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Organisationsstruktur und Ressourcen von Selbsthilfeorganisationen

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 177-188)

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4.2 Handlungsvoraussetzungen in Selbsthilfeorganisationen

4.2.2 Organisationsstruktur und Ressourcen von Selbsthilfeorganisationen

Die Möglichkeitsstruktur der Selbsthilfeorganisationen wird über die Organisations- und Kommunikationsstruktur, Mitgliedschaften der Selbsthilfeorganisationen sowie verfügbare Ressourcen abgebildet.

Die Organisationsstrukturen und Kommunikationsräumen von Selbsthilfeorganisationen geben einen Hinweis auf Möglichkeiten von strukturierter Reflexion. Im Theorieteil wurde mit Freire argumentiert, dass Reflexion wesentlich ist, um Handlungen bewusst zu gestalten (vgl. Kapitel 2.1.3).

Inwiefern die Organisationsstrukturen und Kommunikationsräumen der Selbsthilfeorganisationen tatsächlich für Reflexionsprozesse genutzt werden, kann dem generierten Datenmaterial nicht entnommen werden. Allerdings geben ihre Organisationsstrukturen und Kommunikationsräume Hinweise darauf, welche Möglichkeiten in Selbsthilfeorganisationen für den Austausch mit den Mitgliedern grundsätzlich vorhanden sind. Daher erscheint es gerechtfertigt, die Organisationsstrukturen von Selbsthilfe-organisationen genauer zu beschreiben.

Die Organisations- und Kommunikationsstrukturen der Selbsthilfeorganisationen unterscheiden sich teils deutlich voneinander. Daher wird auf die interne und externe Ausdifferenzierung ihrer Strukturen eingegangen sowie auf die Strukturen für den Austausch zwischen Vereinsführung und Mitgliederbasis. Zudem zeigen sich Überschneidungen mit der Frage der verfügbaren Ressourcen von Selbsthilfeorganisationen, da auch auf Ressourcen des aufgebauten Netzwerkes zurückgegriffen werden kann.

Interne Organisationsstruktur

Formal handelt es sich mit einer Ausnahme bei allen untersuchten Selbsthilfeorganisationen um Vereine. Bei der Ausnahme handelt es sich um die Landesstelle einer Bundesorganisation ohne eigenen Vereinsstatus. Die meisten53 untersuchten Selbsthilfeorganisationen verbindet, dass (un)mittelbar Betroffene die Mehrheit im Vorstand bilden und so über die strategische Ausrichtung in der Selbsthilfeorganisation entscheiden (=Selbstorganisation). Ihre Organisationsstruktur beschreiben die Selbsthilfeorganisationen zumeist als Netzwerk (Plattform) mit Sprachrohrfunktion, welches ihre sozial- (Plattform) und systemintegrative (Sprachrohr) Funktion zum Ausdruck bringt.

Weitere Beschreibungen sind: Initiative, Expertenorganisation und lernende Organisation.

Nur einzelne Selbsthilfeorganisationen verfügen über ein Organigramm. Dennoch lassen sich einige gemeinsame Strukturen erkennen: Als Vereine (mit Ausnahme der erwähnten Landesstelle) verfügen alle Selbsthilfeorganisationen über einen ehrenamtlichen Vorstand und eine Generalversammlung, die sich aus den Mitgliedern der Selbsthilfeorganisation zusammensetzt.

Strukturell kann weiter unterschieden werden, ob die Selbsthilfeorganisation neben dem ehrenamtlichen Vorstand auch über hauptamtliche Mitarbeiter/innen verfügt. Idealtypisch kann damit ein ehrenamtlicher und hauptamtlicher Organisationszweig unterschieden werden.

Selbsthilfe-organisationen ohne hauptamtliche Mitarbeiter/innen (Geschäftsführung) haben teilweise eine stärker differenzierte Aufgabenteilung unter den Mitgliedern als Vereine mit Geschäftsführung. Abbildung 22 veranschaulicht die Organisationsstruktur der Selbsthilfeorganisationen, wobei die bei allen Selbsthilfeorganisationen anzutreffenden Strukturen grau hervorgehoben sind.

