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Die Informatoren- und Unterrichtsstube. Strenge Tages-

4.5 Das eigene Zimmer aus der Sicht von Heranwachsenden in der

4.5.3 Die Informatoren- und Unterrichtsstube. Strenge Tages-

Haupts¨achlich in den an der Bildung ihrer Kinder interessierten b¨urgerlichen und adligen Familien war die Informatorenstube im Rahmen der Haushofmei-stererziehung verbreitet. Ihre Hauptfunktion war die einer Unterrichtsstube f¨ur heranwachsende Knaben.

In einem gemeinsamen Raum wohnten, lernten und schliefen Carl F. Bahrdt und seine Geschwister zusammen mit ihren oft wechselnden Informatoren339. Bahrdt wurde 1741 geboren und wuchs als Sohn eines Theologieprofessors in Leipzig auf. In der genannten Kinder- oder Informatorstube wurde auch der Unterricht gehalten. Lesen, auswendig Lernen und Aufsagen eines Textes bestimmten den Unterrichtsverlauf.

339Hauslehrer, die ihre Z¨oglinge auf das Gymnasium, manchmal sogar auf das Studium vorbereiteten und sie auf die Universit¨at begleiteten, wurden im 18. Jahrhundert auch Informatoren genannt.

H¨aufig blieben die Z¨oglinge allerdings sich selbst ¨uberlassen, weil der Haus-lehrer weitere Aufgaben im Haushalt zu erledigen hatte oder eigenen In-teressen und Bed¨urfnissen nachging. Bei Bahrdts schien meist das letztere der Fall gewesen zu sein, und so wechselten, sobald ihnen die Eltern auf die Schliche kamen, die Hauslehrer die Stelle. Waren die Geschwister sich selbst

¨uberlassen, f¨uhrten sie u.a. Rollenspiele nach biblischen Motiven auf. Bahrdt erinnerte sich,

”daß es eine unserer Hauptbelustigungen war, biblische Hi-storien dramatisch zu bearbeiten und vorzustellen. Das taten wir denn ohne allen Aufwand von weitl¨aufigen Dialogen, vielf¨altigen Szenen, großen Deko-rationen u. dgl. und wir behandelten unsere St¨ucke ganz simpel und kurz.

So f¨uhrten wir z.B. den Durchgang der Kinder Israel durch den Jordan der-gestalt auf, daß mein Bruder einen Eimer Wasser holte [. . . ] erhielt hernach von meinem Vater mit meinen Br¨udern eine Tracht Schl¨age, weil das Wasser durch die Dielen gedrungen und ihm in die Studierstube gelaufen war und B¨ucher und Schriften ers¨auft hatte“340.

Den Untersuchungsgegenstand wesentlich kritischer, ambivalenter und inten-siver reflektierend, erlebt Ludwig von Baczko (geb. 1756) seinen Raum. Die Kinderstube blieb ihm in der Milit¨arzeit seines Vaters lediglich als Schlafraum in Erinnerung. Zun¨achst vom Vater f¨ur den Milit¨ardienst erzogen, zwangen diesen eine k¨orperlich Behinderung und mehrere Unf¨alle Ludwigs, diese Zu-kunftspl¨ane aufzugeben, statt dessen sollte Ludwig nun Gelehrter werden.

Monatelang in ¨arztlicher Behandlung und ans Bett gefesselt, erschien dem Jungen diese Zukunftsperspektive als fad und ¨ode im Vergleich zum freien, abenteuerlichen Leben, das er in der Kaserne gef¨uhrt hatte. Der Bruch mit der alten Lebensweise fiel um so deutlicher aus, als der im Krieg wohlhabend gewordene Vater einen Gutshof erstand und sich, der Intrigen und des Neides beim h¨oheren Milit¨ar m¨ude geworden, zur Ruhe setzte. So stellte er nunmehr f¨ur seine Kinder Informatoren ein. Dies bedeutete f¨ur die Kinder kein nat¨ urli-ches, allm¨ahliches Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt, sondern ein Leben nach einem strikten Erziehungsplan mit festen Bildungszielen und festgeleg-tem Tagesplan. Von sieben Uhr morgens bis Mitternacht sollte Ludwig unter Obhut eines Hauslehrers lernen. Sein Zimmer, das er mit diesem Lehrer teil-te, erlebte er als einengend, ja sogar als Gef¨angnis. Diese Domestizierung, fehlende Freizeit und stupides Auswendiglernen in einem als Studierzimmer

340Bahrdt, S. 35, 36

eingerichteten Raum341 f¨uhrten zu einer konfliktreichen Beziehung zu Vater und Hauslehrer. Erst allm¨ahlich gewann Ludwig der Situation Vorteile ab und lernte sich darin einzurichten, ja sogar – soweit bei dieser v¨olligen p¨ adagogi-schen Kontrolle m¨oglich – Eigeninitiative zu entwickeln. Speziell B¨ucher lesen und die stark emotionelle Verarbeitung lateinischer Texte mit milit¨arischem Inhalt in phantasiereichen Rollenspielen bereitete ihm bald Vergn¨ugen. Er-staunlich ist die Tatsache, daß er trotz aller Opposition und der Anwesenheit eines Informators diesen Raum als sein Zimmer bezeichnete.

