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Ein denkwürdiger Appell: Der Brief Eugen Vargas gegen Ausländerhetze in der Sowjetunion und der Komintern

Eine unerwartete, eindringliche Warnung vor den Konsequenzen der „systemic para-noia“ (Moshe Lewin) für die Komintern und die Ausländer in der Sowjetunion lieferte auf dem Höhepunkt des Terrors Stalins Chefökonom Eugen Varga. Als einziger hoher sowjetischer Funktionär dürfte er sich einen derartig fundamentalen Protest zugetraut haben. In einem an Stalin gerichteten, hier erstmals in deutscher Sprache publizierten Brief beschrieb er im März 1938 (jeweils in Kopie an Dimitrov für die Komintern und Ežov für das NKVD), wie statt einer „richtigen Kombination aus Sowjetpatriotismus und Internationalismus“ der „einseitige beschränkte Nationalismus“ immer mehr an Boden gewonnen habe. Der wütende Ausländerhass habe zu einer ausweglosen Situation für die ausländischen Kommunisten in der Sowjetunion geführt. Varga forderte, dass im Besonderen die Stimmungslage in der Komintern verbessert und „der Prozess der schnellen Erschöpfung und Demoralisierung der Kader der Kommunistischen Parteien faschistischer Länder, auf die im kommenden Krieg eine sehr große Rolle zukommen müßte“, gestoppt werden müsse (Dok. 436). Konkret wurde die Demoralisierung und Dezimierung der ausländischen Kommunisten – wie im Fall der Ungarn – dargestellt, die sich in der heroischen Opferung des eigenen Lebens im Spanischen Bürgerkrieg, der ansteigenden Zahl der Verhaftungen in der Sowjetunion sowie der Demoralisierung der sich noch in Freiheit befindlichen Personen äußere. „Selbst der ehrlichste ausländische Revolutionär“ könne sich – so Varga – „seiner Freiheit nicht sicher sein.“ Gegenüber der Kriminalisierungspraxis forderte er u. a. eine systematische Überprüfung der

ver-404 Zur noch andauernden Diskussion über Stalins Terror als Genozid siehe Norman M. Naimark:

Stalin und der Genozid. Berlin: Suhrkamp 2010.

405 RGASPI, Moskau, 17/162/22, 141.

hafteten Ausländer unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Bedeutung für die Arbeit der Untergrundparteien gegen Hitler (Dok. 436).

Dass die Mehrheit der verbliebenen Kommunisten in Deutschland die Moskauer Prozesse entweder ablehnte oder zumindest mit Unverständnis reagierte, lässt sich nicht nur anhand von Zeitzeugnissen der Oppositionellen und „Versöhnler“ erhär-ten. Auszüge aus „offiziellen“ Berichten über Meinungen und Stimmungen von KPD-Mitgliedern und antifaschistischen Arbeitern im Deutschen Reich belegen die abstoßende Wirkung der Prozesse und Trotzkistenverfolgungen. „Bei Remmele und Neumann“ könnten viele nicht begreifen, „dass das Lumpen geworden sind“. Man frage sich generell, was in der Sowjetunion los sei, und hielt es für unglaubwürdig, dass sogar Tuchačevskij zum Verräter geworden sein solle (Dok. 433). Man frage sich ebenfalls, was in Spanien vor sich ginge – wobei die Internationalen Brigaden in Spanien weiterhin positiv als Leitmodell für die tüchtigsten Kämpfer angesehen wurden – und ordnete die Moskauer Prozesse als Zersetzungserscheinungen des Sozialismus ein.

Noch im Frühjahr 1938 konstruierte das NKVD ein weiteres Komplott mit der klaren Botschaft, die gegen deutsche Kommunisten, Emigranten u. a. m. gerichteten Repressionen zu verschärfen. Als Grundlage diente hierbei die fingierte Zeugenaus-sage eines NKVD-Mitarbeiters über eine angebliche Verschwörung deutscher Jugend-licher in der Sowjetunion unter dem Namen „Hitlerjugend“. In der Folge wurden ca.

70 weitere Personen verhaftet, zumeist Kinder von deutschen Emigranten, Fachar-beitern u. a. Dass nun der Höhepunkt des Terrors erreicht war und die Warnungen Vargas wenigstens teilweise Beachtung fanden, mag erklären, warum Pieck im April 1938 Dimitrov eine Liste von Verhafteten übermittelte, gegen die in der Kaderabtei-lung nichts Belastendes vorlag (Dok. 437). Nachdem die große Mehrheit der deut-schen Kommunisten in der Sowjetunion nicht mehr lebte, zeigte er sich nun davon überzeugt, dass 15 Personen, darunter P. Scherber (P. Schwenk), W. Kerff und W. Ditt-bender, keine Verbrechen gegen die Sowjetmacht begangen haben konnten und bat Dimitrov, ihre Freilassung zu erwirken. Die Stimmung unter den deutschen Kommu-nisten in der Sowjetunion schilderte derweil die Frau des verhafteten Kaderreferenten der KPD, Georg Brückmann, Ella Henrion, die sich in einem Brief an Stalin wandte (!):