53 Alle mit einer Ausnahme.

Abbildung 22: Organisationsstruktur von Selbsthilfeorganisationen

Zunächst zum ehrenamtlichen Organisationszweig: Alle Selbsthilfeorganisationen verfügen über einen ehrenamtlichen Vorstand. In einzelnen Fällen verfügt die Selbsthilfeorganisation über einen erweiterten Vorstand, der sich aus Mitgliedern zusammensetzt und/oder Professionellen, die sich für die Selbsthilfeorganisation einsetzen. Letzteres wird vereinzelt auch mit einer Beiratsfunktion gleichgesetzt. Manche Selbsthilfeorganisationen haben einen (Fach-)Beirat, der sich zumeist aus Fachleuten (Ärzt/inn/en, Jurist/inn/en) zusammensetzt. Seltener besteht er aus vertreterinnen/-vertretern der eigenen Selbsthilfeorganisation oder von anderen Selbsthilfe-organisationen. Darüber hinausgehende Strukturen sind in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden:

Sofern weitere Strukturen existieren, nehmen diese die Form von internen Fachbereichen (z.B. für Öffentlichkeitsarbeit, Finanzierung), Arbeitsgruppen oder internen Allianzen an, um inhaltliche oder thematische Schwerpunkte besser bearbeiten zu können. Einzelne Mitglieder werden bzw. sind mit ausgewählten Agenden (z.B. Außenagenden, Mitarbeiter/Mitglieder, Strategie, Öffentlichkeitsarbeit, Dienstleistung, Finanzen, Administration) betraut, die über die klassischen Vorstandfunktionen (Vorstandsvorsitzende/r; Kassier/in, Schriftführer/in und deren Stellvertreter/innen) hinausgehen. In anderen Fällen gibt es auch eigene interne Arbeitsgruppen und Fachbereiche zu ausgewählten Themen-/Aufgabenbereichen.

Über einen hauptamtlichen Organisationszweig und damit über hauptamtliche Mitarbeiter/innen verfügt der Großteil der Selbsthilfeorganisationen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Sofern Mitarbeiter/innen vorhanden sind, gibt es zumeist eine Geschäftsführung bzw. Büroleitung, welche die operativen und administrativen Agenden („das Tagesgeschäft“) über hat und auch die Selbsthilfeorganisation nach außen vertritt (z.B. bei Veranstaltungen, in Gremien). Auch die Aufbereitung von Wissen und die Erstellung von Konzepten zählen zu ihren Aufgaben. Vereinzelt

Generalversammlung

Vorstand

(Fach-)Beirat Fachbereiche/

Arbeitsgruppen erweiterter

Vorstand

Geschäftsführung/

Büroleitung

Mitarbeiter/innen für operative und Verwaltungsaufgaben

Mitarbeiter/innen für

Dienstleistungs-agenden

Graue Hervorhebung: Bei allen Selbsthilfeorganisationen vorhanden

Ehrenamtlicher Organisationszweig Hauptamtlicher Organisationszweig

wird diese Aufgabe auch von Vereinsmitgliedern wahrgenommen, die bei der Selbsthilfeorganisation angestellt sind. Mitarbeiter/innen werden vereinzelt auch rein für Verwaltungsaufgaben angestellt – teilweise auch nur fallweise bei erhöhtem Arbeitsaufwand (z.B. bei großen Aussendungen).

Mitarbeiter/innen (häufig mit professionellen Ausbildungshintergrund) werden auch – und teilweise ausschließlich – für Dienstleistungsagenden der Selbsthilfeorganisationen (z.B. Selbsthilfe-unterstützung, individuelle Beratung) eingestellt. Bei diesen Angeboten handelt es sich vorrangig um projektfinanzierte Beratungstätigkeiten und/oder Schulungen, bei welchem die Selbsthilfe-organisation (der Verein) als Projektträger fungiert.

„Ja, die [Selbsthilfeorganisation, anonymisiert DR] ist der Träger [Name der Organisationseinheit für Dienstleistungen, anonymisiert DR].“ [07 VO: 14]

Der Vorstand behält die Verantwortung über das Vereinsvermögen und dessen Verwaltung, wobei Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern teilweise die Mittelakquise übertragen wird. Mitgestaltungs-aktivitäten (Vernetzung, Feldbeobachtung, Öffentlichkeitsarbeit, Interessenvertretung) werden mit unterschiedlicher Gewichtung von Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern und Vorstandsmitgliedern wahrgenommen. Die Repräsentation der Selbsthilfeorganisation bei Veranstaltungen wird häufiger von Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern wahrgenommen.

