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Einsame Studierstube und geheimes Versteck

4.5 Das eigene Zimmer aus der Sicht von Heranwachsenden in der

4.5.4 Einsame Studierstube und geheimes Versteck

Dem Wunsch nach einem einsamen ‘Studierst¨ubchen’, das bereits in der Ein-zelfallanalyse I ausf¨uhrlich beschrieben wurde, begegnet man in den ausge-werteten Textausz¨ugen immer wieder.

Uber den Wissenschaftler Johann Heinrich Lambert (geb. 1728) wurde be-¨ richtet, daß er als Kind beim n¨achtlichem Lesen und Studieren in einer Kam-mer Feuer in einer leerstehenden, dar¨uberliegenden Kammer entdeckte. Dem Wunsch nach einem einsamen, ungest¨orten Platz, Raum oder einem einsamen Studierst¨ubchen begegnet man in Lebensbeschreibungen aus dem 18. Jahr-hundert relativ h¨aufig.

Als ein weiteres Beispiel f¨ur Eigeninitiative soll hier Johann Gottfried von Herder erw¨ahnt werden. Anfang der 60er Jahre, so berichten die Biographen Herders, nutzte der 16j¨ahrige Schulmeistersohn eine enge Schlafkammer, um seine Griechisch- und Latein-Kenntnisse zu erweitern. Mit Kerze, B¨uchern und griechischen W¨orterb¨uchern aus der Bibliothek seines Arbeitgebers aus-gestattet, erlernte er nachts im Bett liegend die griechische Sprache.

Auch den 1758 geborenen Handwerkersohn Franz Xaver Bronner f¨uhrten sei-ne Bildungsinteressen und sein Wunsch zu studieren dazu, Eigeninitiative zu entwickeln und sich in einem alten Taubenhaus ein Studierst¨ubchen einzu-richten.

344Baczko 1824, S. 126

In seinen

”Denkw¨urdigkeiten aus meinem Leben“ erz¨ahlte der 1760 geborene Hofzimmermeisterssohn und sp¨atere Architekt Friedrich Weinbrenner, daß er als Junge im Zimmerhof seiner Mutter H¨auschen nachbaute. Sie waren so ger¨aumig, daß er sich dort mit Freunden aufhalten konnte, und hatten ein unterirdisches Versteck, so daß er sich darin vor seinem Hauslehrer verborgen halten konnte. Ein eigenes Zimmer erw¨ahnt er erst im Jugendalter, wo er sich mit einem Kameraden mittels Lekt¨urestudien beruflich fortbildet.

Von einer einsamen Studierstube, in der er seiner Leselust freien Lauf ließ, be-richtete auch Heinrich Eberh. Gottlob Paulus (geb. 1761):

”Da es aber bald an teutschen B¨uchern dieser Art fehlte, so f¨uhlte sich der Knabe sehr gl¨ucklich, nach einer ¨Ubersetzung von F´en´elons T´el´emaque, auch einen Elzevirischen Homer mit lateinischer ¨Ubersetzung in des Vaters Bibliothek aufzufinden, den er dann blos wie einen Roman zu lesen suchte. Oft konnte er noch im Mondenschein in der einsamen Studierstube das B¨uchelein nicht weglegen, bis er das Ende eines Abenteuers erreicht hatte. Selbst auf die Aeneis wurde diese Romanlect¨ure, obgleich mit M¨uhe ausgedehnt“346.

Der 1768 geborene Beamtensohn Johann Gottfried von Pahl konnte in seinem Zimmer vor allem seiner Leselust fr¨onen.

”Dagegen zog mich nichts mehr an als B¨ucher, Kupferstiche und Zeichnungen; ich schleppte die ersteren, wo ich sie irgend finden konnte, in der ganzen Stadt zusammen; der obere Boden des Hauses war meine Studierstube, wo ich ununterbrochen las und schrieb. . . “ Ein weiterer Beamtensohn, Christopher Schmidt (geb. 1768) erinnert sich an einen Schlafraum, in dem er mit seinem Bruder schlief347 ein eigenes Zim-mer, das ihm als Lernzimmer diente, erw¨ahnt er jedoch erst in der Studenten-zeit348. Als Hauslehrer stand ihm ein separates Lehrzimmer zum Unterrichten der Kinder im Hause von Professor Weber in Dillingen zur Verf¨ugung349. F¨ur den 1780 geborenen Pfarrerssohn Friedrich Kohlrausch waren mit dem ei-genen Zimmer insbesondere Bildungsinteressen verbunden. So sind es vor al-lem Licht und Lampe, die er als besondere Einrichtungsgegenst¨ande erw¨ ahn-te, weil sie den Zeitraum, der ihm zum Lernen zur Verf¨ugung stand, erheblich verl¨angerten.

