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Patientenbeteiligung im österreichischen Gesundheitssystem

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 116-119)

2 Konzeptuelle Grundlagen und empirische Vorarbeiten

2.5 Mitgestaltung von Selbsthilfeorganisationen im österreichischen Gesundheitssystem

2.5.2 Patientenbeteiligung im österreichischen Gesundheitssystem

„(1) Im Sinne der Patientenorientierung ist die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung so zu stärken, dass die aktive Beteiligung der Betroffenen in Entscheidungsprozessen ihren Gesundheitszustand betreffend möglich ist. Dabei sind auch die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitsbereich anzuwenden.“

Wenngleich dieser Absatz insbesondere den Unterstützungsbedarf von einzelnen Patient/inn/en aufzeigt, um sich aktiv beteiligen zu können, kann daraus eine Absichtserklärung herausgelesen werden, Patientenbeteiligung in Österreich zu forcieren.

2.5.2 Patientenbeteiligung im österreichischen Gesundheitssystem

Die meisten Österreicher/innen (79%) bewerten ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut (Statistik Austria 2015, Gesundheitsbefragung 2014). Gut ein Drittel (36%) lebt mit einer dauerhaften Krankheit oder einem chronischen Gesundheitsproblem (Statistik Austria 2016). Schätzungsweise 95% der Alltagsbeschwerden werden ohne professionelle Hilfe versorgt (Straka 2004 zit.n. Nowak et

al. 2011, S. 24). Auch bei chronischen Erkrankungen erfolgt der überwiegende Teil des Krankheits-managements durch die Erkrankten selbst (z.B. Medikamenteneinnahme). Die Kranken-versorgungsdienste werden nur bei Komplikationen oder nach Vereinbarung aufgesucht. Zudem werden 80-85% der Pflegebedürftigen alleine von Familienangehörigen oder durch Familien-angehörige und mobile Diensten betreut (Nowak et al. 2011).

Aufgrund der Pflichtversicherung für (un)selbstständig Erwerbstätige ist fast die gesamte österreichische Bevölkerung (>99%) krankenversichert (Hofmarcher 2013). Krankenversicherte haben prinzipiell freie Wahl zwischen Leistungserbringern und verfügen weitgehend über unbeschränkten Zugang zu allen Versorgungsstufen. Dies erschwert es aber teilweise, die richtige Versorgung zu finden (Hofmarcher 2013). Zugang zu und Finanzierung von Sachleistungen ist in Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien geregelt, regional aber unterschiedlich, so dass es je nach Bundesland zu Unterschieden kommt (Hofmarcher 2013). Insgesamt ist die Zufriedenheit der Österreicher/innen mit dem Gesundheitssystem hoch.

Während die individuelle Patientenbeteiligung bei Diagnose und Behandlung rechtlich als gut abgesichert gilt (Hofmarcher 2013), ist kollektive (Patienten-)Beteiligung – nicht nur im Gesundheitssystem – in Österreich ein randständiges Thema (Marent und Forster 2013; Rosenberger und Stadlmaier 2014; Forster 2015). Das Gesundheitssystem ist geprägt von einer paternalistischen Kultur und hat eine Tradition von stellvertretender Interessenvertretung (Forster 2015).

Patienteninteressen gelten „über die politischen Institutionen des Bundes und der Länder sowie der Sozialversicherungen als gut vertreten“ (Forster und Nowak 2006). In den letzten Jahrzehnten lässt sich aber allgemein (nicht nur im Gesundheitssystem) eine Zunahme an direkter Beteiligung von Bürgerinnen/Bürgern und Patient/inn/en in Österreich beobachten (Rosenberger und Stadlmaier 2014).

In den letzten Jahren wurden internationale Soft laws (u.a. WHO 2008) von Österreich ratifiziert.

Diese verpflichten Österreich zur Beteiligung von Patient/inn/en. Zudem wurden einige (heterogene) Versuche unternommen (Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger 2010;

Bundesministerium für Gesundheit 2012, 2014b), kollektive Patientenbeteiligung zu forcieren (vgl.

Marent und Forster 2013; Spitzbart 2013). Dennoch fehlt eine kohärente und koordinierte Beteiligungsstrategie (Forster und Nowak 2006; Marent und Forster 2013; Steingruber et al. 2014).

Die Interessen der Patient/inn/en werden im österreichischen Gesundheitssystem bislang vorrangig indirekt vertreten: Insbesondere Ärztekammer, Sozialversicherung und Patientenanwaltschaften beanspruchen die Interessen von Patient/inn/en zu vertreten.