Neben der Aufgabenverteilung von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Selbsthilfeorganisationen interessiert auch, welche Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen die Selbsthilfeorganisationen etabliert haben. Sie geben auch (erste) Hinweise auf mögliche Räume für Dialog und Reflexion innerhalb von Selbsthilfeorganisationen.

Formale Kommunikationsräume innerhalb von Selbsthilfeorganisationen

Die formalen Kommunikationsstrukturen lassen sich danach unterscheiden, ob es sich vorrangig um einen Austausch der „Leitungsebene“ der Selbsthilfeorganisation (Vorstandsmitglieder und hauptamtliche Mitarbeiter/innen und teilweise Selbsthilfegruppenkontaktpersonen) handelt oder um einen Austausch der Leitungsebene mit (potentiell) allen Mitgliedern der Selbsthilfeorganisation.

Abbildung 23 fasst die identifizierten formalen Kommunikationsräume zusammen.

Abbildung 23: Formelle Austauschforen innerhalb einer Selbsthilfeorganisation

Kommunikationsräume der Leitungsebene

Hauptsächliche Kommunikationsräume der Leitungsebene bilden die Vorstandssitzungen. Daneben kommt es zu informellen Gesprächen zwischen Vorstand(-svorsitzenden) und – sofern vorhanden – Geschäftsführung und auch zwischen Vereinsfunktionär/inn/en.

Vorstandssitzung

Der Vereinsvorstand der untersuchten Selbsthilfeorganisationen umfasst zwischen vier und 18 Personen sowie zwei Rechnungsprüfer/innen. Sofern vorhanden, nimmt die Geschäftsführung zumeist mit beratender Stimme an den Sitzungen teil. Die Tagungsfrequenz des Vorstandes ist unterschiedlich und variiert zwischen den Selbsthilfeorganisationen von monatlich bis einmal im Jahr. Bei Bedarf können Beschlüsse auch per Umlaufbeschluss gefasst werden.

„Wir haben relativ, also finde ich, für einen Vorstand, relativ enge Termine. Also einmal monatlich und dann drei Stunden, das ist relativ viel Zeit. Aber natürlich gibt es manche Dinge, die sind dazwischen, die man dann irgendwie per wo sozusagen per Mail, Rundmail beschließt.“ [09 VO: 972-975]

Themen, die innerhalb des Vorstandes besprochen werden, sind u.a. strukturelle Angelegenheiten, wie die Aufnahme neuer Mitglieder, die Besetzung des Vorstandes, Finanzielles, medizinische Neuigkeiten, aber auch strategische Fragen (Ziele, interne Informationspolitik) sowie mitgestaltungs-bezogene Fragestellungen.

Erweiterte Vorstandssitzungen

Viele Selbsthilfeorganisationen verfügen über einen erweiterten Vorstand. Diesem gehören bei Selbsthilfeorganisationen auf Landesebene Selbsthilfegruppenkontaktpersonen und bei Selbsthilfe-organisationen auf Bundesebene Vertreter/innen der Mitgliedsvereine aus den Bundesländern an.

Zum erweiterten Vorstand zählen zumeist auch der Beirat und/oder die Kontaktpersonen aus den Regionen. Im Fall einer Selbsthilfeorganisation steht die Teilnahme an erweiterten Vorstandssitzungen allen interessierten Personen (auch Nicht-Mitgliedern) offen.

„Die Treffen sind offen für Menschen mit und ohne [Bezeichnung des gesundheitlichen/sozialen Problems, anonymisiert DR] genauso. Aber es entwickelt sich einfach mit der Zeit, dass da so ein

Kommunikationsräume der Leitungsebene

Vorstandssitzungen Erweiterte Vorstandssitzungen

(Fach-)Beirat Austausch mit Selbsthilfe-gruppenkontaktpersonen

Kommuniationsräume von Vereinsleitung und Mitgliedern

Generalversammlung Vernetzungstreffen

Tagungen Schulungen

Ausflüge

Stammkern ist, der was sehr viel auch mitwirkt bei den Aktivitäten, was machen wir, wo geht’s hin, wo braucht die [Selbsthilfeorganisation, anonymisiert DR] Unterstützung?“ [07 VO: 92-65]