„Jetzt ist die Stimmung unter den deutschen Genossen so: Sie stehen den vielen Ver-haftungen völlig ratlos gegenüber. Sie sagen: Es kann unmöglich sein, daß die deut-sche Partei in ihren Reihen so viele schlechte Elemente hatte, daß alle Verschickten wirklich Spione, Konterrevolutionäre usw. sind. (...) Ganz offen sagen die Genossen:

Es gibt keinen Zweifel, wir kommen alle dran“.406

Derweil protestierte Komintern-Generalsekretär Dimitrov tatsächlich bei Andrej Ždanov gegen die deutsch- und ausländerfeindliche Hetze in der Moskauer Zeitschrift Le Journal de Moscou, die kurz und bündig formuliert hatte, dass „jeder im Ausland 406 Brief v. Ella Henrions, die Frau des verhafteten Kaderreferenten der KPD, Georg Brückmann, an Stalin v. 29.10.1938. Ohne Archivangabe publ. in Müller, Menschenfalle Moskau, S. 144f.

lebende Japaner (...) ein Spion“, genauso wie „jeder im Ausland lebende deutsche Staatsbürger ein Gestapo-Agent“ sei. (Dok. 438). Fast gleichzeitig beschäftigte sich das Politbüro der KP der Sowjetunion mit einer Anfrage des Außenkommissariats zur Situation der Ausländer in der Sowjetunion (Politbüro VKP(b), 29.4.1938). Per Beschluss wurde das NKVD angehalten, das NKID über jede Verhaftung scher Staatsbürger in Kenntnis zu setzen. Sollte das NKVD Zweifel an der ausländi-schen Staatsbürgerschaft aufkommen, seien dem Außenkommissariat entsprechende Belege vorzulegen. Auszuweisenden Ausländern, die länger in der UdSSR gewohnt hätten oder sogar in der Sowjetunion geboren seien, solle eine vernünftige Frist zur Klärung ihrer Angelegenheiten eingeräumt werden.407

Der Sekretär der Internationalen Kontrollkommission, Wilhelm Florin wandte sich mehrmals brieflich an Dimitrov; so in der Angelegenheit Franz Huber, der nach der Verhaftung seiner Frau Anna Etterer aus der Partei ausgeschlossen wurde (Dok.

444). Unter Anführung von Passagen aus ihren Briefen („Ich unterschrieb alles, obwohl ich nicht lesen konnte, weil ich den Glauben an die Sowjetmacht nicht verlo-ren habe“) forderte er eine Überprüfung. Dimitrov leitete den Brief an Berija weiter, woraufhin die Frau freigelassen wurde. Huber selbst kam später in den auch nach 1938 nie gänzlich eingestellten Säuberungen um. Auch in einem weiteren Doku-ment wird Ulbrichts Zynismus deutlich, in dem er schreibt: „Die Tatsache, dass jetzt weniger deutsche Genossen in Moskau zu betreuen sind, erlaubt meines Erachtens eine Vereinfachung des Apparats durch Uebergabe der Unterstützungsfragen und der Arbeitsvermittlung an die MOPR.“ (Dok. 442).

Auch die Verfolgungen von Nationalitäten bzw. nationalen Minderheiten in der Sowjetunion wurden fortgesetzt. Durch einen Beschluss des Politbüros der KP der Sowjetunion vom 26. Mai 1938 wurden die am 31. Januar 1938 beschlossenen (blutigen) Säuberungen unter den nichtrussischen nationalen Gruppen (sowohl Ausländern als auch Sowjetbürgern) unter dem Deckmantel des Kampfes gegen „Spionage-Diversi-ons-Kontingente“ noch einmal bis zum 1. August 1938 verlängert, einschließlich der Deutschen. Trotz Beendigung des Massenterrors wurde der selektive Terror unvermin-dert fortgesetzt. Am 15. Juni 1939 beschloss das Politbüro der KP der Sowjetunion, die Einstellung der „Deutschen Zeitung“ zu veranlassen. Dabei handelte es sich um die ursprünglich für die Russlanddeutschen konzipierte Deutsche Zentral-Zeitung (DZZ), deren letzte Ausgabe einen Monat später erschien.408

Am 24. November 1938 endete eine Phase des Terrors. An diesem Tag nahm das Politbüro den „freiwilligen“ Rücktritt Nikolaj Ežovs von seinem Posten als Volkskom-missar für Inneres an. Der gefürchtete NKVD-Chef wurde von Lavrentij Berija abgelöst und nach seiner Verhaftung im Februar 1940 erschossen.409

407 RGASPI, Moskau, 17/162/23, 23.

408 RGASPI, Moskau, 17/3/1011, 42.

409 RGASPI, Moskau, 17/3/1003, 34, 82–84. Publ. in: Chlevnjuk, Kvašonkin, Košeleva, Rogovaja, Stalinskoe Politbjuro, S. 168–171.

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