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Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen durch das Gesundheitssystem

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 107-112)

2 Konzeptuelle Grundlagen und empirische Vorarbeiten

2.4 Bewältigung der Anforderungen bei Mitgestaltung und Veränderungsbedarf

2.4.3 Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen durch das Gesundheitssystem

Wie bereits gezeigt, beeinflussen auch die Möglichkeitsstrukturen des Gesundheitssystems die Mitgestaltungsmöglichkeiten von Selbsthilfeorganisationen (van de Bovenkamp und Trappenburg 2011; Baggott und Jones 2014a). Angemerkt sei, dass die Einbeziehung von Selbsthilfeorganisationen

auch für das Gesundheitssystem eine Herausforderung darstellt, da die etablierten Pfade der Politikgestaltung adaptiert werden müssen (Baggott et al. 2005).

Das Gesundheitssystem kann über Steuerung der Handlungsvoraussetzungen die Mitgestaltungs-möglichkeiten von Selbsthilfeorganisationen beeinflussen (Bobzien 2006). Die Steuerung der Rahmenbedingungen durch das Gesundheitssystem kann über Mitgestaltungsstruktur, -strategie und -kultur erfolgen (Bobzien 2006): Mitgestaltungsstrukturen sind gleichzusetzen mit Mitwirkungs-optionen (Bobzien 2006). Beispiele sind insbesondere gesetzliche Vorgaben, aber auch andere Partizipation ermöglichende, institutionelle Strukturen. Als hilfreich erweisen sich beispielsweise strukturelle Anreize, damit Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen/-organisationen selbstverständlich wird (Trojan 2016). Mitgestaltungsstrategien bezeichnen handlungsleitende Konzepte, um Mitgestaltung zu ermöglichen (Bobzien 2006). Exemplarisch kann die Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung (WHO 1986) genannt werden, die „Adovcacy“ als eine Handlungsstrategie der Gesundheitsförderung definiert. Mitgestaltungskultur kann die Mitgestaltungspolitik und -strategien nachhaltiger beeinflussen (als in umgekehrter Richtung) (Bobzien 2006). Das Schlagwort

„selbsthilfefreundliches Klima“ steht für eine für gemeinschaftliche Selbsthilfe aufgeschlossene und eine gemeinschaftliche Selbsthilfe anerkennende Kultur.

Neben der kulturellen Anerkennung von Selbsthilfeorganisationen kann der Staat nach Kelso (1978 zit.n. Geißler 2004, S. 41) Ressourcen bereitstellen und staatliche Entscheidungsstrukturen verändern, um die Organisation von schwachen Interessen (hier: kollektive Patienteninteressen) zu unterstützen.

Kulturentwicklung: Rechtliche Verankerung von Selbsthilfe-/Patientenbeteiligung

Das politische System kann die Zugangsmöglichkeiten zu Entscheidungsprozessen regeln – vom Zur-Kenntnis-nehmen der vorgetragenen Position von zivilgesellschaftlichen Organisationen, über regelmäßige Treffen und Einholen der Selbsthilfeorganisationsperspektive bis hin zu institutionalisierten Beteiligungsstrukturen (Geißler 2004). Eine stärkere Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen durch das politische System erhöht den Status dieser Organisationen (Löfgren, Leahy, et al. 2011; Baggott und Jones 2014a). Es kann aber auch die Interessenvertretungsfunktion von Selbsthilfeorganisationen schwächen, weil sie in institutionalisierte Prozesse gedrängt werden. Das Protestpotential wird abgeschwächt, da Selbsthilfeorganisationen offensive (voice) Maßnahmen vermeiden, um die gewonnene Anerkennung als legitime Vertretung nicht zu gefährden (van de Bovenkamp et al. 2010; van de Bovenkamp und Trappenburg 2011).

Im Gesundheitssystem kann eine Tendenz zur Verrechtlichung der Beziehung von Selbsthilfeorganisationen und Gesundheitssystemen abgelesen werden, wenngleich vielfach mit geringer Verbindlichkeit, d.h. sogenannten „Soft-Laws“ (Schweizerische Eidgenossenschaft 2015).

