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Die Kinder- und Spielstube

4.5 Das eigene Zimmer aus der Sicht von Heranwachsenden in der

4.5.6 Die Kinder- und Spielstube

Kinderstuben wurden im 18. Jahrhundert selten beschrieben, Spielstuben tauchten in der autobiographischen Literatur vereinzelt gegen Ende des Jahr-hunderts auf. Die in diesem Kapitel beschriebenen Kinder- und Spielstu-ben waren Variationen des ‘traulichen St¨ubleins’. Zum einen standen sie den strengeren funktionalen Studier- und Informatorenstuben kontr¨ar gegen¨uber, da das Kind mit seinen Bed¨urfnissen wesentlich st¨arker ber¨ucksichtigt wurde.

Zum anderen wurden sie von den Autoren im wesentlichen als harmonischer Hort des famili¨aren und kindlichen Lebens geschildert. Und drittens wurden sie als Wohnbereich skizziert, in dem besonders f¨ur die j¨ungeren Kinder das Spiel und nicht die Vermittlung und Erarbeitung des schulischen Lernstoffes im Mittelpunkt des Alltagsleben stand, obwohl Schulkinder hier auch ihre Hausaufgaben erledigten .

D. Joh. Salomo Semler, ein 1725 geborener Arzt, der in einem Pfarrhaus aufwuchs, erw¨ahnte in seinen Lebensbeschreibungen einen

”Wohnraum f¨ur uns kleine Kinder“. Beschrieben wird hier eine Kinderstube als Allraum, in der sich die Mutter mit den kleinen Kindern aufhielt, w¨ahrend der Vater in seiner Studierstube arbeitete. Schlafen, Beten, Lesen und Lernen – letzteres unter Obhut der Mutter – waren kindliche T¨atigkeiten, die in diesem Allraum stattfanden.

Diese Schilderung aus den fr¨uhen zwanziger Jahren erinnert zun¨achst an das funktionale Raumklima der Stuben f¨ur Schulkinder, in der T¨atigkeiten wie lernen, lesen und beten im Vordergrund standen. Doch vermittelte die

Anwesenheit der Mutter eine behaglichere Atmosph¨are. Sie war eine zentrale Figur in der Kinderstube; in den zitierten Textdokumenten ist die Mutter stets das Zentrum des Raumes und der Schilderungen. Sie beeinflußte die T¨atigkeiten der Kinder und leitete das Geschehen.

Vergn¨ugliche Stunden verbrachte der Pfarrerssohn Johann-Baptist Schad (geb. 1758), der selbst kein eigenes Zimmer besaß, in der Spielstube einer Spielkameradin.

”In ihrem Spielraume hatte sie die weiblichen Hausgesch¨afte und ich die m¨annlichen. Sie kochte die Suppe, w¨ahrend ich meinen Wagen bespannte, um ins Feld zu fahren. Ich wurde krank und sie verpflegte mich auf das liebreichste“360.

Ein”heimeliges“361 Bild von der Kinderstube als Hort des famili¨aren Lebens vermittelte der 1799 geborene Beamtensohn Peter Mohl. Er berichtete in sei-ner R¨uckschau, daß Mutter und Kinder gemeinsam Nachmittag und Abend in einem Raum verbrachten. Die Mutter las Romane und erledigte kleine Arbeiten, w¨ahrend sie die Kinder bei ihren Hausaufgaben und Spielen beauf-sichtigte. Dieser Typ der Kinderstube als harmonischer Hort des famili¨aren Lebens steht in erster Linie den Beschreibungen der strengen Studier- und Informatorenstuben gegen¨uber.

Gustav Parthey, wohlhabender, 1799 geborener Verlegerssohn, beschrieb in seinen Jugenderinnerungen seine Kinderstube als einen engen Raum – drei Kinder teilten sich ein Zimmer –, was zwar den Einfallsreichtum seiner Be-wohner nicht beeintr¨achtigte, allerdings die Durchf¨uhrung einschr¨ankte. So mißgl¨uckte eine theatralische Geburtstags¨uberraschung f¨ur die Mutter man-gels Bewegungsfreiheit. Trotzdem genossen die Kinder die geheimnisvolle und spannungsgeladene Atmosph¨are der Situation.

