nat¨urlichen Welt orientiert. Statt

326Rachel 1900, S. 60

327Rachel 1900, S. 48, 49

wie bisher lediglich auf ihre Umgebung und deren Anforderungen reagie-ren zu m¨ussen, besaß sie nun einen eigenen Raum, wo sie im Rahmen ihrer M¨oglichkeiten experimentieren konnte, ohne gleich den kritischen Augen ih-rer Mitmenschen ausgesetzt zu sein.

Elisa hegte den Wunsch nach Selbstbestimmung,

”nun will ich ich selbst sein“328, hatte sie bereits fr¨uher vor dem Spiegel im Selbstgespr¨ach erkl¨art.

In ihrem Zimmer kam sie dem angestrebten Ziel wesentlich n¨aher.

”Ich hat-te mein eigenes Zimmer, stand nur unhat-ter dem Befehle meiner Stiefmuthat-ter, wurde nicht einmal der Aufsicht der Franz¨osin ¨ubergeben, da noch vor zwei Tagen Tante Kleist und ihre beiden T¨ochter mich mit Willk¨ur behandeln konnten!“329

Bedeutsam war dieser Eigenraum vor allem als ein Lebensbereich, wo das elfj¨ahrige M¨adchen seinen dringlichen Wunsch,

”ich selbst sein“ zu wollen, endlich realisieren konnte. Elisa empfand ihn als einen Ort, der von den H¨arten ihrer bisher erfahrenen Wirklichkeit weit entfernt war. Sie trat hier tats¨achlich aus der Welt der Sorge hinein in die sorglose Welt der

” leicht-gesinnten Befreiung“330. Sie konnte ihren bisherigen Sorgen und N¨oten ent-fliehen und f¨uhlte sich gesch¨utzt vor Willk¨ur und Fremdbestimmung. In der Abgeschiedenheit ihres Zimmers fand sie im Gebet zu einer neuen optimi-stischen Lebenseinstellung. In der beschriebenen Lebensphase hat das eigene Zimmer der Autorin die M¨oglichkeit geboten, einen neuen Lebensentwurf zu entwickeln, denn in dieser f¨ur sie gestalteten Umgebung konnte sie sich sorgloser und freier bewegen und entfalten.

4.4.9 Abschließende Betrachtung

Die Fallstudie von Elisa von der Recke dokumentiert, daß es in der zweiten H¨alfte des 18. Jahrhunderts unterschiedliche Typen von Kinderstuben gege-ben hat. In ihrer Selbstbeschreibung stellte die Autorin zwei unterschiedliche Familienformen vor, deren verschiedene Erziehungsmethoden sich hinsicht-lich der den Kindern vorbehaltenen Wohnbereiche deuthinsicht-lich voneinander un-terschieden. Im Haus der Großmutter war das Zimmer, das den Kindern zur Verf¨ugung stand, aufgrund seiner Lage und Funktion ein untergeordneter

328Rachel 1900, S. 49

329Rachel 1900, S. 61

330Buytendijk 1972, S. 101

Raum und diente insbesondere als Aufbewahrungsort f¨ur Kinder, wenn sie bei gesellschaftlichen Anl¨assen st¨orten. Aus anregender Gesellschaft entfernt und unter Aufsicht einer ¨alteren Matrone gestellt, trugen sie ihre Zwistigkei-ten um so heftiger untereinander aus. Reckes R¨uckblick zeigt, daß sich die allgemeine Bewertung des Raumes als zweitrangig auch im Bewußtsein und Verhalten der Kinder spiegelte.