Lediglich einen Satz widmet Dinter seinem Wohnbereich im Kindesalter. Gu-stav Dinter, Sohn eines Juristen, wurde 1760 geboren und teilte sein Zim-mer mit seinem Informator. Der Raum diente haupts¨achlich zu Unterrichts-zwecken sowie Dinters Vorbereitung auf das Studium.

Sein eigenes Zimmer beurteilt Fr. Perri-Parnajon, 1771 als Sohn eines Beam-ten geboren, im R¨uckblick ebenfalls ambivalent. In seiner Funktion als Lern-stube ¨ahnelte es eher einem Kerker, fand Friedrich. Seine Lieblingsbesch¨ afti-gungen Spielen und Dichten kamen zu kurz, kritisierte er.

Abseits des elterlichen Wohnbereichs

”vier Treppen hoch“ wohnte mit seinem Hofmeister Wilhelm L. V. Henkel von Donnersmarck, ein 1775 geborener Adelssproß. Er erlebte wie viele andere die Schattenseiten der Hofmeister-erziehung: Dem¨utigungen, Pr¨ugel und Entfremdung.

Kritik an der Hauslehrererziehung taucht in den von mir bearbeiteten Auto-biographien immer wieder auf. Einsamkeit und den Launen des Hauslehrers Ausgeliefertsein sind relativ h¨aufige Kritikpunkte. So beklagte auch Karl von Raumer, 1786 als Sohn eines f¨urstlichen Kammerdirektors geboren, daß sein Informator ihn stundenlang einsperrte. Die Alumnenwohnung, die er in sei-ner Gymnasialzeit bewohnte, behielt er in freundlicherer Erinsei-nerung als die Informatorenstube auf dem v¨aterlichen Gut.

Der 1791 geborene Wiener Juristensohn Franz Grillparzer beschreibt in sei-ner”Selbstbiographie“ die Ver¨anderung seiner Kinderstube von einem engen, dunklen Schlafraum in den ersten Lebensjahren zur Informatorenstube, die er mit seinen Geschwistern in einer sp¨ateren Wohnung teilte. Ab seinem achten Lebensjahr bekam Grillparzer zusammen mit seinen Geschwistern Privatun-terricht bei einem Haushofmeister. Kleine Theaterauff¨uhrungen sowie Ritter-spiele, Neckereien und Streiche gegen den tr¨agen und unordentlichen

Haus-341ucherschrank, Bett, Waschgelegenheit, Tisch und Stuhl als Arbeitsplatz

hofmeister standen auf dem Tagesplan. Lerninhalte kamen dabei verst¨ and-licherweise zu kurz. Franz wurde aus diesem Grund mit neun Jahren zum st¨adtischen Gymnasium geschickt und der Haushofmeister entlassen.

Wie sensibel Kinder auf Ver¨anderungen ihrer gewohnten Umgebung reagie-ren k¨onnen, kann man der Schilderung des 1797 geborenen Adelssprosses Karl von Holtei, der bei Pflegeeltern aufwuchs, entnehmen. Wie in diesem Milieu ¨ublich, verließ er fr¨uh das Elternhaus und bekam eine Haushofmei-stererziehung. Dies bedeutete u.a., daß er zusammen mit seinem Informator einen Raum bewohnte. Schmerzlich traf es Karl, daß eine uralte Kastanie vor seinem Fenster gef¨allt wurde, die Mittelpunkt seiner Spielwelt gewesen war; ¨ubrig blieb

”der zertr¨ummerte Bau meines Palastes“342 und die nun ins Zimmer eindringende Helligkeit st¨orte ihn. Tr¨anen flossen, und er f¨uhlte sich von nun an fremd an diesem Ort.

Ein weitaus detailreicheres Bild vom kindlichen Wohnbereich je nach Alters-und Entwicklungsstufe, aber auch nach sozialem Milieu zeigt uns Wilhelm von K¨ugelgen in seinen Jugenderinnerungen. F¨ur den 1802 geborenen K¨ unst-lersohn geh¨orten Kindern vorbehaltene R¨aumlichkeiten zur Kindheit dazu.

Seine erste Kinderstube ist keine karge Studierstube und nicht starr an den Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der Erwachsenen orientiert. Kindli-che Spiele und Vergn¨ugungen stehen in seiner Erinnerung im Vordergrund.

War die Kinderstube samt Kinderfrau noch ein vergn¨uglicher Tummelplatz in K¨ugelgens Augen, so folgte diesem Abschnitt die Informatorenstube mit Hauslehrer, f¨ur ihn eine konfliktreiche Zeit, in der sogar das kindliche Spiel beaufsichtigt und ‘beherrscht’ wurde.