F¨ur den 1802 geborenen K¨unstlersohn Wilhelm von K¨ugelgen geh¨orte die Kinderstube zur Kindheit dazu. Kindliche Spiele und Vergn¨ugungen standen in seiner Erinnerung im Vordergrund. Die Kinderstube samt Kinderfrau war in K¨ugelgens R¨uckschau ein vergn¨uglicher Tummelplatz.

Als ein weiteres Indiz f¨ur die Akzentverschiebung von der Studierstube zum Spielzimmer kann eine Beobachtung Johanna von Schopenhauers aus ihrer Weimarer Zeit (1806) gewertet werden. Goethe ließ sich von ihrem T¨ ochter-chen Adele in das Zimmer f¨uhren, das sie mit ihrem Kinderm¨adchen teilte

360Schad 1828, S. 144

361vgl. Weber-Kellermann 1991, S. 7

und sich ihre Herrlichkeiten zeigen: gemeinsam ließen sie die Puppen der Reihe nach tanzen.

Die Spielstube scheint vor allem ein Reich f¨ur Kinder gewesen zu sein. Die Beschreibungen von Spiel und Spielsachen ließen Kinder und ihre Bed¨ urfnis-se st¨arker in den Mittelpunkt des Geschehens treten und schufen z.T. eine geheimnisvolle stimmungsgeladene Atmosph¨are. Das Kind hatte hier sein eigenes Reich, in dem es sich ausgelassen tummeln konnte und war somit teilweise Herr des Geschehens.

Thematischer Schwerpunkt ist die Sehnsucht der Autoren nach Geborgenheit und harmonischer N¨ahe, die in ihren R¨uckblicken auf die friedliche und gl¨ uck-liche Atmosph¨are dieser Kindheitsphase zum Ausdruck kommt. Spielzimmer und Kinderstube sind das Fundament, in dessen Schutz das Kind aufwach-sen konnte, gl¨uckliche und ungl¨uckliche, harmonische und spannungsgeladene Momente erleben und verarbeiten konnte. So entstanden meist Zustandsbe-schreibungen ohne kritische Stellungnahmen und Kommentare. Die eigene Kindheit wurde als gl¨ucklicher Zeitraum dargestellt, unter der Obhut der Mutter und im Kreis seiner Geschwister f¨uhlte sich das Kind in der Kinder-stube geborgen oder tummelte sich ausgelassen mit und ohne Spielgef¨ ahr-ten als Akteur seiner Handlungen in der Spielstube. Es war vornehmlich die traute Atmosph¨are und die Welt des kindlichen Spiels, die sowohl die Be-schreibungen und den Charakter des Raumes als auch das Raumerleben des Kindes pr¨agten.

4.5.7 Abschließende Betrachtung

Eine wesentliche Komponente von autobiographischen Raumbeschreibungen liegt in ihrer Bedeutung als biographischer Lebensstation, in der bestimmte individuelle Lebensproblematiken thematisiert werden, wie bereits Lippitz Studie ¨uber von Kindern erlebte und gelebte R¨aume (1989) gezeigt hat.

Der separate Wohnbereich f¨ur Heranwachsende, der sich im Laufe des 18.

Jahrhunderts herausbildete, wurde, wie diese Auswahl autobiographischer Textdokumente zeigt, am h¨aufigsten als ein Zimmer f¨ur Kinder, die eine h¨ohere Schulbildung bekamen oder anstrebten, beschrieben. Insbesondere im Rahmen der Haushofmeister- und Hauslehrererziehung wurden dem Z¨ogling und seinem Lehrer ein eigener Wohnbereich eingerichtet, in dem Bildungszie-le und oftmals noch st¨arker das Bildungsprogramm im Vordergrund standen

und Wert auf eine m¨oglichst ablenkungsfreie Atmosph¨are gelegt wurde. Kind-heit wurde von vielen Autoren vor allem als SchulkindKind-heit geschildert, und in diesem Zusammenhang war das eigene Zimmer als ein wichtiger Teilbereich dieses Arrangements bedeutsam f¨ur den individuellen Bildungsweg. Dement-sprechend war die schlichte, funktional gestaltete

”Studierstube“ ein von El-tern, Erziehern und Heranwachsenden gleichermaßen bevorzugtes Modell und wurde in der p¨adagogischen Literatur, den moralischen Wochenschriften (s.

