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Sowjetische Außenpolitik und Komintern: Der Stalinismus als antirevolutionärer Nexus und die neue Zweigleisigkeit

Die äußerst vorsichtige, passive Haltung der Sowjetunion zur brutalen kolonialen Aggression Mussolinis gegen Abessinien im Oktober 1935, die mit der definitiven Annexion des Landes im Mai 1936 endete, markierte zugleich das Ende einer prinzi-piell antikolonialen und anti-imperialistischen Ausrichtung der Sowjetunion. Diese Transition war das bisher deutlichste Indiz für den neuen Typus der Zweigleisigkeit globaler kommunistischer Politik. Der italienische bewaffnete Überfall steht so für die Preisgabe des Antikolonialismus durch die Sowjetunion. Auf der Ebene der Komintern und der Massenorganisationen wurde dieser Prozess begleitet von der finanziellen und organisatorischen Austrocknung der von Münzenberg gegründeten „Liga gegen Imperialismus und für nationale Selbstbestimmung“, der wichtigsten internationa-len antikoloniainternationa-len und antiimperialistischen Organisation der Zwischenkriegszeit, die 1937 aufgelöst wurde.286 Die hier vorgelegten Dokumente belegen diesen Zusam-menhang für die antifaschistischen und auch antikolonialistischen internationalen Solidaritätskampagnen der Komintern seit 1934, die sich jedoch unter den gegebenen Bedingungen nicht der sowjetischen Außenpolitik anschließen konnte. Im Folgejahr öffnete sich die Schere zwischen Komintern und sowjetischer Staats- und Realpolitik noch weiter, als Giftgasangriffe und Massaker der italienischen Truppen eine Welle internationaler Proteste hervorriefen, denen sich auch der Völkerbund anschloss.

Mit der Begründung, man habe nicht genug Waffen und Instrukteure, wandte sich hingegen Stalin im Politbüro kategorisch gegen jede Hilfe und lehnte nicht nur die vom Roten Kreuz angemahnten Hilfslieferungen an die Bevölkerung,287 sondern auch einen Handelsboykott gegen Italien ab, der im Völkerbund diskutiert und zunächst auch vom Außenkommissariat unter Litvinov intern unterstützt wurde.288 Die Sowjet-union deckte in diesem Zeitraum ca. 40 % des italienischen Bedarfs an Erdöl. Mus-285 Rudolf Heß, Reden, S. 106.

286 Siehe hierzu neuerdings Fredrik Petersson: „We Are Neither Visionaries Nor Utopian Dreamers“.

Willi Münzenberg, the League against Imperialism, and the Comintern, 1925–1933. Doctoral Thesis.

General History Division for Arts, Education and Theology, History Department: Åbo Akademy 2013, http://doria17-kk.lib.helsinki.fi/bitstream/handle/10024/90023/petersson_fredrik.pdf?sequence=2 (15.9.2013).

287 RGASPI, Moskau, 17/162/19, 13.

288 RGASPI, Moskau, 17/162/18, 183, 188.

solini selbst sagte später, dass sich die italienischen Truppen bei einem Boykottbe-schluss durch den Völkerbund nur noch acht Tage hätten halten können, was den Rückzug aus Abessinien bedeutet hätte.289

Wie die „abessinische“, etwas später auch die „spanische Frage“ und nicht zuletzt das Appeasement gegenüber NS-Deutschland, müssen Phänomene wie der Terror als Ausrottung der Revolutionäre und dezidierter Kommunisten, die Zerschlagung der internationalen Kommunikationsinstrumente der Komintern und die Liquidierung der internationalen Kultur- und Solidaritätsorganisationen als fundamentale trans-nationale Markierungen und Transitionen verstanden werden. Dazu gehört auch das jüngst aufgearbeitete Ende der „Cultural Diplomacy“ zugunsten einer imaginierten

„across-the-board Soviet superiority“.290 All diese nun empirisch nachweisbaren strategischen Weichenstellungen verweisen auf den Paradigmenwechsel sowjeti-scher Politik und den fundamentalen antirevolutionären Systemwandel des Stalinis-mus, wie er besonders für die Sowjetunion bereits seit den 1960er Jahren vielfach von Robert C. Tucker, Moshe Lewin, Stephen F. Cohen oder auch Heller und Nekrich methodisch herausgearbeitet wurde.291 Dass bisweilen weiterhin in Frage gestellt wird und immer noch umstritten ist, ob Stalin (und seine Nachfolger) an einer weltre-volutionären Politik festhielten oder nicht,292 zeigt, dass die zahlreichen Geschichts-mythen, die das Verhältnis von Stalin zur Revolution tausendfach im umgekehrten Sinne heroisieren sollten, nicht vollends dekonstruiert wurden. Dies lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass viele der genannten (und ungenannten) Historiker die Geschichte der Komintern nicht intensiv erforscht oder sie nicht ausreichend mit der Geschichte der Sowjetunion korreliert haben. Ausnahmen wie Franz Borkenau und später Pierre Broué sowie Fernando Claudín wurden von der Sowjetunionfor-schung kaum rezipiert.293 Jedenfalls trägt der anhaltende Disput zur Verwirrung in der Zeitgeschichtsforschung des 20. Jahrhunderts bei.

289 Siehe hierzu Aleksandr V. Šubin: Mir na kraju bezdny: Ot global’noj katastrofy k mirovoj vojnje, 1929–1941 gody. Moskva: Veče 2004. S. 188.

290 Zu letzterem siehe Michael David-Fox: Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors tot he Soviet Union, 1921–1941, Oxford [u.a.]. Oxford University Press 2011.

