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Mitgestaltungsaktivitäten von Selbsthilfeorganisationen in Österreich

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 122-126)

2 Konzeptuelle Grundlagen und empirische Vorarbeiten

2.5 Mitgestaltung von Selbsthilfeorganisationen im österreichischen Gesundheitssystem

2.5.4 Mitgestaltungsaktivitäten von Selbsthilfeorganisationen in Österreich

Vom Gesundheitssystem und Versorgungseinrichtungen werden Selbsthilfegruppen/-organisationen vorrangig als komplementäre Ressource wahrgenommen (Forster et al. 2011a; Rojatz 2012). Zwei Drittel der Selbsthilfegruppen/-organisationen geben Interessenvertretung als Hauptziel an, nur ein Drittel setzt tatsächlich entsprechende Aktivitäten (Forster et al. 2011b).

Die Beziehungen von Selbsthilfegruppen/-organisationen zum Gesundheitssystem sind abhängig von Organisationsform und Indikationsbereich der Selbsthilfegruppen/-organisationen (Forster und Nowak 2011). Selbsthilfeorganisationen weisen mehr und engere Umweltbeziehungen auf als Selbsthilfegruppen (Forster, Nowak, et al. 2009). Selbsthilfegruppen/-organisationen zu somatischen Problemen pflegen gemäß der PAO-Studie im Vergleich zu jenen mit psychischen Erkrankungen mehr und engere Beziehungen zum Gesundheitswesen und zur Sozialversicherung. Zudem sind sie tendenziell höher organisiert und setzen mehr Aktivitäten zur Aneignung von Fachwissen (Forster und Nowak 2011). Die Sekundärauswertung der Daten der ersten Bestandsaufnahme des Selbsthilfefeldes belegt eine stärkere Aneignung von Fachwissen bei Selbsthilfeorganisationen, die in engem Kontakt zu Ärzt/inn/en stehen: 42% der Selbsthilfegruppen/-organisationen eigenen sich häufig Fachwissen an, während Erfahrungsaustausch weniger wichtig ist.

Insgesamt zeigt sich, dass Selbsthilfeorganisationen (abgesehen von Selbsthilfefeld-internen Beziehungen) insbesondere Beziehungen zu Ärztinnen/Ärzten (91% pflegen Beziehungen), lokalen Medien (75%), Krankenbetreuungsorganisationen (71%) und Politik (68%) aufweisen. Beziehungen zu Pharmaunternehmen sind verhältnismäßig schwach ausgeprägt (36%)32 (Forster, Nowak, et al.

2009). Bisherige Forschungsarbeiten befassten sich mit der Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen/

-organisationen und Krankenhäusern (El-Najjar 2010; Forster und Rojatz 2011; Rojatz 2012) und Politik (Forster et al. 2011b, 2011a; Rojatz 2011) sowie mit der Sozialversicherung (Sertl 2010;

Keppelmüller 2011).

Beziehung zu Professionellen und Krankenhäusern in Österreich

Die Diplomarbeit von El-Najjar (2010) beleuchtet die Kooperationsrealität zwischen Selbsthilfegruppen und Krankenhaus am Beispiel von fünf Selbsthilfegruppen und ihren Kooperationspartnern im Krankenhaus. Es zeigen sich personenbezogene, temporäre, aber auch institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit. Eine besondere Form der institutionalisierten Zusammenarbeit erfolgt im Rahmen des „Selbsthilfefreundlichen Krankenhauses“ (vgl. Kapitel 2.2.2).

Selbsthilfedachverbände in mehreren Bundesländern haben den Hamburger Ansatz aufgegriffen,

32 Dennoch belegt eine rezente österreichische Studie für 2014 die Zur-Verfügung-Stellung von über 1,1

adaptiert und Krankenhäuser zur Teilnahme motiviert (Forster und Rojatz 2011; Forster et al. 2012, 2013). Mittlerweile ist von 62 Krankenhäusern (ca. 20% aller Krankenhäuser) in fünf Bundesländern eine strukturierte Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen bekannt (Forster und Rojatz 2015; Rojatz und Forster 2015). In einem Bundesland sind sogar alle Landeskrankenhäuser als

„Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ ausgezeichnet. Die Umsetzung erfolgt allerdings unterschiedlich sowohl zwischen den Bundesländern (Forster und Rojatz 2011; Forster et al. 2012) als auch zwischen den Krankenhäusern in einem Bundesland (Rojatz 2012). Von den acht Kooperationskriterien werden vorrangig die Information der Patient/inn/en über Selbsthilfegruppen und die Etablierung von Ansprechpersonen im Krankenhaus für das Thema Selbsthilfe realisiert (Rojatz 2012). Partizipative Formen der Zusammenarbeit bilden die Ausnahme.

Beziehung zur Sozialversicherung

Beziehung zur Sozialversicherung sind eher peripher, aber bei interessenvertretenden Selbsthilfegruppen/-organisationen stärker ausgeprägt (Forster et al. 2011b). Sertl (2010) belegt in ihrer Diplomarbeit eine verständigungsorientierte Kooperation von Selbsthilfegruppen mit ausgewählten Gebietskrankenkassen. Gesetzt wird auf Kommunikation anstelle von Konflikt sowie auf ein „Geben und Nehmen“ zum wechselseitigen Nutzen. Beispielsweise werden „Stamm-tische“

zwischen Selbsthilfegruppen, Selbsthilfedachverband und Gebietskrankenkassa in den beiden näher untersuchten Bundesländern zum wechselseitigen Austausch von Anliegen durchgeführt. Die Arbeit belegt eine wechselseitige Entlastung bzw. Unterstützung durch die Zusammenarbeit. Der Fokus auf Unterstützung der Selbsthilfegruppen durch Gebietskrankenkassen wird auch durch die Diplomarbeit von Keppelmüller (2011) belegt. Beide Studien (Sertl 2010; Keppelmüller 2011) verweisen auf Unterstützungsleistungen (Sachmittel, finanzielle Unterstützung) durch die Gebietskrankenkassen und Informationsaustausch, wobei letzterer bei Keppelmüller (2011) als peripher bezeichnet wird. Sertl (2010) verweist auch auf das gemeinsame Lösen von Problemen.

