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Anklagekonstrukte und „Drehbücher“ lassen sich nicht allein als fiktionale, aus der Ästhetik der Diktaturen heraus entstandene Phänomene erklären. Vielmehr bilden sie eine Art Palimpseststruktur – so werden die mittelalterlichen Schriftrollen genannt, die einmal oder mehrmals überschrieben wurden – die zwar Veränderungen, Auf-schmelzungen und Übertünchungen beinhalten, in denen jedoch durch Abtragen ver-schiedener übermalter Schichten ein gewisser Realitätsbezug erneut durchscheint.

Offensichtlich ging es auch hier der Stalinschen Führung darum, zu verhindern, dass die realiter bestehenden politischen Dissenzen an die (Partei-) Öffentlichkeit gelangten, um nicht unfreiwillig eine Bresche für Protestbewegungen zu schlagen.

Insofern sind die „Säuberungen“ im Apparat der Komintern auch als Präventivschlag einer verunsicherten, nur noch auf das NKVD gestützten sowjetischen Führung gegen drohende Gefahren und vermutete potentielle Opponenten zu verstehen, nicht aus-schließlich als blinder (und zumal dysfunktionaler) Terror.

Trotz einer abwegigen inhaltlichen „Beweisführung“, was die Kontakte zu Trotzki und dem ominösen „Sekretariat der Vierten Internationale“ anging, dürften Hin-weise auf eine Involvierung der Verbindungsstrukturen der Komintern nicht reine Konstrukte gewesen sein.387 Der Verbindungsdienst unterhielt ein weitverzweigtes, multidirektionales und multifunktionales, insgesamt nur schwer kontrollierbares

387 Der erklärende Hinweis bei Reinhard Müller auf die Produktion einer möglichst großen Anzahl von „Verbindungen“ als (nach Hannah Arend) selbstreferentielle Eigenschaft totalitärer Diktaturen ist hilfreich. Im Falle der OMS, deren (insofern auch durchaus gelungene) Aufgabe explizit die

Herstel-transnationales Netzwerk. Trotz vorhandener Übertreibungen und falscher Selbst-darstellungen liefern die Komintern-Saga des Jan Valtin (Ps. Richard Krebs) oder die Erlebnisberichte über den gescheiterten brasilianischen Aufstand von „General“

Prestes in Rio de Janeiro 1935 diesbezüglich anschauliche Belege.388

Die Indizien für eine „Übernahme“ des Verbindungsdienstes der Komintern durch das NKVD sind eindeutig. Während einer ersten Phase stellten ausländische, nicht-russische Angestellte die Mehrheit der Mitarbeiter (65 bis 100 in Moskau). Nach den „großen Säuberungen“ wurden diese durch jüngere sowjetische Apparatschiki aus dem NKVD oder der GRU ersetzt. Trilisser, der als Sekretär des EKKI von Juni 1937 bis November 1938 für den Dienst zuständig war, gelangte dorthin als Leiter des Inter-nationalen Sektors der GPU. Auch der ausgetauschte neue Leiter des Verbindungs-dienstes, K. P. Sucharev, kam vom NKVD. Infolge der Säuberungen gehörten ältere Mitarbeiter der OMS, wie Ja. Zys’man (Süssmann), A. A. Samoilov oder P. Ch. Mezis, zu den großen Ausnahmen. Ein Nebeneffekt der Russifizierung bis Anfang der vierziger Jahre war die Verjüngung des Personalbestandes in Moskau. Der Dienst wurde damit stärker von ausländischen Einflüssen abgeschottet, wobei über die Neuorganisation des weltweiten Netzes des Verbindungsdienstes und der Verbindungspunkte bisher nur wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen.

Das Beispiel der OMS illustriert den fundamentalen Transformationsmecha-nismus der Leitungsstruktur der Komintern von einem internationalistisch orien-tierten (und in großen Teilen mit ausländischen Kommunisten besetzen) zu einem russischen, von den Organen der politischen Polizei bzw. den Diensten dominier-ten Apparat. Die Konsequenzen dieser Entwicklung reichdominier-ten weit über die Komin-tern hinaus, die ohnehin bereits auf eine Initiative Stalins hin als letztes Geschenk an Hitler, um diesen zu erweichen und vom Angriffsplan abzuhalten, 1941 aufgelöst werden sollte, was schließlich unter anderen Bedingungen 1943 realisiert wurde.389 Der russische Nationalkommunismus und seine staatlichen Unterdrückungsorgane sicherten fortan die Kontrolle über die nationalen kommunistischen Sektionen defi-nitiv ab.

Analysiert man diese Konstrukte als historische Phänomene und betrachtet sie nicht nur als eine Art totalitäres Teufelswerk, ist frappierend, dass in den Beschul-digungen die aktuelle Situation und Politik sowohl der Komintern als auch der sow-jetischen Führung weitgehend abwesend ist. Hinter den Akklamationsorgien des Parteiapparats verbarg sich bei allem ausgeübten Terror weiterhin ein Oppositions-lung und Unterhaltung eines weltumspannenden illegalen Kontakt- und Kommunikationsnetzes für Informationen, Güter und Gelder war, schießt dies allerdings über das Ziel hinaus.