Um diesen Typ der Kinderstube, der in erster Linie Pflege- und Aufbewah-rungsort war, wo unter Aufsicht von Bediensteten oder einer

”ehrw¨urdigen Matrone“331 Kinder wohlhabender Familien ihren Alltag verbrachten, gab es zu jener Zeit in p¨adagogischen und medizinischen Ratgebern sowie morali-schen Wochenschriften eine intensive Diskussion. Besonders Schriftsteller mit p¨adagogischem Anliegen wie Rousseau, Basedow und Struwe, um nur einige Autoren zu nennen, setzten sich im Rahmen ihrer Kritik an der sogenannten

”Stubenerziehung“ (vgl. Kap. 3.1) mit der Kinderstube auseinander und stuf-ten besonders die traditionelle Kinderstubenerziehung als sch¨adlich f¨ur die geistige und physische Entwicklung des Kindes ein. E. von der Reckes Kind-heitsbeschreibung einer traditionellen Kinderstube in einem adligen Haus-halt ist m.E. ein Beispiel daf¨ur, daß diese Kritik durchaus berechtigt war.

Ihr Fall stellt ein besonders erschreckendes Beispiel der negativen Seiten der

”Stubenerziehung“ dar und best¨atigt Rousseaus und Basedows Kritik als zu-treffende Beschreibung von Alltagsmißst¨anden, unter denen ganz besonders heranwachsende M¨adchen zu leiden hatten; ein Aspekt, den selbst Rous-seau in seiner Kritik noch ausgeklammert hatte. M¨adchen wurden weniger als Kinder, sondern unter dem Aspekt der Familienpolitik als Heiratsobjekte gesehen. Sie sollten vorteilhaft, d.h. wohlhabend verheiratet werden, inso-fern wurden sie in mancher Hinsicht schon fr¨uh als Erwachsene behandelt und entsprechend direkt auf famili¨are und gesellschaftliche Interessen aus-gerichtet. Dementsprechend waren f¨ur die Autorin bei der Beschreibung der Kinderstube auch nicht die kindliche Welt und Kinderspiele von zentraler Be-deutung, sondern ihre Auseinandersetzung mit einer an starren Regel- und Wertsystemen orientierten Erwachsenenwelt.

Diesem Raumtyp stand ihr eigenes Zimmer im Haus ihrer Stiefmutter als Gegenmodell gegen¨uber. Nach einer

”qualvollen Kindheit“332 erfuhr sie hier

331Rachel 1900, S. 47

332Rachel 1900, S. 61

ein hohes Maß an Zuwendung und Selbstbestimmung in einer an einem auf-gekl¨arten Erziehungsmodell orientierten Umgebung. Zum vernunftbestimm-ten planvollen Umgang der Stiefmutter mit Kindern geh¨orte der kindliche Eigenraum, dadurch wurden Elisa neue Erfahrungen im Umgang mit sich selbst und ihrer Umwelt vermittelt. Die st¨arkere Ber¨ucksichtigung kindlicher Bed¨urfnisse sowie das eigene Zimmer waren selbstverst¨andliche Bestandteile ihres Erziehungsplans. Der langentbehrte Zugang zur nat¨urlichen Welt, der nach Elisas Ansicht u.a. Bildungsfortschritte behindert hatte, trug ebenso erheblich zu ihrer positiven Lebenseinstellung und ihren Lernfortschritten bei, wie die durch ihre Stiefmutter erfahrene Ermutigung. Ihre Bildungsdefi-zite –

”Meine achtj¨ahrige Schwester, mein sieben- und sechsj¨ahriger Bruder hatten mehr Ideen von der Natur, wußten mehr von der Geographie und Ge-schichte, als ich, und mein leiblicher Bruder hatte einen ziemlichen Umfang von Kenntnissen, wenn ich sein Wissen gegen meine Unwissenheit maß“333 – wurden durch die neuen Erziehungsstrategien aus Elisas Sicht erfolgreich behoben.