Die Sitzungen finden zusätzlich zu den Vorstandssitzungen in einem Intervall von dreimal im Monat bis einmal im Jahr statt. Bei den erweiterten Vorstandssitzungen werden u.a. Inhalte der Vorstandssitzung weitergegeben. Des Weiteren werden Themen sondiert und Handlungen hinterfragt. Die Arbeitsstruktur und Zukunftsplanung (Vorausplanung) werden ebenso thematisiert wie Informationen aus den einzelnen Regionen/Bundesländern.

(Fach-)Beirat

Die Selbsthilfeorganisationen verfügen in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Zusammensetzung über einen (Fach-)Beirat: Knapp die Hälfte der Organisationen verfügt über einen Beirat. Dieser setzt sich zumeist aus Angehörigen des Gesundheits- und Sozialsystems (zumeist Ärzten/Ärztinnen, Jurist/inn/en und anderen Fachkräften des Gesundheits- und Sozialsystems) zusammen. Seltener besteht er aus Selbsthilfevertreterinnen und -vertretern (anderer Selbsthilfe-organisationen) oder aus Selbsthilfevertreter/innen und Fachkräften des Gesundheits- und Sozialsystems. Aus der Zusammensetzung des Beirates lässt sich mit Rückbezug auf die Kategorien Fachwissen- und Erfahrungswissen eine Orientierung an lebensweltlichem Erfahrungswissen (bei einem Beirat mit Selbsthilfevertreterinnen/-vertretern oder bei Fehlen eines Beirates) und/oder eine Orientierung an systembezogenem Fachwissen (bei einem Beirat mit Fachkräften des Gesundheits- und Sozialsystems) ablesen.

Der Beirat hat in allen Fällen eine beratende Funktion und wird bei Bedarf vom Vorstand hinzugezogen. Teilweise stehen die Fachbeiräte auch einzelnen Mitgliedern, z.B. bei medizinischen oder juristischen Fragen, zur Verfügung.

Andere Selbsthilfeorganisationen ziehen ebenfalls fallweise externe Expert/inn/en hinzu, lehnen aber einen fixen Beirat ab bzw. forcieren diesen nicht:

„Es gibt Beirate, aber wie gesagt, […], sie helfen uns alle und wir führen auch das jetzt gar nicht mehr so offensiv weiter, dass wir sagen, wir fragen die Leute, ob sie Beiräte sind, weil das steht halt dabei.“

[03 VO: 257-259]

Austausch mit Selbsthilfegruppenkontaktpersonen

Vereinzelt wird auch von Workshops zwischen dem Vorstand der Selbsthilfeorganisation und Selbsthilfegruppenkontaktpersonen berichtet. Diese dienen der Erörterung gemeinsamer Anliegen, aber auch als Ausdruck von Wertschätzung für die Arbeit der Selbsthilfegruppenkontaktpersonen.

Besprochen werden Ideen für Themen der kommenden Selbsthilfegruppentreffen.

„Die Workshops […] dienen dem kameradschaftlichen Austausch von Ideen und der Planung gemeinsamer Aktionen.“ [03 Zeitung der Selbsthilfeorganisation]

Kommunikationsräume von Vereinsleitung und Mitgliedern

Unter den Kommunikationsräumen von Vereinsleitung und Mitgliedern bildet die Mitgliederversammlung (Generalversammlung) das höchste Entscheidungsgremium einer Selbsthilfe-organisation. Die anderen Kommunikationsräume sind weit informeller gestaltet und

umfassen Vernetzungstreffen, Tagungen, Schulungen und Ausflüge. Die Aufzählung zeigt, dass diese Strukturen in unterschiedlichem Ausmaß auch mehreren Zwecken (Informationsaustausch, Lernen, Geselligkeit, …) dienen können. Zusätzlich haben Mitglieder auch die Möglichkeit, sich jederzeit an den Vorstand oder die Mitarbeiter/innen der Selbsthilfeorganisation zu wenden. Zudem kommt es zu informellen Gesprächen und (zufälligen) Begegnungen im Büro der Selbsthilfeorganisation oder bei anderen Veranstaltungen. Wie bereits bei den Kommunikationsstrukturen der Vereinsleitung, werden nun die einzelnen Kommunikationsräume von Vereinsleitung und Mitgliedern näher beschrieben.

