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Traditionsabbau und Selbstschöpfung: Gustave Geffroy und Octave Mirbeau Nicht nur für Rodins eigene Karriere, sondern auch für seine Eingliederung in die

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 95-106)

4.1 Zuversichtliche Zukunftsvisionen

4.1.2 Traditionsabbau und Selbstschöpfung: Gustave Geffroy und Octave Mirbeau Nicht nur für Rodins eigene Karriere, sondern auch für seine Eingliederung in die

Ge-nealogien des Impressionismus markierte das gemeinsame Ausstellungsprojekt mit Claude Monet (1840–1926) in der Galerie Georges Petit im Jahr 1889 einen prägnan-ten Moment.185 Die Präsentation von knapp 150 Werken von Monet und etwas über 30 Skulpturen von Rodin überstieg von Anbeginn den Anspruch eines bloß freund-schaftlichen Gemeinschaftsprojekts zweier Künstlerkollegen, durch das der Besucher zu einer vergleichenden Betrachtung impressionistischer Malerei und Skulptur einge-laden werden sollte. Ein Blick in die einführenden Essays der Kunstkritiker Octave Mirbeau (1848–1917) über Monet und Gustave Geffroy über Rodin kann aufzeigen, in-wiefern hier in einer überaus raffinierten Weise zwei Künstler zu Protagonisten eines radikalen Neuanfangs stilisiert wurden, der im Zeichen einer naturalistisch-impressio-nistischen Kunstauffassung stehen sollte. Im Folgenden möchte ich daher Geffroys Text in seinem Zusammenspiel mit Mirbeaus Einführungsessay zu Monet betrachten und einige rhetorische Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Geffroy wandte sich bereits, wie man seinem professionellen und unterhaltsamen Schreibstil entnehmen kann, an eine breitere Öffentlichkeit. Rodins Modernität sah er darin gipfeln, dass der Künstler die Tradition einer akademischen Vorläufergeneration gesprengt und sich zugleich, sozu-sagen im Akt einer fast voraussetzungslosen Selbstschöpfung, eine neue künstlerische Vergangenheit erschaffen hat. Mirbeau und Geffroy erzeugten also durch ihre Essays eine Art von ›Interferenzeffekt‹, der sich erst aus einer vergleichenden Lektüre der Künstlerschicksale von Monet und Rodin zu erkennen gibt: Sobald sich der eine Text im jeweils anderen widerspiegelt, schälen sich auch gemeinsame Strukturprinzipien einer neuartigen Konzeption von künstlerischer Subjektivität heraus. Dadurch unter-streichen die Co-Autoren zugleich ihren Anspruch, Monets und Rodins Epochengel-tung im Sinne einer naturalistisch-impressionistischen Ästhetik kenntlich zu machen.

Für Geffroys Interpretation des Höllentors bleibt eine solche Zielsetzung freilich nicht ohne Konsequenzen.

Durch den Bedeutungszuwachs kommerzieller Galerien in den 1870er-Jahren wie derjenigen von Paul Durand-Ruel (1831–1922) oder eben auch von Georges Pe-tit  (1856–1920) erfuhr das französische Kunstsystem eine tiefgreifende Umwälzung.

Bis dahin waren es vor allem die Akademie sowie die jährlichen Salons, die für die Präsentation und den Verkauf von Kunstwerken an das Publikum zuständig waren und die somit auch eine erste Selektion vornehmen konnten. Den Kunstkritikern kam in diesem institutionellen Gefüge primär die Rolle von Vermittlerfiguren zu, die dem Salonbesucher angesichts der schieren Masse an präsentierten Werken Orientierung bieten wollten. Mit ihren Kommentaren lenkten sie die Aufmerksamkeit auf besonders innovative Werke. Selbst Charles Baudelaire könnte man noch – zumindest in einer so-zialgeschichtlichen Hinsicht – zu diesem Typus von Kunstkritiker zählen. Beanspruch-ten die Salonausstellungen noch, ein weithin gültiges und somit auch umfassendes Panorama der zeitgenössischen Kunstproduktion zu präsentieren, so entwickelte die

185 Vgl. hierzu den Aufsatz Monet et Rodin von Pierre Gassier in: Vilain (Hg.), Claude Monet – Auguste Rodin (wie Anm. 120), 23ff.

