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Aspekte der Selbstdarstellung und des eigenen Raumes 99

4.3 Fallbeispiel I

4.3.3 Aspekte der Selbstdarstellung und des eigenen Raumes 99

In dieser Textsequenz besch¨aftigte sich H. Zschokke mit zwei Aspekten, die zentral f¨ur sein Selbstbild sind. Zun¨achst stellte er sich als ein Mensch dar, der bereits als Knabe nach Bildung strebte. So schilderte er sich als streb-samen Sch¨uler, auch wenn man im Haus seiner Schwester zu kaufm¨annisch dachte,

”um auch nur auf meinen Schulfleiß einigen Werth zu legen“. ¨Uber den Schulstoff hinaus besch¨aftigte er sich mit geistigen Arbeiten und f¨ uhr-te einen fiktiven

”poetischen Briefwechsel mit dem Geist des verstorbenen Vaters“. Dieser war f¨ur ihn noch immer die pr¨agendste Bezugsperson, und der von ihm vorgegebene Selbst- bzw. Lebensentwurf war f¨ur den Autor ver-bindlich,

”umso mehr, als der Vater mich, als den J¨ungsten, wie man mir

290Zschokke 1842, S. 18

291Zschokke 1842, S. 18

sagte, einer wissenschaftlichen Laufbahn bestimmt hatte“292. Er verlieh die-sem Selbstentwurf Ausdruck, indem er von sich als

”unruhigen Geist“ sprach.

Die Bezeichnung

”Schw¨armer“ stand dazu nicht im Widerspruch, denn die Vorstellung von einem gebildeten Menschen beinhaltete beispielsweise in der Romantik auch das Bild des Schw¨armers. Seine Selbstdarstellung enthielt neben seinem Selbstentwurf einen zweiten Aspekt: die heftige Form der Aus-einandersetzung mit seinem famili¨aren Umfeld, die er als Gegen¨uberstellung von kaufm¨annisch-pragmatischer Denk- und Lebensweise auf der einen Sei-te und einer an Bildung orientierSei-ten, individuellen Lebensgestaltung auf der anderen Seite beschrieb. Zschokke reflektierte beide Aspekte und die damit verbundene Identit¨atsthematik zun¨achst auf der Beziehungs- und Kommu-nikationsebene und f¨uhlte sich daher st¨andig in Frage gestellt.

”Fehlte es zuf¨allig an Papier f¨ur Geldrollen, nahm man ohne Bedenken Zuflucht zu meinen schriftlichen Arbeiten und ¨Ubersetzungen.“ Er stellte sich als einen Mensch dar, der an der Welt litt und ihr fremd blieb. Daß Heinrich sich ins-geheim den Kaufleuten und Handwerkern ¨uberlegen f¨uhlte, ¨außerte sich u.a.

in seiner kritischen Beurteilung ihres Bildungsgrades und in seinem Versuch, weiterhin seine Pl¨ane durchzusetzen.

Im zweiten Abschnitt dehnte er die Beschreibung und Reflexion ¨uber seine pers¨onliche Entwicklung auf die Wohnverh¨altnisse aus, so daß sein Selbst-entwurf nun auch r¨aumlich thematisiert wurde. Die beschriebene Erfahrung der Diskrepanz zwischen positiver Selbsteinsch¨atzung und negativer sozialer Bewertung f¨uhrte zu seinem R¨uckzug in sein

”Schlafk¨ammerlein“. Schon die Wahl dieses Begriffs weist darauf hin, daß dieser Raum f¨ur den Autoren eine besondere Bedeutung hatte; hier f¨uhlte er sich wohler als in der Wohnstube.

In der nun folgenden Passage beschrieb er seinen Versuch, seine Schlafkam-mer gem¨aß seinem Selbstentwurf und der damit angestrebten Lebensform zum ”Studierzimmer“ umzugestalten. Doch sowohl auf der Beziehungs- als auch auf der r¨aumlichen Ebene mußte er Mißerfolge bei der Realisierung seiner Entw¨urfe hinnehmen.

Erst als er sich im Zuge des sich zuspitzenden Konflikts ¨offentlich als jemand definierte, der Anspruch auf Selbstverwirklichung hat und sein Recht auf

”bessere Pflege“ f¨ur sein

”Kostgeld“ einklagte, gelang es ihm, sein weiteres Leben selbst zu gestalten. Er begann autonom zu handeln, sich erstaunlich

292Zschokke 1842, S. 8

selbstsicher zu verteidigen und seinen Selbstentwurf umzusetzen, indem er sich einen Freiraum verschaffte. Er kam als Gymnasiast in

”Wohnung und Kost“ zu einem betagten Gymnasiallehrer. Im vierten Abschnitt kommen-tierte er die Ereignisse und die

”Spuren“, die sie hinterließen, r¨uckblickend aus einer ¨ubergeordneten Perspektive als bedeutsam f¨ur die weitere Ent-wicklung seines Gem¨uts. Die Ausf¨uhrungen Zschokkes deuten an, daß der dreizehnj¨ahrige bei der Umsetzung seines Selbstentwurfes bereits ganz selbst-verst¨andlich das

”Problem der r¨aumlichen Verfassung des menschlichen Da-seins“293 in sein Selbstkonzept miteinbezogen hatte und k¨onnen als Hinweise gewertet werden, daß Aspekte des Selbstentwurfes und damit der Identit¨at auch r¨aumlich thematisiert werden294.

