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Anforderungen an Selbsthilfeorganisationen bei Interessenvertretung

Im Dokument DISSERTATION / DOCTORAL THESIS (Seite 88-92)

2 Konzeptuelle Grundlagen und empirische Vorarbeiten

2.3 Handlungsvoraussetzungen und Anforderungen bei Mitgestaltung

2.3.3 Anforderungen an Selbsthilfeorganisationen bei Interessenvertretung

Erfolgsorientierte Mitgestaltung (Interessenvertretung) steht für den Versuch (hier: von Selbsthilfeorganisationen), Einfluss auf das Gesundheitssystem zu nehmen. Wie bereits weiter oben angedeutet, kann Offes (1974) Konzept der Organisations- und Konfliktfähigkeit als Hinweis verstanden werden, dass erfolgsorientierte Mitgestaltung sowohl sozial- als auch systemintegrative Anforderungen an Selbsthilfeorganisationen stellt.

Strukturelle Anforderungen bei Interessenvertretung

Zunächst muss eine Selbsthilfeorganisation entstehen und Mitglieder gewinnen. Allerdings profitieren von Interessenvertretungserfolgen auch Nicht-Mitglieder, so dass der Anreiz zur Mitgliedschaft gering ist (Geißler 2004). Eine Möglichkeit, damit umzugehen, sind selektive Anreize nur für Mitglieder (z.B. an die Mitgliedschaft gekoppelte Leistungen) (Geißler 2004). Die Organisationsfähigkeit wird weiter in Abhängigkeit von der Gruppengröße gesehen, wobei je nach Autor der Einfluss unterschiedlich gerichtet ist: Im Unterschied zu Offe (1974) ist die Organisationsfähigkeit bei Olsen umgekehrt proportional zur Größe der Gruppe („Je kleiner die Gruppe, desto leichter sei sie organisationsfähig“) (Geißler 2004).

Die Möglichkeitsstruktur der Selbsthilfeorganisationen hängt von deren verfügbaren Ressourcen ab.

Ressourcen werden sowohl für das Erfüllen der sozialintegrativen als auch systemintegrativen Funktion benötigt, d.h. sowohl für die organisationsinterne Abstimmung als auch für die unmittelbare Mitgestaltung im Gesundheitssystem. Ein Mangel an Ressourcen wird als Schlüsselbarriere für Interessenvertretung/Partizipation betrachtet (Jones et al. 2004; Baggott et al.

2005). Studien belegen einen Anstieg an Beteiligungsmöglichkeiten und damit einen gestiegenen Bedarf an Ressourcen (Baggott et al. 2005; Rabeharisoa 2008a; van de Bovenkamp et al. 2010;

Peeters et al. 2014).

In der Selbsthilfeforschungsliteratur wird der Ressourcenbedarf bei Mitgestaltung stark thematisiert.

Selten wird dabei aber unterschieden, wofür die Ressourcen benötigt werden. Beispielsweise ist das Vorhandensein von finanziellen Ressourcen eine Voraussetzung für das Anstellen von hauptamtlichem Personal zur Entlastung von ehrenamtlich tätigen Mitgliedern der Selbsthilfeorganisation. In weiterer Folge wird dem Konzeptualisierungsvorschlag von Wood (2000) gefolgt, welcher drei Arten von Ressourcen (greifbare, verhaltensbezogene, imagebezogene) unterscheidet.

Zu den greifbaren Ressourcen zählen nach Wood (2000) Geld, Kompetenzen, Personal und Zugang zu Gremien. Erforderlich sind personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen: Personal kann sich sowohl auf freiwillige als auch hauptamtliche Mitarbeiter/innen beziehen. Weiter oben wurde bereits das Problem aufgezeigt, aktive freiwillige Mitarbeiter/innen zu gewinnen. In der Literatur wird von zu wenigen Engagierten berichtet, die eine Beteiligung wahrnehmen wollen bzw. können, so dass Gremien nicht beschickt werden (van de Bovenkamp et al. 2010; Prognos 2011). Ein Großteil der Beteiligungen wird von wenigen Engagierten getragen, die teilweise an ihre Leistungsgrenzen kommen (van de Bovenkamp et al. 2010; Forster 2015). Neben der potentiellen Überforderung, sind dadurch auch vereinsinterne Unstimmigkeiten möglich (vgl. McGovern 2014).

Viele Studien belegen außerdem einen Bedarf an externen finanziellen Ressourcen (vgl. Walker 1991, Cress und Snow 1996 zit.n. von Winter und Willems 2000, S. 21). Eine rezente deutsche Studie belegt, dass die Ressourcenbeschaffung in einigen Selbsthilfeorganisationen ein großes Aufgabenfeld darstellt (Kofahl, Seidel, et al. 2016). Vergabeverfahren von öffentlichen Förderungen werden von vielen Selbsthilfeorganisationen als aufwändig beschrieben. Insbesondere kleinere Selbsthilfeorganisationen haben Probleme, den bürokratischen Aufwand für Förderungen zu leisten.