Zahlreiche internationale und europäische Deklarationen internationaler Organisationen, wie der Vereinten Nationen, aber auch des Europarats, plädieren seit den 1970ern für eine Beteiligung von Patient/inn/en in unterschiedlichen Phasen von Entscheidungsprozessen (u.a. WHO 1978, 1994, 1996; Council of Europe 2001; Vereinte Nationen 2006). Neben diesen übernationalen Bekenntnissen existieren in einzelnen Ländern auch rechtliche Regelungen von Patientenbeteiligung.

In vielen Ländern ist die Einbeziehung von Nutzerinnen und Nutzern der Gesundheitsversorgung zu einem wichtigen politischen Ziel geworden (Pyke et al. 1991 zit.n. El Enany et al. 2013, S. 24), um diese nachhaltig zu erhalten und zu verbessern (Nickel et al. 2009). Umfassende und gesetzlich geregelte Beteiligungsmöglichkeiten stellen in den meisten Ländern eher neuere Entwicklungen dar (seit den 1990ern) (Prognos 2011). In vielen Ländern gibt es Beispiele von gesetzlich verankerter Patienten-beteiligung zumindest in Teilbereichen (Schweizerische Eidgenossenschaft 2015). Die rechtliche Absicherung und der Umfang von Beteiligungsmöglichkeiten wird in der Literatur teilweise unterschiedlich eingeschätzt: Während die Prognos-Studie (2011) Frankreich (neben Schottland) als ein Beispiel für ein Land mit Beteiligungsmöglichkeiten auf allen Ebenen des Gesundheitssystems anführt, verweisen Akrich et al. (2008) auf die unterschiedliche Institutionalisierung: Von keiner Einbeziehung bis Entscheidungsmacht.

Die Etablierung einer Möglichkeitsstruktur für Patientenbeteiligung ist nötig, aber nicht ausreichend für funktionierende Patientenbeteiligung (van de Bovenkamp et al. 2010; Christiaens et al. 2012).

Auch zu viele Beteiligungsmöglichkeiten können ein Problem darstellen, da Selbsthilfeorganisationen – wie van de Bovenkamp et al. (2010) am Beispiel der Niederlande zeigen – diesen aus Gründen der Überforderung nicht nachkommen können.

Strukturentwicklung: Bereitstellung finanzieller Ressourcen

Sowohl unterstützende als auch mitgestaltende Aktivitäten von Selbsthilfeorganisationen erfordern Ressourcen. In vielen Ländern sind Selbsthilfe-/Patientenorganisationen von externen Fördergebern/

Sponsoren abhängig (Geißler 2004; Baggott et al. 2005; Baggott und Forster 2008; Baggott und Jones 2014a; Keizer und Bless 2010), um die eigene Arbeit weiterzuentwickeln.

Öffentliche Förderungen von Selbsthilfe-/Patientenorganisationen werden als wichtiger Einflussfaktor für erfolgreiche Beteiligung betrachtet (Prognos 2011; Christiaens et al. 2012). In mehreren Ländern erfolgt bereits eine öffentliche Förderung von Selbsthilfe-/Patientenorganisationen (u.a. den Niederlanden, Deutschland) (Schipaanboord et al. 2011; Kofahl, Dierks, et al. 2016). In Deutschland ist eine öffentliche Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe über die Sozialversicherung seit 1993 möglich. Seit 2016 fließen pro Versicherten fließen 1,05 Euro in die Selbsthilfeförderung, welches ein Volumen von 73 Millionen Euro ergibt. Obgleich dies in der Literatur als international einzigartig beschrieben wird, kommt aufgrund der Vielzahl an organisationen (an die 100.000) bei den einzelnen Selbsthilfegruppen/-organisationen meist wenig an (Kofahl, Dierks, et al. 2016).