Kap. 3.1) und von den p¨adagogisch orientierten Ratgebern dieser Epoche propagiert. B¨ucherschrank, Tisch, Lampe, Stuhl, Ofen, Bett und Waschge-legenheit waren die zentralen Einrichtungsgegenst¨ande; Spielzeug hatte bis gegen Ende des Jahrhunderts meist eine untergeordnete Funktion in diesem Raumarrangement. Das Kind sollte m¨oglichst optimal auf das Gymnasium bzw. in einigen F¨allen auf das Studium vorbereitet werden, insofern waren es in erster Linie Knaben, die ¨uber eigene R¨aume verf¨ugten.

Dem Bildungsgedanken wurde wie bereits erw¨ahnt bei der Erziehung von Kindern eine zentrale Bedeutung zugeschrieben, so daß die Bildung und Aus-bildung des Kindes in den Mittelpunkt des sich wandelnden Interesses am Kinde trat. Im r¨aumlichen Kontext zeigt sich die schulische Bildungskompo-nente anhand von zwei Aspekten besonders deutlich. So wurden zwar Kindern von Eltern oder Erziehern separate R¨aume eingerichtet, allerdings ber¨ uck-sichtigte der auf strenger Kontrolle bzw. Funktionalit¨at basierende und er-wachsenendominierte Erziehungsplan das Kind und seine Bed¨urfnisse selten.

In einigen F¨allen verf¨ugten Kinder ¨uber keinerlei Freizeit bzw. Freiraum mehr und f¨uhlten sich im nachhinein in ihrer inneren und ¨außerlichen Pers¨ onlich-keitsentwicklung beeintr¨achtigt. In anderen F¨allen erlebten Sch¨uler, wie sie durch ein Leben in der Fremde und unter Fremden verfr¨uht Erwachsenen-funktionen ¨ubernehmen mußten. Autoren, die als Heranwachsende in funktio-nalen erwachsenenorientierten R¨aumen gelebt hatten, beklagten sich h¨aufig

¨uber eine einengende, monotone, karge und kontrollierte Atmosph¨are sowie eine Grundstimmung, die von fehlender sozialer W¨arme gekennzeichnet war.

Ihr Verh¨altnis zum eigenen Zimmer war unpers¨onlich und distanziert.

Andererseits gab es neben diesen insbesondere f¨ur Sch¨uler eingerichteten Stu-ben R¨aume, die weniger zweckgerichteten Bildungszielen dienten und dem Heranwachsenden wesentlich gr¨oßere M¨oglichkeiten boten, eigenen Studien und Interessen nachzugehen. Eine nicht geringe Anzahl von Autoren w¨

unsch-te bzw. eigneunsch-te sich zum Zweck des Selbststudiums einen eigenen Raum an; einige schm¨uckten sogar karge R¨aume ihren Bed¨urfnissen entsprechend aus. Der Charakter der Stuben war dementsprechend individueller, weniger erwachsenenorientiert und ber¨ucksichtigte kindliche W¨unsche und Grund-bed¨urfnisse in st¨arkerem Maße. Auch diejenigen R¨aume, die von Erwachse-nen eingerichtet worden waren, verf¨ugten ¨uber eine behagliche und wohnli-che Note. Außerdem konnten sie je nach Stimmungen und Bed¨urfnissen des heranwachsenden Bewohners phantasievoll gestaltet werden. Je nachdem, ob konkrete Ziele und Intentionen oder kindliche Phantasiewelten im Vorder-grund ihrer momentanen Lebensphase standen, richteten sich die Autoren nicht nur in einem Raum ein, sondern gestalteten ihn zu einem Teilbereich ihrer Welt. Zentrale Gesichtspunkte des kindlichen Gestaltungsdranges sind die bereits von Rittelmeyer in bezug auf einen

”menschengem¨aßen Schul-bau“362 ermittelten Komponenten:

1. der das Anregungsbed¨urfnis befriedigende Abwechslungs- und Anre-gungsreichtum,

2. die dem Freiheitsbed¨urfnis entgegenkommende freilassende Raumkom-ponente,

3. die Ber¨ucksichtigung des kindlichen Grundbed¨urfnisses nach Zuwen-dung, Aufmerksamkeit und Dialogf¨ahigkeit durch W¨arme und Weich-heit.

