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Bis zum heutigen Tag nimmt der Zweite Weltkrieg den wichtigsten Platz im histo-rischen Gedächtnis Russlands ein. Die vom Sieg gekrönten Bemühungen der Sow-jetunion während des Krieges wiegen im historischen Diskurs stärker als die Erin-nerungen an die „dunklen Jahre“ der Kooperation der Diktatoren während des

442 Stellungnahme Ulbrichts v. 6.2.1940. Zit. in Bayerlein, Der Verräter, S. 216f., Fn. 15.

443 Entsprechende Dokumente siehe V. A. Gavrilov (Hrsg.): Voennaja razvedka informiruet. Doku-menty Razvedupravlenija Krasnoj Armii, janvar’ 1939 – ijun’ 1941 g.. Moskau 2008; Bayerlein, Der Verräter, S. 354–363.

deutsch-russischen Nichtangriffs- und Freundschaftspaktes von 1939 bis 1941. Bei Ausgang des Krieges bezeichnete George Orwell das Verschwinden des Paktes aus Schulbüchern und kollektivem Gedächtnis als Musterbeispiel für die rasche Auslö-schung eines historischen Ereignisses aus der historischen Erinnerung als Folge einer nationalistischen Manipulation von Geschichte.444

Andererseits erfüllte die Paktperiode zwischen 1939 und 1941 eine Schlüssel-funktion für die zentralen Wendungen und Transmutationen in den Nationalisie-rungsprozessen des stalinistischen Kommunismus als internationale Bewegung, der

„Nationalen Fronten“ oder der „Volksdemokratien“, die als Zentralmomente der Nach-kriegsgeschichte ohne ihre Entstehungsgeschichte nicht gänzlich verstanden werden können.445 Unter der Guideline des Paktes wurden neue Erzählungen gültig und neue Orientierungen umgesetzt. Für die deutschen Kommunisten bedeutete dies beispiels-weise eine neue Vorliebe für „nationale“ Schriftsteller, gegen das Exil,446 den Rück-griff auf das nationale Prinzip in der Musik (wie Richard Wagner)447 und insgesamt eine affirmative Bejahung des großrussischen nationalen Historizismus. Während ein solcher Zugang nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 der KPD verwehrt wurde, erfolgte im Verlauf des Zweiten Weltkrieges seine Ausdehnung auf weitere Kommunistische Parteien, speziell der Anti-Hitler-Koalition. Nach dem Krieg erfolgte dann im Rahmen der sog. „nationalen Geschichtsbetrachtung“ in der internationalen kommunistischen Bewegung eine Generalisierung dieses Zugangs.448

Die 1938 von Eugen Varga als gefährlich beschriebene Entwicklung erscheint nun als folgerichtiger Teil der Annäherung Stalins an Hitlerdeutschland. Dieser trug zur schnellen Zermürbung und Demoralisierung der Kader Kommunistischer Parteien in den faschistischen Ländern bei, die für den zukünftigen Krieg von zentraler Bedeu-tung gewesen wären. Die Paktperiode verdeutlicht auf beispielhafte Weise die

politi-444 George Orwell: Notes on Nationalism. London 1945. Online auch http://www.orwell.ru/library/

essays/nationalism/english/e_nat (10.7.2013).

445 Bis zur Implosion der Sowjetunion war der Stalin-Hitler-Pakt ein Tabu in der gesamten sow-jetisch beeinflußten Welt, einschließlich der Hauptopferstaaten Polen und der baltischen Länder.

Selbst nach der Veröffentlichung der Dokumente des deutsch-sowjetischen Nichtangriffs- und des Freundschaftspaktes wurden die folgenden Jahre bis zum deutschen Überfall kaum systematisch er-forscht. Siehe hierzu Aleksandr O. Chubaryan: Kanun tragedii. Stalin i meždunarodnyj krizis, senti-abr’ 1939–ijun’ 1941 goda. Moskva: Nauka 2008.

446 „Es hat sich erwiesen, daß einige Schriftsteller in der Emigration, die als fortschrittlich galten, sich mehr oder weniger auf die Seite der englisch-französischen Reaktion gestellt haben, während andererseits in Deutschland manche Schriftsteller tätig sind, die als fortschrittlich bezeichnet werden können, oder die sich in fortschrittlichem Sinne entwickeln können. (Notizen von U[lbricht?] an Di-mitrov „Zum weiteren Auftreten der mit uns sympathisierenden deutschen Schriftsteller“, 24.1.1940;

SAPMO-BArch, Berlin. RY 5/I 6/3/290, 7–9. Publ. in Bayerlein, Der Verräter, S. 227f.

447 Wagner’s „Walküre“ wurde im Moskauer Bolschoi-Theater im November 1940 gegeben. Siehe Wladislaw Hedeler, Nadja Rosenblum: 1940. Stalins glückliches Jahr. Berlin: BasisDruck 2001. S. 199.