388 Siehe William Waack: Camaradas nos arquivos de Moscou. A história secreta da revolução brasi-leira de 1935. 5. Aufl. São Paulo: Companhia das Letras 2005; Vgl. Ders.: Die vergessenen Revolution:

Olga Benario und die deutsche Revolte in Rio. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1994 (Aufbau-Ta-schenbücher: Dokument und Essay. 8013).

389 Der Auflösungsversuch im Jahre 1941 ist erstmals in den Dimitrov-Tagebüchern belegt, siehe Dimitroff, Tagebücher, I, S. 374f.

potential, das trotz Abschwörungen und Treuebekenntnissen den Bezug zur Revo-lution noch nicht gänzlich verloren hatte und vielleicht auch zu einer Absetzung Stalins bereit war. Der Terror hatte nicht nur eine zersetzende Wirkung, er war sei-nerseits Auslöser für erneute Resistenzen, die bisher kaum in den Blick genommen wurden. Pjatnickij, die éminence grise der Komintern, wurde verhaftet, nachdem er auf dem Juniplenum des Zentralkomitees der KP der Sowjetunion 1937, das den Mas-senterror zum Prinzip erhob, diese Ausweitung als Problemlösung abgelehnt hatte.

Auch die hier veröffentlichten kritischen Aufforderungen Münzenbergs, Bucharins, teilweise auch Litvinovs an Stalin bzw. das Politbüro, nun endlich deutliche und wirksame Maßnahmen gegen die zunehmenden NS-Provokationen einzuleiten, sind weitere Hinweise (Dok. 379 u. a.). Als weiteres, in diese Richtung weisendes Indiz hatten die beiden Hauptangeklagten des Zweiten Moskauer Prozesses, Radek und Pjatakov, gegen den von Stalin anfangs verfolgten Kurs der Nichteinmischung im Spa-nischen Bürgerkrieg ein stärkeres internationalistisches Engagement der Sowjet union gegen den Faschismus gefordert.

Dass die Sowjetunion mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 zunächst (ähnlich wie gegenüber Deutschland) eine Politik der strikten Nichteinmi-schung verfolgte, wurde weitgehend aus der historischen Erinnerung verdrängt. Wie aus einem hier veröffentlichten sowjetischen Politbürobeschluss hervorgeht, wurde ein striktes Verbot von Munitions- und Fluggerätexporten nach Spanien erlassen, das in der Pravda vom 30. August 1936 amtlich dokumentiert wurde (Politbüro VKP(b), 29.8.1936). In Punkt 2 des Beschlusses wurde der Beitritt der Sowjetunion zum seitens internationaler linker und Menschenrechtsorganisationen heftig kritisierten Londo-ner Nichteinmischungskomitee verkündet, das von 27 Staaten auf Initiative Frank-reichs einberufen worden war. Dass der sowjetische Nichteinmischungsbeschluss bereits im September/Oktober 1936 wieder umgestoßen wurde und die Sowjetunion unter dem Deckmantel der Komintern Waffen und Freiwillige nach Spanien schickte, kann somit nicht zuletzt auf die genannten Widerstände hoher sowjetischer Funk-tionäre gegen den Nichteinmischungskurs zurückgeführt werden.390 Die darauf fol-genden geheimsten Beschlüsse zur Entsendung von Waffen und Internationalen Brigaden nach Spanien einschließlich der Inempfangnahme der Goldreserven der spanischen Regierung „zur Aufbewahrung“ in der Sowjetunion werden hier in Polit-bürobeschlüssen nachgewiesen (Politbüro VKP(b), 11.10.1936 u.a.). Allerdings blieb die Sowjetunion formell auch Mitglied des Londoner Nichtinterventionskomitees. Die dort vollführte diplomatische Akrobatik kann anhand der neuen russischen Edition 390 Stephen Cohen mutmaßte, dass gerade die inner- und außersowjetische Opposition gegen den Stalinschen Kurs im Spanischen Bürgerkrieg eine Art Matritze für den zweiten Moskauer Prozess bil-dete. Broué verstärkt dieses Argument unter Hinweis auf einen Izvestija-Artikel Karl Radeks unter dem Titel „Die Kriegstifter bereiten die Intervention gegen die spanische Revolution vor“ (Izvestija, 4.8.1936), in dem er offen zur Unterstützung der spanischen Revolution aufforderte. Radek-Biograph Fayet wendet sich gegen diese Interpretation; Pierre Broué: Staline et la Révolution. Le cas espagnol.

Paris: Fayard 1993. S. 134ff.; Fayet, Karl Radek, S. 699.

der Tagebücher Ivan Maiskijs, des sowjetischen Vertreters im Komitee, nachvollzogen werden.391

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