Beispielsweise zeigt sich für Deutschland, dass Selbsthilfegruppen teilweise am Ausfüllen von Förderformularen scheitern (Kofahl, von dem Knesebeck, et al. 2016). Weitere mögliche Einnahmequellen sind Mitgliederbeiträge, Spenden/Erbschaften, Stiftungsgelder, Pauschalförderung und Projektgelder. Vereinzelt berichtet eine rezente deutsche Studie auch von Einnahmen aus Dienstleistungen (Kofahl, Seidel, et al. 2016).

Zu den greifbaren Ressourcen zählen des Weiteren Kompetenzen und Wissen. Neben dem aufbereitetem Erfahrungswissen („Erfahrungsexpertise“) (Borkman 1976; Forster und Nowak 2011), braucht es auch Fachwissen, um gehört zu werden (Akrich 2010; van de Bovenkamp und Trappenburg 2011). Fachwissen bezieht sich auf juristische Kenntnisse, Methodenkenntnis, Systemwissen (Strukturen und Zusammenhänge) und ökonomisches Wissen (Pohontsch et al. 2015).

Die Aneignung dieser Kenntnisse und Fähigkeiten ändert aber die lebensweltliche Orientierung von Selbsthilfeorganisationen. Sie kann zu Identitätskrisen führen, da Rationalität anstelle der ursprünglichen Emotionalität der Anliegen an Bedeutung gewinnt (vgl. Hodge 2005).

Verhaltensbezogene Ressourcen sind Lobbyingstrategien und daraus resultierende Anerkennung (sozialer Status) sowie Zeit und Engagement, welche sich sowohl als Möglichkeitsstruktur (Zeitressourcen) als auch als Selektionskultur (Strategiewahl, Engagement verstanden als Wollen) betrachten lassen. Während Fachwissen hier zu den greifbaren Ressourcen gezählt wurde, zählen die sozialen Kompetenzanforderungen zu den verhaltensbezogenen Ressourcen. Gefordert sind Kommunikationsfähigkeit, Kompromissbereitschaft und Geduld bzw. Durchhaltevermögen (Simon 2011). Bei Gremienbeteiligungen ist Abstraktionsfähigkeit gefragt, so dass Themen nicht nur aus der eigenen Perspektive betrachtet werden (van de Bovenkamp und Trappenburg 2011). Zu den verhaltensbezogenen Ressourcen zählt auch Gehör finden, was leichter gelingt, wenn die Anliegen der Selbsthilfeorganisationen zur aktuellen politischen Agenda passen (Baggott et al. 2005).

Allerdings kann die Unabhängigkeit der Selbsthilfeorganisation darunter leiden, wenn stärker der politischen Agenda gefolgt wird als der eigenen. Erschwert wird das Gehör finden auch durch andere starke Stakeholder (Interessenvertretungen, Professionelle) (Jones et al. 2004). Nach von Winter und Willems (2000) hängt der politische Einfluss schwacher Interessen auch von der Strategiewahl ab. So stellt sich beispielsweise die Frage, für was die knappen Ressourcen aufgebracht werden sollen (Organisationsbildung oder direkte Mobilisierung). Werden Verhandlungen mit öffentlichen Stellen eingegangen, verringert sich die Militanz des Protestes (von Winter und Willems 2000). Eine andere Studie schlussfolgert, dass spontaner Protest erfolgsversprechender ist als der Einsatz der knappen Ressourcen für Organisationsbildung oder Advokaten, wobei es sich hier zumeist um kurzlebige Aktionen handelt (von Winter und Willems 2000). In der Literatur finden sich Hinweise, wonach eine Kombination von verschiedenen Ansätzen am Erfolg versprechensten ist (Geißler 2004; Christiaens et al. 2012).

Eine weitere Strategie der Mitgestaltung ist die kontinuierliche Beobachtung der politischen Landschaft. Die langjährige Tätigkeit im Feld, die Beobachtung der politischen Entwicklungen sowie Kontaktpflege mit relevanten Personen werden als wichtig erachtet, um schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Dies impliziert, dass Selbsthilfeorganisationen ständig präsent sein müssen (Geißler 2004 mit Verweis auf Rosenthal 1993). Forschungsergebnisse verweisen auch auf die

Anforderung ist kontinuierliche Feldbeobachtung und Mitarbeit, um die Kommunikationsprozesse im Gesundheitssystem in Erfahrung zu bringen und nutzen zu können (Bobzien 2006; Geißler 2004), d.h.

sich zielgenau einbringen zu können.