448 Siehe für die DDR Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969. München: Oldenbourg 2001.

schen Mechanismen, Propaganda, Strategien, Umdeutungen, chaotischen Wendun-gen und rhetorischen VerschleierunWendun-gen, die im Namen des Kommunismus verwendet wurden, um den allgemeinen antifaschistischen Konsens der Linken aufzubrechen und den Antifaschismus ebenso wie die linke Solidarität zu zersetzen, um schließ-lich das nationale Prinzip endgültig zu etablieren. Zur selben Zeit wurden Konzepte wie die „Volksrepublik“, welche ihre volle Bedeutung erst nach dem Krieg erlangten, nach den Vorgaben aus der Paktperiode entwickelt. Stalins abstruse Doppelstrategie, von der aktiven Kooperation mit dem Nazi-Regime beim Aufbau einer neuen Welt-ordnung zu profitieren und die internationalen kommunistischen Strukturen diesem Zweck anzupassen, brach dann jedoch infolge der „Operation Barbarossa“ im Juni 1941 in sich zusammen.

Den Kommunistischen Parteien kam während der Paktperiode die Aufgabe zu, propagandistische Anstrengungen, im Sinne eines höchst nebulösen Antiimperialis-mus und eines abstrakten Protestes gegen den Krieg an sich, zu unternehmen und dabei jede fundamentale Kritik am nationalsozialistischen System zu vermeiden.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ausgelöst durch Hitlers Überfall auf Polen, erklärte die Komintern den „französisch-englischen Imperialismus“ zum Hauptfeind und nicht den Aggressor Hitlerdeutschland. Der blutige Vormarsch der Wehrmacht in Westeuropa wurde von Stalin und Molotov hingenommen und gerechtfertigt, implizit oder expressis verbis. Die Kommunistischen Parteien besetzter Länder wie Frankreich oder Belgien versuchten nach entsprechenden Instruktionen aus Moskau sogar mit den deutschen Besatzungsbehörden zu verhandeln, um ihre Legalität und die Her-ausgabe der Parteipresse zu erreichen. Stalins Winterkrieg gegen Finnland 1939/1940 und der Vormarsch der Roten Armee in Mittelosteuropa wurden von ihnen bejubelt, während Ernst Thälmann und tausende andere Kommunisten in den Konzentrations-lagern litten und starben. Intellektuelle, Verleger und linke Buchklubs, die dem neuen nationalen Kurs nicht folgten oder das Hitlerregime als gemeinsamen Feind betrach-teten, wurden dämonisiert und weiterhin als „Trotzkisten“ gebrandmarkt.449 Walter Ulbricht forderte nicht nur die Streichung des diffamierenden Wortes „Nazi“ aus dem Vokabular der Kommunistischen Partei, sondern auch die Legalisierung der deut-schen Kommunisten in Deutschland und rief die exilierten Kommunisten, die sich in benachbarten Ländern verbargen oder in Haft befanden, dazu auf, nach Deutschland zurückzukehren und sich an der Parteiarbeit im Reich zu beteiligen (!).450 Ebenso wie die Komintern schwiegen viele Kommunistische Parteien in der Periode von 1939 bis 1940 gegenüber den sich nun verstärkenden Verfolgungen der Juden.

449 Ein solcher Fall war der britische „Left Book Club“, der Schriften von linken Intellektuellen wie George Orwell und Arthur Koestler veröffentlichte. Die Komintern führte eine Dämonisierungskam-pagne gegen den Buchklub durch, dem er antikommunistische Veröffentlichungen vorwarf. Siehe Bayerlein, Der Verräter, S. 259.

450 Hierzu auch die bisher einzige Edition chiffrierter Telegramme der Komintern: Bernhard H. Bayer-lein, Mikhail Narinski, Brigitte Studer, Serge Wolikow (Hrsg.): Moscou-Paris-Berlin. Télégrammes chif-frés du Komintern 1939–1941. Paris: Tallandier 2003. S. 264 (Direction éditoriale: Denis Peschanski).

Auch wenn es während der Paktperiode keinen allgemeinen Widerstand gegen das Hitlerregime geben durfte, wurde die „neutrale“ Haltung der Kommunistischen Parteien freilich nicht im kompletten Zeitraum aufrechterhalten. Dies war einerseits auf den zunehmenden Druck einer weiterhin antifaschistisch eingestellten Mitglie-derschaft, andererseits auf die zunehmende Verhärtung der deutsch-russischen Beziehungen nach dem Molotov-Besuch in Berlin im November 1939 und zu Beginn des Jahres 1940 zurückzuführen. Weniger bekannt war bisher, dass die Komintern nach der Veränderung der internationalen Situation im Sommer 1940 die Kommu-nistischen Parteien in den besetzten Ländern instruierte, den deutschen Vormarsch zumindest propagandistisch zu verurteilen und – so seit Sommer 1940 – die nati-onale Selbstbestimmung für die besetzten Länder zu fordern. Offensichtlich hatte die sowjetische Führung die Niederlage Frankreichs, für die sie gleichwohl Hitler beglückwünscht hatte, samt ihrer desaströsen Konsequenzen nicht vorhergesehen und versuchte nun, im begrenzten Umfang zu reagieren und gegenzusteuern.451 Dies änderte jedoch nichts an den weiterhin guten Beziehungen mit NS-Deutschland auf bilateralem Niveau, während den Kommunistischen Parteien weiterhin untersagt blieb, Kontakte zu den politischen und militärischen Bewegungen des Widerstandes oder den antifaschistischen Strömungen in den Exilländern aufzunehmen.452

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