Interessenvertretung und Partizipation

Gemäß der PAO-Studie haben 29% der Selbsthilfegruppen/-organisationen Interessenvertretung als Ziel (Forster, Braunegger-Kallinger, et al. 2009), mit steigender Tendenz bzw. zunehmenden Ambitionen (Marent und Forster 2013). Angemerkt sei aber, dass nur ein Teil der Ressourcen für Interessenvertretung aufgewandt werden. Bei Selbsthilfedachverbänden sind dies etwa 20-30% der zeitlichen Ressourcen (Rojatz 2011; Marent und Forster 2013). Die Ziele sind tendenziell verständigungsorientiert (Informationszugang, Vernetzung), aber auch erfolgsorientiert im Sinne eines Strebens nach Mitsprache (Rojatz 2011).

Bislang gibt es keine systematische Erhebung der Beteiligungsmöglichkeiten. Im Gutachten zur Bürger- und Patientenbeteiligung in Österreich (Forster 2015) findet sich eine erste Aufstellung von Gremien, an welchen Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene beteiligt sind. Bislang wurde nur die Beteiligungspraxis von Selbsthilfedachverbänden in drei Bundesländern explorativ untersucht

(Rojatz 2011). Belegt werden eine Vielzahl von Beteiligungen an Netzwerken, Institutionen sowie an Gremien und Arbeitsgruppen. Mitgestaltungsaktivitäten erfolgen sowohl von außen (voice) als auch innerhalb institutionalisierter Strukturen (Partizipation). Am Beispiel der Beteiligung eines Selbsthilfedach-verbandes an der Gesundheitsplattform – dem wichtigsten Steuerungsgremium auf Landesebene – zeigt sich, dass der erfolgsorientierte Einfluss eines Selbsthilfedachverbandes (eine von zwölf Stimmen) marginal ist. Der Zugang zu diesem Gremium erlaubt aber einen Zugewinn an Information und erweitert die Handlungsmöglichkeiten des Selbsthilfedachverbandes. Insgesamt haben in der Wahrnehmung von Vertreterinnen/Vertretern von Selbsthilfedachverbänden Beteiligungs-möglichkeiten und Anforderungen zugenommen bei einem gleichzeitigen Rückgang an (zeitlichen) Ressourcen. Dies hat zur Folge, dass die Kapazitäten am Limit sind und wenig Interesse an weiterer Gremienarbeit besteht (Rojatz 2011). Auf Landesebene bieten einzelne Selbsthilfe-dachverbände spezifische Fortbildungsmodule als Vorbereitung der Selbsthilfegruppen-vertreter/innen für Interessenvertretung an, die auch der Stärkung der Betroffenenkompetenz dienen (Selbsthilfe Salzburg 2014; Selbsthilfe Tirol 2014). Vorrangig dienen diese Schulungsangebote der Selbsthilfe-dachverbände aber der Stärkung von Selbsthilfegruppenkontaktpersonen für die Arbeit in Selbsthilfegruppen.

Inhaltlich versucht die ARGE Selbsthilfe Österreich die rechtliche Verankerung der verschiedenen Formen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe voranzutreiben. Sie sieht hierin eine Voraussetzung für eine Basisfinanzierung für bundesweit-tätige Selbsthilfeorganisationen und gesetzlich verankerte Beteiligungsmöglichkeiten. In einem Positionspapier bekundet sie die Bereitschaft zur Beteiligung, betont aber gleichzeitig die Notwendigkeit von entsprechenden Ressourcen und Rahmenbedingungen (ARGE Selbsthilfe Österreich 2013). Die Abhängigkeit vieler Selbsthilfeorganisationen von externen Mitteln aus der Wirtschaft wird kritisch eingeschätzt.

Reflexion wird als Lösungsansatz aufgezeigt, um die Unabhängigkeit der Selbsthilfeorganisationen zu wahren.

2.5.5 Zusammenfassung

Die Handlungsvoraussetzungen von mitgestaltenden Selbsthilfeorganisationen beinhalten in der föderalistisch-geprägten äußeren Umwelt eine vorwiegend paternalistische politische Kultur mit schwach ausgeprägten direkt-demokratischen Möglichkeiten. Patienteninteressen werden bislang vorrangig von etablierten Systemakteuren (Ärztekammer, Sozialversicherung) und gesetzlich legitimierten Patientenanwaltschaften vertreten. Die Patientencharta, eine Vereinbarung zwischen Bund und Bundesländer, hält die Patientenanwälte in den Bundesländern zur Zusammenarbeit mit Selbsthilfeorganisationen an und spricht Selbsthilfeorganisationen ein Anhörungsrecht zu. Vereinzelt können Selbsthilfeorganisationen an Arbeitsgruppen und Gremien partizipieren. Eine rechtliche Verankerung der Beteiligung steht bis auf einzelne Ausnahmen noch aus, wird aber von der

nationalen Selbsthilfedachorganisation eingefordert. Auf der Mesoebene sind durch Einführung des

„Selbsthilfefreundlichen Krankenhauses“ Kooperationsstrukturen für Selbsthilfegruppen und -organisationen etabliert.

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 122-126)

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