Generalversammlung

Alle Selbsthilfeorganisationen verfügen statutengemäß über ein Organ zur gemeinsamen Willensbildung der Vereinsmitglieder (Generalsversammlung, Mitgliederversammlung). Dieses tritt in einem Abstand von ein bis vier Jahren zusammen.

„Und es wird, im Herbst ist dann Jahreshauptversammlung, da werden dann die Weichen gestellt für die nächsten vier Jahre.“ [11 VO: 155-157]

Teilnahmeberechtigt sind entweder alle Mitglieder oder einzelne von diesen bestimmte Personen (Delegierte). Stimmberechtigt sind in den meisten Fällen nur die ordentlichen Mitglieder. Im Rahmen der Mitgliederversammlungen erfolgen Beschlussfassungen zu finanziellen (u.a. über Voranschlag, Rechnungsabschluss, Höhe des Mitgliedsbeitrags), personellen (Wahl von Funktionär/inn/en, Ehrenmitgliedern und teilweise Repräsentant/inn/en des Vereins) und administrativen Angelegenheiten (z.B. Entgegennahme von Rechenschaftsbericht, Genehmigung von Protokollen) bis hin zur Vereinsauflösung. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit oder Zweidrittelmehrheit (u.a.

Vereinsauflösung) gefasst.

Einzelne Selbsthilfeorganisationen nehmen eine Abnahme an Teilnehmerinnen/Teilnehmern bei diesen Veranstaltungen wahr u.a. aufgrund begrenzter Zeitressourcen der Mitglieder und teilweise langer Anfahrtswege zu den Veranstaltungen. Selbsthilfeorganisationen versuchen die Attraktivität und/oder Relevanz dieser Zusammenkünfte zu steigern, um mehr Mitglieder anzusprechen. Dies erfolgt durch Zusammenlegen der Generalversammlung mit Feiern oder anderen Veranstaltungen sowie durch ergänzende musikalische oder künstlerische Darbietungen.

Vernetzungstreffen

Vernetzungstreffen werden regelmäßig insbesondere von Selbsthilfedachverbänden auf Landesebene veranstaltet, um die Selbsthilfegruppen untereinander zu vernetzen und Austausch zu ermöglichen. Selbsthilfegruppenkontaktpersonen sollen gestärkt werden, d.h. neue Motivation und Ideen (für Selbsthilfegruppentreffen) erhalten.

„Da versuchen wir ein geschicktes Thema vorzugeben, das dann in den 5 oder 6 Regionen abzuarbeiten und da versuche ich auch dabei zu sein. Das ist eine Reverenz auch den Gruppen gegenüber, den Gruppenleitern gegenüber.“ [13 VO: 83-85]

Ein Selbsthilfedachverband sieht hierin auch ein wichtiges Element der Professionalisierung, d.h. der Weiterentwicklung der Selbsthilfegruppen im Bundesland. Die Vernetzungstreffen dienen aber auch

dem Austausch zwischen Vereinsführung und Mitgliedern (Selbsthilfegruppen) und damit als Möglichkeit, Wünsche zu deponieren.

„Also ja, die [Name des Vernetzungstreffens, anonymisiert DR] sind da wirklich regionale Vernetzungstreffen, wo auch Platz ist zu diskutieren und da kann man schon sehr viel, sehr viel einfangen an Befindlichkeiten und lokaler Meinung.“ [13 MA: 539-542]

In einem Fall dienen diese Vernetzungstreffen auch dem Austausch zwischen Selbsthilfedachverband und einem Kooperationspartner, der diese Veranstaltungen finanziell fördert. In einem anderen Fall finden diese Vernetzungstreffen fallweise in Kooperation mit einer anderen sozialen Einrichtung statt. In den meisten Fällen liegt dem Vernetzungstreffen ein Thema mit einem Fachinput durch eine externe Referentin/einen externen Referenten zugrunde.

Tagungen

Insbesondere die Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene veranstalten halbjährlich bis zweijährig stattfindende „Tagungen“. Diese Tagungen dauern ein bis zwei Tage mit unterschiedlichem Öffentlichkeitsgrad. In manchen Fällen handelt es sich um rein organisationsinterne Veranstaltungen, in andern sind die Tagungen öffentlich.