Öffentliche Förderungen stellen aber auch eine gewisse Steuerungsmöglichkeit für das Gesundheits-system dar. Die Zusprache/Vergabe von öffentlichen Ressourcen kann selektiv erfolgen (von Winter und Willems 2000): Unterstützung erhalten insbesondere jene Selbsthilfeorganisationen, die ihre Leistung gegenüber dem Gesundheitssystem deutlich machen können („unabkömmlich erscheinen“) (Offe 1974) – teils unabhängig von der Vertretung gemeinsamer Interessen. Dadurch werden Selbsthilfeorganisationen benachteiligt, deren Themen nicht auf der Agenda des Systems stehen (Offe 1974). Durch öffentliche Förderungen drückt sich auch aus, ob vorrangig Unterstützung oder Interessenvertretung „erwünscht“ ist (vgl. Bobzien 2006) bzw. als Gegenleistung „erwartet“ wird.

Fördert der Staat unterstützende Aktivitäten der gemeinschaftlichen Selbsthilfe (z.B. Erfahrungs-austausch in Gruppen, Fremdhilfe, Beratung) kann dies die Herausbildung einer dienstleistenden Selbsthilfe begünstigen und gemeinschaftliche Selbsthilfe als neue „Versorgungsstruktur“ in das Gesundheitsversorgungssystem integrieren (vgl. Haller und Gräser 2012). Damit kann auch das Versorgungssystem von den Leistungen der Selbsthilfeorganisationen abhängig werden (Baggott und Jones 2014a). Die Bezeichnung von gemeinschaftlicher Selbsthilfe als vierte Säule der Gesundheits-versorgung drückt dies bildlich aus (vgl. Trojan 2006).

„Wer fördert, der kontrolliert!“ (Schulz-Nieswandt et al. 2015, S. 22)

Entsprechend können (finanzielle) Förderungen die Autonomie der Selbsthilfeorganisationen einschränken und sie zur Erfüllung gewisser Kriterien drängen, um sich für eine Förderung zu qualifizieren (van de Bovenkamp et al. 2010; van de Bovenkamp und Trappenburg 2011; Geißler 2011; Schulz-Nieswandt und Langenhorst 2015). Dies kann in weiterer Folge zu einer Professionalisierung und Entfremdung vom ursprünglichen Selbsthilfe-Ansatz führen (Wohlfahrt 2010). Dies gilt sowohl für Gelder aus der Wirtschaft als auch für öffentliche Förderungen (Barnes 1999; Haller und Gräser 2012) (vgl. hierzu auch Kapitel 2.4.2). Bei (öffentlichen) Förderungen kommt das Risiko des Rückzugs anderer potentieller Fördergeber hinzu (Matzat 2009). Zudem sind öffentliche Förderungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gefährdet (Grunow 2009).

Neben der Grundsatzfrage der Förderung von Selbsthilfeorganisationen sei auch auf ein weiteres Problem verwiesen: Auch die Verteilung der Fördergelder im Selbsthilfefeld ist nicht unproblematisch. Neben der Beauflagung von bestimmten Förderkriterien können Fördergeber versucht sein, nicht die gesamten Fördermittel auszugeben oder (aufgrund hoher Anforderungen) mit nur wenigen förderbaren Projekten konfrontiert sein, so dass die Fördergelder nicht vollständig ausgeschöpft werden (Geißler 2011).

Neben öffentlichen Förderungen werden in der Literatur insbesondere auch Förderungen durch die Wirtschaft – kritisch – diskutiert. Wenngleich bislang wenig über die Beziehung von Selbsthilfegruppen20 und der Pharmaindustrie bekannt ist, scheinen zumeist finanzielle

20 Im Original: Health consumer groups

Zuwendungen für Selbsthilfegruppen/-organisationen im Zentrum zu stehen (Baggott et al. 2005).