Patientenanwaltschaften sind gemäß einer Vereinbarung zur Sicherstellung der Patientenrechte (kurz: Patientencharta26) zur Vertretung von Patienteninteressen einzurichten. Damit sind

26 exemplarisch für Kärnten

anwaltschaften gesetzlich zur Vertretung von Patienteninteressen legitimiert (Forster und Nowak 2006; Hofmarcher 2013). Sie sind zur Zusammenarbeit mit mitgestaltenden Selbsthilfegruppen angehalten:

Artikel 29 Patientencharta

(1) Zur Vertretung von Patienteninteressen sind unabhängige Patientenvertretungen einzurichten und mit den notwendigen Personal- und Sacherfordernissen auszustatten. Die unabhängigen Patientenvertretungen sind bei ihrer Tätigkeit weisungsfrei zu stellen und zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Es ist ihnen die Behandlung von Beschwerden von Patienten und Patientinnen und Angehörigen, die Aufklärung von Mängeln und Mißständen und die Erteilung von Auskünften zu übertragen. Patientenvertretungen können Empfehlungen abgeben.

(2) Die unabhängigen Patientenvertretungen haben mit Patientenselbsthilfegruppen, die Patienteninteressen wahrnehmen, die Zusammenarbeit zu suchen.

Patientenanwaltschaften wird ein Stellungnahmerecht und Selbsthilfedachorganisationen ein Anhörungsrecht in patientenrelevanten Begutachtungsverfahren zugesprochen:

Artikel 30 Patientencharta:

(1) Es ist sicherzustellen, dass unabhängigen Patientenvertretungen Gelegenheit geboten wird, vor Entscheidungen in grundlegenden allgemeinen patientenrelevanten Fragen ihre Stellungnahme abzugeben. Dies gilt insbesondere vor der Errichtung neuer stationärer und ambulanter Versorgungsstrukturen, für die öffentliche Mittel eingesetzt werden, für die Durchführung von Begutachtungsverfahren zu Gesetzes- und Verordnungsentwürfen sowie für grundlegende Planungsvorhaben.

(2) Dachorganisationen von Patientenselbsthilfegruppen ist Gelegenheit zu geben, in Begutachtungsverfahren zu patientenrelevanten Gesetzes- und Verordnungsentwürfen gehört zu werden.

Zudem werden vereinzelt Selbsthilfeorganisationen – auch mit und ohne gesetzlicher Verankerung – in Gremien und Arbeitsgruppen einbezogen (vgl. Rojatz 2011; Forster 2015). Letzteres verweist auch auf den Mangel an definierten Kriterien für die Auswahl von Patientenvertretern27 (vgl. Steingruber et al. 2014). In einer freiwilligen, nationalen Norm wird aber der Begriff „Patientenvertretung“

definiert und darunter sowohl gesetzlich legitimierte Interessenvertretungen von Patient/inn/en (z.B. Patientenanwaltschaften) als auch jene mit einem direkt demokratischen Auftrag (z.B.

Selbsthilfegruppen und Selbsthilfedachverbände) verstanden (vgl. ÖNORM K 1910: 2016 07 01).

Der Unterstützungsbedarf von Patientenvertreterinnen/-vertretern aus dem Kreis der gemeinschaftlichen Selbsthilfe wurde von öffentlicher Seite erkannt. Das Bundesministerium für Gesundheit hat ein Pilotprojekt beauftragt (Steingruber et al. 2014). Im Zuge dessen wurde ein eineinhalbtägiges Curriculum für Patientenvertreter/innen entwickelt. Aus dem Projekt gingen Handlungsempfehlungen für die Unterstützung von Patientenvertreterinnen/-vertretern hervor, welche die Notwendigkeit von Kapazitätsaufbau durch Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen, Information und Informationsaustausch und Motivation der Patientenvertreter/innen aufzeigt. Die gesetzliche Verankerung von kollektiver Patientenbeteiligung wird implizit als langfristiges Ziel angeführt (Bundesministerium für Gesundheit 2014a).

27 Dies gilt auch für andere Interessensgruppen.

Im Zuge der Umsetzung von Rahmengesundheitsziel 3 „Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken“ beauftragte die österreichische Selbsthilfedachorganisation, ARGE Selbsthilfe Österreich, ein Gutachten zur Bürger- und Patientenbeteiligung in Österreich (Forster 2015). Mit dem Gutachten von Forster (2015) liegt ein Vorschlag für eine umfassende, stufenweise zu realisierende Beteiligungsstrategie vor. Aufgezeigt werden auch erforderliche unterstützende Maßnahmen, darunter die Bereitstellung von Ressourcen, die Errichtung einer nationalen Kompetenzstelle für Bürger- und Patientenbeteiligung zur Prozessbegleitung und letztlich auch die rechtliche Verankerung kollektiver Patientenbeteiligung. Aus dem Gutachten zur Patientenbeteiligung wird resümiert:

„Lektionen [können, DR] daher lauten: gezieltere statt breitflächige Beteiligung; verschiedene Methoden der Beteiligung statt ausschließlicher Gremienbeteiligung; pluralistischere Repräsentation in Richtung stärkerer Bürgerbeteiligung; und mehr Beteiligung auf der Mesoebene der Regionen und Organisationen der Gesundheitsversorgung.“ (Forster 2016a, S. 122)

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 116-119)

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