Diese Tagungen dienen mit unterschiedlicher Gewichtung der Weiterbildung und Schulung der Mitglieder und Patient/inn/en, der geselligen Zusammenkunft und als Ausdruck von Wertschätzung gegenüber den Mitgliedern („ein Danke“) sowie dem vereinsinternen Austausch und der Diskussion.

Diese Veranstaltungen beinhalten nicht selten externe Vorträge und eine externe Moderation. Diese Tagungen auf Bundesebene erlauben den Austausch der Erfahrungen aus den einzelnen Bundes-ländern. Zudem beinhalten sie das Potential, gemeinsame (übergreifende) Themen zu identifizieren.

Vereinzelt sind diesen Tagungen andere Sitzungen (erweiterte Vorstandssitzung und/oder Generalversammlung) vorgelagert, um Synergien zu nutzen und Anreisezeiten (aus den Bundes-ländern) zu reduzieren.

„Oder ja vielleicht treffen wir uns am Rande unserer […] Tagung noch einmal und dann reden wir noch einmal über das Thema.“ [06 VO: 609-610]

Schulungen

Eine weitere Vernetzungsmöglichkeit der Selbsthilfegruppen untereinander stellen Schulungen auf Bundes- und Landesebene dar. Diese dienen primär der Unterstützung der Selbsthilfegruppen-kontaktpersonen und sollen ihnen die nötigen Kompetenzen für ihre Aufgabe vermitteln.

Die Inhalte reichen von Persönlichkeitsbildung (u.a. Zeitmanagement, Work-Life-Balance) über Gruppendynamik und Kommunikation, Anwendung von Computerprogrammen bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit. Bei Schulungen von indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisationen wird auch neuestes Wissen zur jeweiligen Indikation vermittelt durch Fachvorträge von Ärzt/inn/en oder Vertretungen anderer Gesundheitsberufe. Mitgestaltungsbezogene Themen werden nicht explizit angesprochen. Einzelne Kursangebote dienen aber der Rollenklärung und der Stärkung der

Betroffenenkompetenz. Sie können als Vorstufe bzw. als Vorbereitung für Mitgestaltungsaktivitäten interpretiert werden.

Ausflüge

Einzelne Selbsthilfeorganisationen veranstalten Ausflüge, die primär als gesellige Veranstaltung und als Dankeschön und Motivation für das weitere Engagement in der Selbsthilfeorganisation eingeführt wurden. Diese Veranstaltung ermöglicht im informellen Rahmen aber auch persönliches Kennen-lernen, Vernetzen und einen Gedankenaustausch.

„Unser[e Veranstaltung, anonymisiert DR] ist ein Tag des gemeinsamen Kraft-Tankens und der Begegnung in einem arbeitsreichen Jahr.“ [13 Zeitung der Selbsthilfeorganisation]

Mitgliedschaften in anderen Selbsthilfeorganisationen und weitere assoziierte Strukturen

Zur Veranschaulichung der Mitgliedschaftsstrukturen (Abbildung 24) scheint es zweckmäßig, auf der Ebene von Selbsthilfegruppen zu beginnen (vgl. Kapitel 3.3.1):

Abbildung 24: Mitgliedschaftsstrukturen im Selbsthilfefeld

Die Selbsthilfegruppen sind neben ihrer Mitgliedschaft in der indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisation auf Landesebene meist auch Mitglied im Selbsthilfedachverband des jeweiligen Bundeslandes54. Indikationsspezifische Selbsthilfeorganisationen auf Landesebene sind häufig Mitglied des Selbsthilfedachverbandes im jeweiligen Bundesland sowie fallweise Mitglied in weiteren indikationsspezifischen und/oder indikationsverwandten Vereinen oder Foren im jeweiligen Bundesland. Auf Bundesebene sind sie (auch aufgrund des Auswahlverfahrens) Mitglied in der indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisation. Die indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene sind häufig Mitglied in der indikationsübergreifenden

54 Hier wurde im Rahmen der Erhebung nicht näher darauf eingegangen, ob die Selbsthilfegruppe eigenständiges Mitglied im Selbsthilfedachverband ist oder sich „ihre“ Mitgliedschaft aus der Mitgliedschaft ihrer indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisation auf Landesebene ergibt.