291 Robert C. Tucker, Moshe Lewin, Stephen F. Cohen: Bolshevism and Stalinism. In: Stalinism. Es-says in Historical Interpretation. Hrsg. v. Robert C. Tucker. New York: Princeton University Press 1977.

S. 3–29; „Stalin had no need for revolution, nor was he interested in such things as ‘the emancipation of the working class’!“ (Heller, Nekrich: Utopia in Power. New York: Summit 1986. S. 311).

292 Teilweise wird auch noch für die Periode nach 1945 eine weltrevolutionäre Perspektive des Sta-linismus angenommen. Siehe: Andreas Hilger (Hrsg.): Die Sowjetunion und die Dritte Welt. UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991. München: Oldenbourg 2009. S.

7 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 99).

293 Borkenau, European Socialism. Zum spanischen Fall legte Broué eine Fallstudie vor, siehe Pierre Broué: Staline et la Révolution. Le cas espagnol (1936–1939). Paris: Fayard 1993; Vgl. Fernando Clau-dín: The Communist Movement. From Comintern to Cominform. 2 Bde. New York [u. a.]: Monthly Review Press 1975.

Im Gefolge der Ereignisse ließen sich die Widersprüche zwischen sowjetischer Außenpolitik und der Komintern nicht mehr verdecken. Im Gegensatz zur VKP(b) mobilisierte die Komintern die Kommunistischen Parteien gegen die italienische Aggression. Die neue Zweigleisigkeit dürfte im Kreml solange nicht als besonders störend empfunden worden sein, als die Komintern sich auf pazifistische und huma-nitäre Maßnahmen beschränkte und die Sowjetunion selbst nicht kritisierte. Das Aus-einanderklaffen von Komintern und sowjetischer Staats- und Außenpolitik war als notwendige Folge des „Sozialismus in einem Lande“ ein in der Geschichte des inter-nationalen Kommunismus nicht mehr zu verhinderndes, signifikantes Phänomen. In seiner schematischen Übernahme der Leninschen Maxime eines negativen Gleichge-wichts im Hinblick auf die sowjetische Außenpolitik ging Stalin grundsätzlich von der Notwendigkeit aus, die „feindlichen“ Lager gegen- und aufeinander hetzen zu müssen – zum Wohle der Sowjetunion. 1935 wählte er eine Variante dieses Schemas, als er glaubte, von einem gegenseitigen Vernichtungskampf zwischen zwei Lagern einer neuen Entente – der Entente Italien/Frankreich gegen die Entente England/

Deutschland – profitieren zu können. Im Interesse der Sowjetunion sollte dieser nun in die Länge gezogen werden.294 Da die Sowjetunion offiziell eine neutrale Haltung einnahm, ist es gut möglich, dass auch aus diesem Grund nicht nur eine Kritik von Mussolinis Gewaltakt gegen Abessinien, sondern auch eine Reaktion auf die zuneh-mende antibolschewistische und antisemitische NS-Propaganda seitens des Polit-büros abgelehnt wurde. Die sowjetische Zensur filterte sogar die Informationen aus Deutschland gegenüber der sowjetischen Bevölkerung.

Auf dem NSDAP-Parteitag im September 1935, der die „Rassengesetze“ beschloss, erreichte die antibolschewistische Hetze des NS-Regimes ihren bisherigen Höhe-punkt. Hitler sprach von der „Völkerverhetzung“ durch „jüdische Elemente“ der „bol-schewistischen Internationale“. Goebbels sekundierte ihm mit antikommunistischen Hetzparolen und Rosenberg mit seinen Lebensraumspekulationen im Osten. Molotov gab die Informationen über die Parteitagsreden an den Generalsekretär weiter, ver-bunden mit grassierenden Gerüchten über einen Bruch Deutschlands mit der Sow-jetunion. In einem nicht für die Presse bestimmten TASS-Bulletin vom 13. Septem-ber 1935 wurde die RosenSeptem-berg-Rede referiert, die ein Amalgam zwischen Marxismus, Judentum und Bolschewismus konstruierte; dabei verstieg Rosenberg sich in die Behauptung, dass diejenigen Kommunisten, die nicht Juden seien, nicht den Fami-lien der europäischen Völker angehörten, „sondern Kinder der Steppe [seien], wie Lenin“, „von den Juden, Kranken oder Halbverrückten angesteckt.“295

Daraufhin mit der Notwendigkeit einer Stellungnahme konfrontiert, sah Stalin nicht nur keinen Anlass für einen Protest, sondern zeigte sogar ein gewisses Verständ-nis für die Hetze, für die er die Komintern verantwortlich machte. Die sowjetische Presse solle deswegen keinen „hysterischen Lärm (...) veranstalten“, denn „Nürnberg 294 Chlevnjuk, Stalin i Kaganovič, S. 545.

295 RGASPI, Moskau, 558/11/89, 127.

ist die Antwort auf den Kongress der KI. Die Hitleristen können nicht anders, als sich in Beleidigungen ergehen, wenn man bedenkt, daß der Kongress der KI sie mit Unrat bedeckt und durch den Schlamm gezogen hat.“, konstatierte Stalin.296 Solche und ähnliche exkulpierende oder zumindest verharmlosende Äußerungen und Einschät-zungen des NS-Systems und die (eigentlich viel zu spät erfolgte) Wende der Komin-tern zum Antifaschismus durch Stalin lassen auch die nächstfolgende Terrorperiode in neuem Licht erscheinen.

Volksfront als Hebel zur „Nationalisierung“ und Diversifizierung

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