Galerie von Paul Durand-Ruel für die Impressionisten ab der zweiten gemeinsamen Ausstellung im Jahr 1876 eine neuartige, weil nachdrücklich kommerziell orientierte Plattform. Die Frage, ob ein Künstler oder eine Künstlergruppe auf dem Kunstmarkt Erfolg haben konnten, hing nun in entscheidendem Maße von der unternehmerischen Umtriebigkeit des Galeristen und von seinen Verkaufs- und Präsentationsstrategien ab.

Doch auch den Kunstkritikern kam nun eine veränderte Aufgabe zu. Harrison C. und Cynthia A. White haben das in wechselseitiger Abhängigkeit stehende Gespann von Händler und Kritiker überzeugend als ein Dealer-Critic-System bezeichnet. Nicht mehr die Bewertung einzelner Gemälde oder Künstler war nun die Aufgabe der Kunstkri-tiker, sondern zunehmend die gezielte Förderung einzelner Künstlerkarrieren. So ist innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums ein dichtes System aus wechselsei-tiger Loyalität zwischen Kunsthändlern, Kunstkritikern und Künstlern entstanden.186 So hilfreich und anschaulich das Modell ist, so hat es doch auch kritische Einwände provoziert. Robert Jensen hat zu bedenken gegeben, dass der Erfolg des Dealer-Critic-Systems bei einer nüchternen Betrachtung der Verkaufszahlen zumindest in Frankreich weniger überwältigend gewesen sein dürfte, als es die Darstellung der Whites nahelegt.

Tatsächlich bedürfe es, so Jensen, einer Ausweitung des Betrachtungsrahmens auf den internationalen Kunstmarkt, um die Auswirkungen dieser neuartigen Form kommerzi-eller Verkaufsstrategien in ihrer ganzen Reichweite beobachten zu können. Zumindest in Frankreich blieb also der Salon ungeachtet der neu entstandenen Konkurrenz durch private Galerien weiterhin eine machtvolle Institution.187 Dennoch ist das Modell des Dealer-Critic-Systems hilfreich, um die rhetorischen Strategien von Geffroy in dessen Einleitungsessay zu Rodin historisch verorten zu können. Auch dieser Kunstkriti-ker schrieb sich nicht mehr so sehr die Rolle zu, als kritische Instanz des öffentlichen Kunstgeschmacks zu wirken, sondern er richtete seine Energien entschieden auf die Förderung von Einzelkarrieren wie derjenigen von Rodin.

In jenem tiefgreifend veränderten Kunstsystem nahm die im Jahr 1882 gegründete Galerie von Georges Petit eine singuläre Stellung ein. Petit orientierte sich am Modell der Londoner Grosvernor Gallery und achtete auf eine besonders luxuriöse, ja geradezu opulente Gestaltung seiner Galerieräume, die einen wirkungsvollen Rahmen für seine jährlichen Ausstellungen von ausgewählten Künstlern bieten sollten. In den darauffol-genden Jahren haben neben Künstlern wie Camille Pissarro (1830–1903), Jean-François Raffaëlli (1850–1924) und James McNeill Whistler (1834–1903) auch Monet und Rodin in regulären Abständen in den weitläufigen Räumen dieser Galerie ausgestellt.188 Zwar wurde im Jahr 1888 der Plan einer gemeinsamen Präsentation von Werken von Rodin, Monet, Auguste Renoir (1841–1919) und Whistler gefasst, doch wurde diese Idee bald schon zugunsten einer Doppelausstellung von Rodin und Monet verworfen. Obwohl beide Künstler im selben Jahr, nämlich 1840, geboren wurden, nahmen ihre Karrieren dennoch höchst unterschiedliche Verläufe an. Folglich hat die gemeinsame Ausstellung

186 Vgl. Harrison C. White/Cynthia A. White, Canvases and Careers: Institutional Change in the French Painting World, New York 1965, 94f., URL: https://books.google.de/books?id=2D_ehhO_14QC (Zugriff vom 01.01.2017).

187 Vgl. Robert Jensen, Marketing Modernism in Fin-de-Siècle Europe, Princeton 1994, 49ff., URL:

https://books.google.de/books?id=KnFUALV5xEoC (Zugriff vom 01.01.2017).