Europäische/

Internationale Ebene Bundesebene

Landesebene

Regionale Ebene Selbsthilfegruppe

Indikationsspezifische Selbsthilfeorganisation

Indikationsspezifische Selbsthilfeorganisation

Indikationsspezifische Selbsthilfeorganisation

Indikationsübergreifende Selbsthilfeorganisation ("Selbsthilfedachverband")

Indikationsübergreifende Selbsthilfeorganisation

Indikationsübergreifende Selbsthilfeorganisation

Selbsthilfeorganisation auf Bundesebene und teilweise auch Mitglied in europäischen und/oder internationalen indikations-spezifischen Organisationen. Den indikationsspezifischen Selbsthilfeorganisationen ist gemeinsam, dass die Beziehung zu indikationsgleichen oder -verwandten Selbsthilfeorganisationen als enger beschrieben wird als zu indikationsübergreifenden Selbsthilfeorganisationen. Die indikationsübergreifenden Selbsthilfeorganisationen auf Landesebene sind Mitglied in indikationsübergreifenden Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene.

Indikationsübergreifende Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene sind teilweise Mitglied in indikationsübergreifenden Selbsthilfeorganisationen auf europäischer oder internationaler Ebene.

Obgleich manche – indikationsspezifischen und indikationsübergreifenden – Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene auch Mitglied in europäischen und/oder internationalen Organisationen sind, konnten nur wenige Informationen über die Zusammenarbeit auf dieser Ebene erhoben werden, so dass hier nicht weiter darauf eingegangen wird55.

Die befragten Selbsthilfeorganisationen sehen die Vorteile der Mitgliedschaft in einer indikationsspezifischen oder -übergreifenden Selbsthilfeorganisation in der Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten: Dadurch können sie verstärkt mitgestalten (stärkere Interessenvertretung, weitere Themenbereiche) und Unterstützungsleistungen von jenen Organisationen beziehen (Information, Nutzung von Serviceangeboten, Vernetzung, finanzielle Ermäßigungen), in welchen sie Mitglied sind.

Viele Selbsthilfeorganisationen haben im Laufe ihres Bestehens Substrukturen ausgebildet (z.B.

Verein als Projektträger) und/oder sich durch Gründung/Mitinitiierung von informellen Netzwerken oder Vereinen ausdifferenziert. Diese neuen Strukturen können sich sowohl auf Dienstleistungserbringung als auch auf Mitgestaltung (Interessenvertretung) beziehen. Der Bedarf an neuen Dienstleistungs-strukturen (z.B. aufsuchende Begleitung) wird von einzelnen Selbsthilfeorganisationen erkannt und durch die Etablierung neuer Strukturen adressiert. Diese neuen Vereine agieren weitgehend unabhängig von der Selbsthilfeorganisation (Mutterverein).

Teilweise weisen sie ähnliche Vorstands-mitglieder (d.h. Vorsitzende/r der Selbsthilfeorganisation ist gleichzeitig auch Vorsitzende/r im neuen Verein) auf. Viele Selbsthilfeorganisationen haben sich auf höherer Ebene zusammengeschlossen, um koordinierter nach außen auftreten zu können (vgl.

Abbildung 24). Teilweise werden die Mitgestaltungsagenden auch an die höher organisierte Selbsthilfeorganisation delegiert. Einzelne Selbsthilfeorganisationen sind darüber hinaus in anderen Plattformen, Netzwerken und/oder Vereinen Mitglied, welche sie zum Teil (mit-)gegründet haben.

Diese Strukturen sind meist themenspezifisch und dienen der Bearbeitung bzw. Durchsetzung eines gemeinsamen Anliegens (z.B. Barrierefreiheit) beispielsweise durch Abgabe einer gemeinsamen Stellungnahme. Wenngleich ein Austausch und eine Zusammenarbeit möglich sind, agieren diese

55 Anzumerken ist, dass die Zusammenarbeit auf höheren Ebenen als der Bundesebene nicht im Zentrum des

neuen Strukturen weitgehend unabhängig von den „Muttervereinen“. Eine weitere Möglichkeit ist das Gründen einer Bürger-initiative. Allerdings berichten nur wenige der untersuchten Selbsthilfeorganisationen von der Mitarbeit an derartigen Netzwerken und/oder Bürgerinitiativen.