Dieser Raumtyp hatte, wie die ausgew¨ahlten Textstellen belegen, in erster Linie die Funktion eines Unterrichtsraumes f¨ur heranwachsende Knaben. Der Lernplan, der ihren Tagesablauf bestimmte, bestand aus Lesen, auswendig lernen und Texte aufsagen. Teilweise wurde dieses sorgsam ausgearbeitete Tagesprogramm ¨außerst strikt eingehalten, wie Baszko und K¨ugelgen berich-teten. In anderen F¨allen waren die Knaben, Bahrdt und Grillparzer sollen hier genannt werden, ¨uber gr¨oßere Zeitr¨aume sich selbst ¨uberlassen und trie-ben allerlei Schabernack. Zu starke Kontrolle und stupides Auswendiglernen ließen die Bed¨urfnisse von Kindern nach N¨ahe und Selbst¨andigkeit durch eine pers¨onlicher gestaltete Beziehung zwischen Lehrer und Z¨ogling unber¨

ucksich-342Holtei 1843, S. 40

tigt. Das formale Lehrer-Sch¨uler-Verh¨altnis f¨uhrte vielfach zu Opposition, Ablehnung und Langeweile. Dies zeigt sich besonders in den ¨uberwiegend negativ gef¨arbten Aussagen der zitierten Textbeispiele. Zum anderen wird an diesen Beispielen deutlich, daß das Verh¨altnis des Z¨oglings zum Raum durch das gesamte Raumarrangement gepr¨agt wurde, d.h. durch die Art und Weise, wie der Hauslehrer Raum und Tagesablauf arrangierte. Das bedeute-te, wenn z.B. die Lehrer-Z¨ogling-Beziehung sehr erwachsenenorientiert und konfliktreich verlief, spiegelte sich dies in der Raumwahrnehmung wider. So wurde das Zimmer von den Autoren als einengend erlebt, manchmal sogar als ‘Kerker’ bzw. ‘K¨afig’ empfunden.

Trotzdem wurde der Raum ambivalent wahrgenommen, denn bei aller Kritik konnten die meisten Heranwachsenden dank ihres Einfallsreichtums diesem strengen funktionalen Arrangement Vorteile abgewinnen. Insbesondere wenn sie sich selbst ¨uberlassen waren, wurde der Raum unverz¨uglich zum Bestand-teil ihrer Spiel- und Phantasiewelt ausgebaut und genutzt, indem sie sich die Welt und ihren Lernstoff auf ihre ganz individuelle Art aneigneten bzw. verar-beiteten:

”das Studium der R¨omischen und Griechischen Geschichte, und der Lateinischen Klassiker, gaben mir einen eigenen republikanischen Schwung, und von der andern Seite fiel ich wieder auf Kinderspiele. Ich machte mir Griechen und Perser, R¨omer und Karthaginenser aus Wachs und Papier, ließ sie auch wol durch Bohnen von verschiedener Farbe repr¨asentiren, und liefer-te nun auf meinem Tische, so wie es mir einfiel, die Schlachliefer-ten von Plat¨aa, Cann¨a, oder Marathon. Ich hatte meine Lieblinghelden, ¨uber deren Schick-sal ich zuweilen Tr¨anen vergoß. Ein Marius auf den Ruinen von Karthago, ein Hannibal, da er den letzten Blick von seinem Schiffe auf Italiens K¨uste wandte, – wie oft habe ich diese großen M¨anner beweint“343.

In ihre Kritik an den Schattenseiten der Haushofmeistererziehung und ei-ner stark von Rationalit¨at und Funktionalit¨at gepr¨agten Erziehung war die kritische Reflektion des eigenen Zimmers bereits eingebunden. Der Wunsch nach Selbstbestimmung und Eigent¨atigkeit wurde von den Autoren vielf¨altig und variationsreich thematisiert. Baczko berichtete:

”Die Abgeschiedenheit, worin ich lebte, vielleicht das best¨andige Sitzen, welches nachtheilig auf mei-nen Unterleib wirkte, machten mich zum Schw¨armer. Ich h¨orte auch manche Gespenstergeschichte; denn das Gesinde erz¨ahlte: es spukt im Hause

gewal-343Baczko, Ludwig von: Geschichte meines Lebens, K¨onigsberg 1824, S. 132

tig. Wenn ich so allein saß, dann br¨utete meine Phantasie, und ich horchte

¨angstlich nach jedem kleinen Ger¨ausch“344.

Auf der r¨aumlichen Ebene wurde in den bedr¨uckenden negativen Schilderun-gen der Raumatmosph¨are und in den Auseinandersetzungen um Arbeitshal-tung und -eifer das Bed¨urfnis von Heranwachsenden nach einem St¨uck Ei-genwelt und deren Respektierung thematisiert. Entsprechend pessimistisch deuteten viele der Autoren die beschriebene Kindhheitsphase als Leidenszeit und sahen den f¨ur sie eingerichteten Raum in erster Linie als Teil dieser Le-bensweise, der in diesem Sinne wichtige Bereiche ihrer Erfahrung und ihrer Erlebnisse pr¨asentierte. Somit k¨onnen auch Innenr¨aume, wie Lippitz345schon in bezug auf ¨außere Kindheitsr¨aume festgestellt hat, besondere Pl¨atze einer biographischen Landkarte markieren, die dem Lebensweg erst seine spezifi-sche Kontur geben.