Etwa 1782 nahm Goethe den Sohn von Charlotte von Stein, Fritz, als Z¨ogling

346Paulus 1839, S. 70

347vgl. Schmidt, S. 27

348vgl. Schmidt, S. 69

349vgl. Schmidt, S. 85

in seinen Haushalt auf. Nachdem Fritzens Hauslehrer Pageninformator am Weimarer Hof geworden war, beobachtete seine Mutter seine Entwicklung mit Unbehagen und wollte ihn vom Hofleben fernhalten. Fritz wurde in einer se-paraten Stube untergebracht, von der er f¨ur Goethes Mutter eine Zeichnung anfertigte. Goethes p¨adagogische Motive waren Karl Muthesius350 zufolge, vielf¨altige Bildungsinteressen zu wecken, aber auch das kindliche Wohlbefin-den lag ihm am Herzen. Fritz lebte bis 1788 in Goethes Haus.

Daß das eigene Zimmer zu jener Zeit eher die Ausnahme als die Regel war, darauf wies der Pfarrerssohn Wolfgang Menzel (geb. 1798) hin. W¨ahrend sei-ner Schulzeit besaß er

”ausnahmsweise ein eigenes Zimmer, wo ich mich mit meinen B¨uchern und Schreibereien ganz ungest¨ort fand“351, wie er in seinen

”Denkw¨urdigkeiten“ berichtete. Ungest¨ortheit und Bildungsinteressen schei-nen die Schl¨usselbegriffe zu sein, die die Attraktivit¨at des eigenen Raumes f¨ur Kinder und Jugendliche am treffendsten beschreiben. In den ausgewerte-ten Autobiographien wird die Kindheit im 18. Jahrhundert als Schulkindheit dargestellt, inklusive geregeltem Tagesablauf und Erziehungspl¨anen, die in erster Linie Unterrichtspl¨ane sind. Diese Entwicklung spiegelt sich sogar in den W¨unschen der Kinder wider, denn im Gegensatz zu den bisher untersuch-ten Raumtypen scheint die Studierstube der Wunschraum, machmal auch nur Wunschtraum vieler heranwachsender Autoren gewesen zu sein. Obwohl sie ebenfalls zu Unterrichts- bzw. Lernzwecken diente, zeichnete sie sich doch durch eine besondere Atmosph¨are und Grundstimmung aus.

Zun¨achst einmal w¨unschten sich Kinder einen eigenen Raum ohne erwachse-ne Mitbewoherwachse-ner und soziale Kontrolle, wenn m¨oglich einen abgeschiedenen Raum f¨ur sich allein, den sie selbst gestalten und ihren Vorstellungen ent-sprechend ausschm¨ucken konnten. Dabei waren es aus der Sicht von Heran-wachsenden vor allem Qualit¨aten wie Ungest¨ortheit, Privatheit und Selbst-entfaltung, die ihrem Zimmer einen hohen Wohnstandard verliehen haben.

Diese selbst arrangierten R¨aume wirkten anregend und waren auf die jewei-ligen Bed¨urfnisse ihrer Bewohner abgestimmt, soweit das in dieser Epoche m¨oglich war. M¨angel wurden von den Bewohnern nicht ¨uberbewertet, sie reg-ten z.T. die Eigenaktivit¨at des Kindes an und f¨orderten Selbst¨andigkeit und

350Muthesius 1903

351Menzel 1877, S. 34

Initiative352. Viele Autoren schufen sich ihre eigene Welt, so daß der Raum auch als R¨uckzugsort und Zufluchtsst¨atte einen hohen Stellenwert besaß.

Nat¨urlich hatte er als Wunschraum von vornherein eine besondere positive Bedeutung und wurde dort, wo der Einklang zwischen dem Kind und seiner sozialen Umgebung353 erheblich gest¨ort war, vom R¨uckzugsort bzw. Asyl zu einer Art Gegenwelt umgestaltet, die der ungeliebten Alltagswelt gegen¨ uber-gestellt wurde. Das eigene Zimmer schaffte Distanz zu anderen und Fremden, war also wie aus den Beispielen ersichtlich wird, f¨ur die pers¨onliche Abgren-zung und damit f¨ur die Herausbildung der pers¨onlichen Identit¨at von großer Bedeutung.