Dies kann letztendlich als Hinweis gedeutet werden, daß der Sozialfigur eines Raumes von Heranwachsenden eine gr¨oßere Bedeutung zugeschrieben wird und damit eine weitaus signifikantere Komponente f¨ur den kindlichen Bil-dungsprozeß darstellt als bisher angenommen.

In diesem Zusammenhang sollte auch erw¨ahnt werden, daß die Autoren der Ausstattung ihrer R¨aume kaum eine Zeile widmen, w¨ahrend sie sich mit der Lage ihrer Stube wesentlich intensiver besch¨aftigen. Sie wird h¨aufig als Anzeichen f¨ur h¨ausliche Hierarchien gewertet, die sich insbesondere in Raum-anordnungen widerspiegeln k¨onnen. Eine abgelegene Lage oder das hinterste Zimmer, so geben einzelne Autobiographen Aufschluß, zeigt die Stellung ih-res Bewohners, in diesem Fall des Kindes, im Familiensystem und damit seine soziale Stellung an.

362Rittelmeyer 1994, S. 13/14

5 Zur Aktualit¨ at des Kinderzimmers am En-de En-des 20. JahrhunEn-derts

Der Frage nach der Bedeutung des heutigen Kinderzimmers f¨ur die Kindheit soll im letzten Teil meiner Studie nachgegangen werden. Mein besonderes Interesse gilt dem Entwicklungsaspekt, mich interessiert vor allem, ob sich das Kinderzimmer zu einer Art

”Br¨ucke zur Welt“ entwickelt hat, wie I. Bock-leth363 die Kinderstube 1959 beschrieb oder zur Br¨ucke in eine umstrittene virtuelle Welt; ein Bild, das die Lekt¨ure mancher Zeitungsartikel vermittelt, z.B. von H. Fritz mit dem Untertitel

”Im Kinderzimmer ist die Elektronik auf dem Siegeszug“ aus dem Jahre 1981364. (Abb. 33)

5.1 Beschreibung der methodischen Vorgehensweise

Auf der Grundlage von vierzehn Einzelbefragungen soll ein Einblick in das Raumerleben von Heranwachsenden gegen Ende des 20. Jahrhunderts ge-wonnen werden. Die Anzahl der von mir erstellten Interviews reicht sicherlich nicht aus, um einen umfassenden gesamtgesellschaftlichen ¨Uberblick ¨uber das Kinderzimmer zu geben bzw. die Frage, wie das heutige Kinderzimmer aus-sieht, generell beantworten zu k¨onnen. Es k¨onnen lediglich Komponenten der Sicht von Heranwachsenden auf ihr eigenes Zimmer ermittelt werden. Dabei kann es sich bloß um eine Ann¨aherung handeln, um wesentliche Tendenzen und Aspekte, die bei der Gestaltung des kindlichen Wohnbereichs eine Rolle spielen, herauszuarbeiten.

Zun¨achst wird eine Darstellung meiner Vorgehensweise Aufschluß ¨uber Ziel-setzungen sowie Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Untersuchung geben. In einem weiteren Schritt werden in der anschließenden Auswertung des Interviewmaterials die wichtigsten Tendenzen in bezug auf das Raumer-leben von Heranwachsenden erschlossen. Im Gegensatz zu den historischen Studien in dieser Arbeit ist die Beschreibung unterschiedlicher Raumtypen von untergeordneter Bedeutung. Das soll nicht heißen, daß die bisher beo-bachtete Vielfalt des kindlichen Wohnbereichs verschwunden ist, sondern daß deren Grundlagen, n¨amlich einseitige Funktionalit¨at nicht mehr zu finden ist;

363Bockleth 1959

364Fritz 1981

statt dessen sind entwicklungs- und milieubedingte Unterschiede in den Vor-dergrund getreten.