Abgeleitet aus diversen Studien berichtet Rose (2013), dass zwischen 30 und 71% der Patientenorganisationen finanzielle Beziehungen mit der Pharmaindustrie aufweisen. Hinsichtlich der Fördersumme machen Pharmagelder weniger als 10% des Organisationsbudgets aus, so dass sich die Organisationen nicht darauf verlassen (Jones 2008). Kritisch angemerkt sei hingegen die häufig intransparente Darstellung der Geldflüsse auf beiden Seiten (Baggott et al. 2005; Jones 2008;

Colombo et al. 2012; Wild et al. 2015). Das Risiko der Einflussnahme ist Selbsthilfeorganisationen nicht immer bekannt bzw. bewusst (Schubert und Glaeske 2006).

Wenngleich die Bereitstellung externer Ressourcen notwendig ist, werden sowohl öffentliche als auch privat-wirtschaftliche Förderungen auch kritisch in der Literatur diskutiert.

Strukturentwicklung: Unterstützungsstrukturen

Neben der Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen durch das Steuerungsmedium Geld können auch neue Strukturen zur Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen geschaffen werden oder auf etablierte Strukturen aufgebaut werden. Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen: Es können eigene Einrichtungen geschaffen werden zur allgemeinen Unterstützung (Selbsthilfeunterstützungs-einrichtungen) oder unterstützende Strukturen für konkrete Beteiligungsprozesse (z.B. Gremium) eingeführt werden.

Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen werden (in Deutschland) als prädestiniert erachtet, den Aufbau einer strukturierten Kooperation von Selbsthilfegruppen/-organisationen und Gesundheits-einrichtungen zu fördern (Trojan und Hildebrandt 1990). SelbsthilfeunterstützungsGesundheits-einrichtungen, Selbsthilfegruppe/-organisation und Kooperationspartner aus dem System bilden ein Kooperations-dreieck (Bobzien 2006). Sie leiten die Kooperation zwischen Selbsthilfegruppen/-organisationen und Gesundheitssystem ein und stehen als Reflexionspartner zur Verfügung und gestaltet den Kooperationsprozess aktiv mit (Bobzien und Steinhoff-Kemper 2013). Sie können auch als

„Überwacher“ der Kooperation Bedenken formulieren, wenn sich gemeinschaftliche Selbsthilfe in Richtung einer kostengünstigen bzw. das professionelle System entlastenden Versorgungsstruktur entwickelt (Bobzien et al. 2006 zit.n. Bobzien und Steinhoff-Kemper 2013, S. 17).

Zusätzlich existieren in einigen Ländern eigene Agenturen/Einrichtungen/Stabstellen zur Unterstützung der Kooperationspartner und der Beteiligung von Betroffenenorganisationen (Prognos 2011; Trojan, Nickel, et al. 2012; Forster 2015). Für die Schweiz wird empfohlen, eine außerparlamentarische Kommission oder ein Büro für Patientenanliegen zu etablieren (Schweizerische Eidgenossenschaft 2015).

Eine weitere, neu zu etablierende Unterstützungsstruktur sind Moderator/inn/en in jenen Gremien, in denen sich Selbsthilfeorganisationen beteiligen bzw. beteiligt werden. Die/der Vorsitzende eines Gremiums muss über Hintergrund des Themas, Konfliktlinien des Themas und über

Beteiligungs-erfahrungen der Beteiligten informiert sein. Zudem müssen sie sich an die Regeln halten und dürfen niemanden bevorzugen. Stockende Diskussionen müssen belebt und eigene Haltung reflektiert werden können (Nanz und Fritsche 2012; Matzat 2013).

Die vorangegangenen Ausführungen in Kapitel 2.4.2 und 2.4.3 bezogen sich auf die Möglichkeiten, die gemeinschaftliche Selbsthilfe bzw. Gesundheitssystem jeweils haben, um die Handlungs-voraussetzungen von mitgestaltenden Selbsthilfe-/Patientenorganisationen zu verbessern und die Anforderungen bei Mitgestaltung zu reduzieren. In der Folge wird aufgezeigt, dass auch beide gemeinsam die Handlungsvoraussetzungen und Anforderungen adressieren können.

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 107-112)

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