4.3.4 Beschreibung der Lebensumst¨ande

Der Autor begann seine Erz¨ahlung mit einer kritischen Schilderung des fa-mili¨aren Kontexts, in dem er aufwuchs, u.a. beschrieb er die in ihm vor-herrschenden Denk- und Verhaltensweisen und wesentliche Aspekte seines Verh¨altnisses zu ihnen.

”Man dachte hier zu kaufm¨annisch, um auch nur auf meinen Schulfleiß einigen Werth zu legen.“ Zschokke ging in dieser Passage indirekt auf seine geringe soziale Stellung im Haushalt seiner Schwester ein und untermauerte seine Feststellung, daß er hier vor allem als

”Kostg¨anger und Dienstbote“ gesehen wurde. Sein Verh¨altnis zur Hausgemeinschaft war gepr¨agt von st¨andigen Spannungen und Konflikten, insbesondere seine poe-tische Neigung und die Art, wie er seine Trauer um den verstorbenen Vater verarbeitete, riefen heftige Auseinandersetzungen hervor. Die einzelnen Per-sonen und seine Beziehungen zu ihnen blieben blaß und distanziert. So spricht er nur mit bitteren Untert¨onen als ‘Gemeinschaft’ von ihnen. Er sieht sich als

”unliebsamen Hausgenossen“, f¨uhlt sich allein gelassen bzw. ausgeschlossen und nicht als Verwandter. Anscheinend hatte Heinrich lediglich zum Vater eine enge, pers¨onliche Beziehung.

Auf die Wohnverh¨altnisse ging Zschokke in einem separaten Abschnitt ein, wo er ausf¨uhrlich sein Verh¨altnis zu seinem

”Schlafk¨ammerlein“ darlegte. Das Bild, das er von diesem Raum entwarf, zeichnet sich weniger durch Detail-reichtum und Genauigkeit als durch eine deutliche Parallele zu seiner Position

293Bollnow 1997, S. 13

294vgl. Lippitz 1989, S. 93

innerhalb der Hausgemeinschaft aus. Sein Wohnbereich bestand lediglich aus einer Schlafkammer, die aber nicht differenziert beschrieben wurde. Zschok-ke benutzte sie außerdem als

”Studierstube“, in der er ungest¨ort lernen und arbeiten konnte – sogar nachts. Das gemeinschaftliche Miteinander des zen-tralen Wohnraumes im Hauptgeb¨aude entsprach nicht seinen Bed¨urfnissen, denn als Gymnasiast ben¨otigte er einen ruhigen Raum. Sein R¨uckzug ent-hielt reichlich Konfliktstoff. Eine selbsterstellte R¨ubenlampe zum heimlichen Lesen f¨uhrte schließlich zum Eklat. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuum und Gemeinschaft waren zu tief, um friedlich beigelegt werden zu k¨onnen.

Im dritten Abschnitt geht es um Aspekte seines Verh¨altnisses zur Gesell-schaft. In dieser Situation stellte sie mit ihren Instanzen f¨ur ihn eine M¨ oglich-keit dar, seinen Anspr¨uchen auf Selbstverwirklichung Geltung zu verleihen.

So begab er sich

”sofort zum Pr¨asidenten des Obervormundschaftsamtes“, schilderte seine

”Leidensgeschichte“, woraufhin dieser ihm

”freundlich auf die Achsel“ klopfte und sagte

”Geh, es soll besser werden“. In der Tat gelang es ihm auf diese Weise, seine Lebens- und Wohnverh¨altnisse zu verbessern.

Zschokkes Lebensumst¨ande wurden insgesamt durch seine soziale Situation als Waise gepr¨agt. Das Haus seiner Schwester wurde ihm nicht zum Zuhause, und die im Haushalt lebenden Personen blieben ihm fremd. So zog er sich immer mehr in eine eigene Welt zur¨uck. In diesem sozialen R¨uckzug aus dem famili¨aren Spannungsfeld ins eigene Zimmer kommen zwei Komponenten zum Ausdruck: einerseits seine Suche nach einem Ort, an dem er Ruhe und Frie-den fand, also nach einem Heim, andererseits seine Suche nach einem Platz, wo er als Sch¨uler ungest¨ort lernen und seinen pers¨onlichen Studien nachgehen konnte. Seine individualisierte Lebens- und Arbeitsweise stieß in einer fami-li¨aren Umgebung, in der Kinder fr¨uhzeitig durch direkte Einbindung in den Arbeitsprozeß in die Erwachsenenwelt integriert wurden, auf Unverst¨andnis.