In Zusammenhang mit der Vernetzung der Selbsthilfeorganisationen steht auch ihr Zugang zu Ressourcen, welche im nächsten Abschnitt behandelt wird.

Ressourcen von Selbsthilfeorganisationen und arbeitsteilige Strukturen

Die Selbsthilfeorganisationen verfügen über eigene Ressourcen und können auch auf Ressourcen ihres Netzwerkes (innerhalb des Selbsthilfefeldes) zurückgreifen. Zunächst wird auf die finanziellen Ressourcen der Selbsthilfeorganisationen eingegangen und anschließend auf die personellen.

Finanzielle Ressourcen beziehen Selbsthilfeorganisationen aus eigenen Leistungen sowie aus ihrer inneren und äußeren Umwelt. Viele Selbsthilfeorganisationen haben eigene Einnahmen in Form von Beitritts- und Mitgliedsbeiträgen (auch von fördernden Mitgliedern) und/oder durch den Verkauf von Inseraten und/oder Broschüren. Eine weitere Möglichkeit sind entgeltliche Vorträge. Von der äußeren Umwelt erhalten sie – in unterschiedlichem Ausmaß – öffentliche Gelder von Bund/Land (Förderungen, Subventionen, Zuschüsse) oder konnten Geschenke/Spenden/Sponsoring (zumeist aus der Wirtschaft) einwerben. Anzumerken ist, dass sich Wirtschaftsunternehmen hier nicht nur auf Pharmaunternehmen und Medizinproduktehersteller bezieht. Auch Lebensmittelhersteller und regionale Firmen fungieren als Sponsor und/oder inserieren in Medien der Selbsthilfeorganisationen.

Den Statuten der Selbsthilfeorganisationen zufolge sind auch Einnahmen durch Vermächtnisse und sonstige Zuwendungen möglich. Externe Ressourcen können des Weiteren Preise (Geld, Sachmittel) darstellen, welche die Selbsthilfeorganisation gewinnt.

Sowohl öffentliche Mittel als auch Sponsoring-Gelder sind zumeist zweckgebunden bzw. werden für bestimmte Aktivitäten beantragt (bei offiziellen Förderansuchen). Selbsthilfeorganisationen machen deutlich, dass sie über kein explizites Budget für Interessenvertretung verfügen:

„Wir als Interessenvertretung, als politische Vertretung ist, werden schwer eine Finanzierung bekommen, weil ich sage, [der/die Minister/in, anonymisiert DR] ist schön blöd, wenn er sich seine eigenen Kritiker finanziert.“ [08 VO: 974-976]

Selbsthilfeorganisationen können in unterschiedlichem Ausmaß auf personelle Ressourcen, d.h.

tätige Mitglieder und/oder hauptamtliche Mitarbeiter/innen zurückgreifen. Die freiwillig-tätigen Mitglieder mit ihrer intrinsischen Motivation werden als wichtigste Ressource betrachtet. Sie bringen nicht nur ihre Kompetenzen, Erfahrungen und Kontakte ein, sondern nutzen auch private Ressourcen (z.B. Internetzugang, Geld) für den Verein. Mitglieder ersuchen zudem fachlich versierte Freundinnen/Freunde um Unterstützung und/oder Rat („Freundschaftsarbeit“). Neben den Mitgliedern wird auch der vereinsinterne Zusammenhalt als wichtige Ressource betrachtet. Viele der

tätige Mitglieder und/oder hauptamtliche Mitarbeiter/innen zurückgreifen. Die freiwillig-tätigen Mitglieder mit ihrer intrinsischen Motivation werden als wichtigste Ressource betrachtet. Sie bringen nicht nur ihre Kompetenzen, Erfahrungen und Kontakte ein, sondern nutzen auch private Ressourcen (z.B. Internetzugang, Geld) für den Verein. Mitglieder ersuchen zudem fachlich versierte Freundinnen/Freunde um Unterstützung und/oder Rat („Freundschaftsarbeit“). Neben den Mitgliedern wird auch der vereinsinterne Zusammenhalt als wichtige Ressource betrachtet. Viele der

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