Elisa erlebte diesen Raum sowohl als R¨uckzugsort, der ihr die M¨oglichkeit bot, f¨ur sich allein zu sein, als auch als Br¨ucke zur bisher verschlossenen nat¨urlichen Welt. Sie genoß die Vorteile, die ein eigenes Zimmer bot, N¨ahe und Distanz zur Umgebung in gewissem Umfang selbst zu w¨ahlen, Spannun-gen abbauen zu k¨onnen, ohne sich st¨andig in einer sozialen Gruppe behaup-ten, also unmittelbar im ersten Affekt reagieren zu m¨ussen. Neben Selbst-reflexion und Spannungsabbau konnte sie hier zum ersten Mal ungest¨ort in ihrer eigenen Gef¨uhlswelt leben und N¨ahe und Distanz zu ihrer Umgebung selbst bestimmen. So erlebte sie nun gl¨uckliche Tage, die sie zuversichtlich stimmten.

Anhand von Reckes Kindheitsbeschreibung werden grundlegende Unterschie-de zwischen Unterschie-den beiUnterschie-den KinUnterschie-derstubentypen sichtbar:

1. Der gemeinschaftliche Raum wurde von der Autorin als abgelegener Aufbewahrungsort, haupts¨achlich als Arrest empfunden. Die Raumat-mosph¨are wurde dementsprechend als k¨uhl und von Auseinanderset-zungen gepr¨agt geschildert. Das eigene Zimmer dagegen wurde als Ort des Friedens und der Geborgenheit empfunden.

333Rachel 1900, S. 61

2. W¨ahrend Elisa sich den ersten Raum nicht erschließen konnte und ihn in Verbindung mit ihren Niederlagen, Mißerfolgen sowie als Teilbereich ihrer Leidenszeit in Erinnerung behielt, der ihr fremd blieb, ¨ubertraf das eigene Zimmer ihre W¨unsche und Sehns¨uchte bei weitem. Diesen Raum hat sie sich als pers¨onlichen R¨uckzugsort erschlossen, in dem sie ihre Gef¨uhlen ausleben und ihren eigenen Gedanken nachgehen konnte.

Ans¨atze einer individuelleren Lebensf¨uhrung kommen hier zum Aus-druck.

3. Die gemeinsame Kinderstube erlebte sie insbesondere als Ort sozialer Auseinandersetzung und Diskriminierung, der ihr Leiden an der Welt und ihre melancholische Stimmung noch verst¨arkte. In der Ungest¨ ort-heit des eigenen Zimmers dagegen fand sie Mittel und Wege, Spannun-gen abzubauen und ihre Gef¨uhle auszubalancieren. Bedeutsam f¨ur ihr Raumerleben waren die M¨oglichkeiten, einen Eigenbereich zu besitzen und sich darin ungest¨ort zu entfalten.

4. Ihr Verh¨altnis zur gemeinschaftlichen Kinderstube wurde stark durch den sozialen Kontext, d.h. die sozialen Beziehungen und Bezugsperso-nen bestimmt. Beispielsweise wurde der Rahmen f¨ur eigene Aktivit¨aten bereits von der anwesenden Kindergemeinschaft vorgegeben, w¨ahrend das eigene Zimmer in hohem Maße offen f¨ur eigene Aktivit¨aten blieb.

Der Raumvergleich zeigt, daß neben den Komponenten Schutz, Geborgen-heit und Frieden, Kinder und Erwachsene R¨aume schon im 18. Jahrhundert danach beurteilten, welche M¨oglichkeiten sie ihnen zu einer pers¨ onlichkeits-entfaltenden und entwicklungsf¨ordernden Lebensf¨uhrung boten. Einengen-de, bedr¨angende, hierarchisch gegliederte und funktionale Raumverh¨altnisse

Der Raumvergleich zeigt, daß neben den Komponenten Schutz, Geborgen-heit und Frieden, Kinder und Erwachsene R¨aume schon im 18. Jahrhundert danach beurteilten, welche M¨oglichkeiten sie ihnen zu einer pers¨ onlichkeits-entfaltenden und entwicklungsf¨ordernden Lebensf¨uhrung boten. Einengen-de, bedr¨angende, hierarchisch gegliederte und funktionale Raumverh¨altnisse