Um Interessen durchzusetzen, braucht es weiter imagebezogene Ressourcen, wie Glaubwürdigkeit der Selbsthilfeorganisationen und ihrer Anliegen sowie Legitimität und Autonomie. Die Glaub-würdigkeit hängt von der Mitgliederanzahl und der einheitlichen Präsentation der Anliegen ab und wird durch intransparentes Auftreten geschmälert (Geißler 2004). Als Indikatoren für demokratische Legitimation gelten Unabhängigkeit, demokratisch legitimierte verbandliche (Binnen-)Struktur und die Gleichberechtigung aller ordentlichen Mitglieder (Danner et al. 2009; Renner 2013).

Unabhängigkeit bezieht sich auf parteipolitische, konfessionelle, industrielle und kommerzielle Bindungen (Danner et al. 2009). Selbsthilfeverbände orientieren sich an ihren Mitgliedern und sind weder Teil der Leistungserbringer noch der Kostenträger (ebd.).

Im Mitgestaltungsprozess selbst müssen Selbsthilfeorganisationen meist schnell agieren. Angesichts kurzer Beratungszeiten haben sie häufig wenig Zeit, sich intern mit den Mitgliedern zu beraten (Jones et al. 2004), so dass Konsultation manchmal als Alibi-Beteiligung wahrgenommen wird (Baggott et al.

2005). Systemvertreter wiederum sehen diese Deadlines als unausweichlich an (Baggott et al. 2005).

Kulturelle Anforderungen bei Interessenvertretung

Erfolgsorientierte Mitgestaltung benötigt Motivation und Engagement (Offe 1974). Weitere kulturelle Anforderungen beziehen sich auf Interessenbewusstsein, Interessenbündelung und Willensbildung innerhalb der Selbsthilfeorganisationen (sozialintegrative Funktion). Dieses spricht auch das Spannungsfeld zwischen individuellen und kollektiven Interessen an, welches gemäß einer rezenten deutschen Studie häufig ungelöst bleibt (Forster 2016c).

Erfolgsorientierte Mitgestaltung erfordert ein gemeinsames Interesse (kollektives Interessen-bewusstsein) (Offe 1974; von Winter und Willems 2000). Dies erfordert die Abgrenzbarkeit des Problems sowie eine gewisse Regelmäßigkeit seines Auftretens (von Winter und Willems 2000).

Dabei sind spezifische und dringliche Interessen leichter organisierbar als allgemeine (Offe 1974). Das kollektive Interessenbewusstsein erfordert es, die meist unterschiedlichen und latenten Wünsche bzw. Forderungen zu manifesten Zielen und programmatischen Aussagen zu bündeln („kleinsten gemeinsamen Nenner finden“). Die besten Chancen haben jene Interessen, die vereinsintern wichtig und nach außen am besten durchsetzbar scheinen. Meinungsbündelung ist in komplexeren Strukturen schwieriger als in einfachen (Straßner 2010). Angemerkt sei, dass die Forderungen eine gewisse Flexibilität aufweisen müssen, damit sie verhandelbar bleiben und die Erfolgsaussichten höher sind (Offe 1974).

Eine weitere Anforderung besteht darin, dass Mitglieder ihre Meinungen und Anliegen an die Verbandsführung kommunizieren können und diese ebenfalls Meinungen der Mitglieder einholen

kann. Dies kann entweder informell oder formell, schriftlich oder mündlich erfolgen (Geißler 2004).

Allerding werden aufwändige Konsultationen nur bei neuen Fragen oder bei grundsätzlichen Entscheidungen für sinnvoll gehalten (Geißler 2004). In der Selbsthilfepraxis wird ebenfalls wahrgenommen, dass Konsens nicht immer möglich ist (Helms 2012). Er wird aber auch nicht immer für zwingend nötig erachtet.

Die Fähigkeit, Interessen zu bündeln, wird auch in Abhängigkeit von Ressourcen, der Möglichkeitsstruktur der Selbsthilfeorganisation, beschrieben: Beispielsweise gibt es in der Schweiz zwar eine Dachorganisation für Patientinnen- und Patienteninteressen, diese kann aber bedingt durch ihre Struktur und knappen Ressourcen die Patienteninteressen nicht repräsentativ bündeln und einbringen (Schweizerische Eidgenossenschaft 2015).

Zusammenschau. Erfolgsorientierte Mitgestaltung stellt sowohl sozial- als auch systemintegrative Anforderungen an Selbsthilfeorganisationen. Dabei sind die sozialintegrativen Anforderungen deutlicher geworden als bei verständigungsorientierter Mitgestaltung.

In den vorangegangenen Ausführungen klangen immer wieder Risiken bei Mitgestaltung durch. In der Folge wendet sich der Blick auf drei in der Literatur stark thematisierte Risiken:

Professionalisierung, Überforderung und Instrumentalisierung.

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