188 Vgl. Ders., Marketing Modernism (wie Anm. 187), 63ff.

für Monet und Rodin eine unterschiedliche Wichtigkeit gehabt.189 Monet hat seine gro-ßen Erfolge bereits in den 1860er-Jahren mit der Ausstellung des Frühstücks im Freien und dann bei den Impressionistenausstellungen gefeiert. In den 1880er-Jahren dagegen verkaufte er seine Werke mit Unterstützung der Galerie Durand-Ruel vornehmlich an private Sammler. Rodins Karriere wiederum hat zunächst lange auf sich warten lassen;

doch spätestens seit dem im Jahr 1880 erteilten Auftrag für das Höllentor und seiner Er-nennung zum Mitglied der légion d’honneur im Jahr 1887 zählte er zu den anerkannten Künstlern mit hoher Reputation. Bildete die Ausstellung für Monet also eher eine um-fassende Retrospektive seines Schaffens, so ermöglichten die präsentierten Skulpturen und Plastiken von Rodin einen Einblick in sein momentanes und vor allem auch einen Ausblick auf zukünftiges Schaffen. Monet hat sich nur ein Jahr nach der Ausstellung bei Georges Petit ein Anwesen in Giverny gekauft und sich so von der Pariser Kunstszene auch in räumlicher Hinsicht schrittweise distanziert.

Nicht nur Galerien wie diejenige von Georges Petit, sondern auch Kunstkritiker wie Gustave Geffroy reagierten in ihren Geschäftspraktiken wie auch in ihren Publikati-onsformen auf ein verändertes Kunstsystem, das verstärkt von kommerziellen Inter-essen und spürbaren Konkurrenzsituationen geprägt war.190 Der im Jahr 1855 in Paris geborene und im Jahr 1926 ebendort verstorbene Kunstkritiker, der sich aber auch als Romancier, Journalist und Historiker betätigte, ist heute vor allem für seine berühmte, im Jahr 1892 veröffentlichte Histoire de l’Impressionisme bekannt, die allgemein als die erste kohärente Gesamtdarstellung dieser Kunstbewegung gilt. Sie speiste sich vor al-lem aus seinen kunstkritischen Beiträgen, die sich über die Jahre hinweg angesammelt haben.191 Obwohl überliefert wird, dass Geffroy ein eher zurückhaltender Zeitgenosse gewesen sein musste, bildete er im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere ein eng-maschiges Netzwerk aus Gönnern, Künstlerfreunden, Politikern und Protagonisten der damaligen Kunstszene aus, das es ihm schließlich erlauben sollte, in der von Georges Clemenceau (1841–1929) gegründeten Zeitschrift La Justice zu einem der populärsten und einflussstärksten Kritiker einer gemäßigten Linken aufzusteigen.192 Über Edmond de Goncourt kam Geffroy mit der naturalistischen Strömung in Kontakt. Bald schon zählten Émile Zola und Hippolyte Taine zu seinen intellektuellen Orientierungsfi-guren.193 Wenn Geffroy für uns heute nicht mehr unbedingt zu den prominentesten Kunstkritikern seiner Zeit zählt, so dürfte dies kaum an seinem ebenso anschaulichen wie präzisen Schreibstil liegen. Eher sind es seine künstlerischen Präferenzen, die mit dem gegenwärtigen Bild der Erfolgsgeschichte moderner Malerei und Skulptur vom Im-pressionismus zu den Avantgarden nicht mehr unbedingt kongruent sind. Tatsächlich war der Kunstkritiker vor allem in den 1880er-Jahren, also in seinen späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren, ganz auf der Höhe seiner Zeit. Späteren künstlerischen

189 Vgl. hierzu das Vorwort von Jacques Vilain in: Vilain (Hg.), Claude Monet – Auguste Rodin (wie Anm. 120), 11ff.

190 Vgl. zur Biografie, zur intellektuellen Karriere und zur Publikationstätigkeit die umfassende Disserta-tion von JoAnne Paradise: JoAnne Paradise, Gustave Geffroy and the Criticism of Painting, New York/

London 1985 (zugleich Diss./Stanford 1982).

191 Vgl. Dies., Geffroy (wie Anm. 190), 249ff.

192 Vgl. Dies., Geffroy (wie Anm. 190), 8ff.

193 Vgl. Dies., Geffroy (wie Anm. 190), 12ff.

Strömungen, vor allem dem Neoimpressionismus und dem Symbolismus, begegnete er zwar nicht mit offener Ablehnung, aber doch mit einem gewissen Unverständnis und einer spürbaren Reserviertheit. Geffroy gilt uns heute auch noch als glühender Vereh-rer und langjähriger Unterstützer von Monet, Pissarro und Edgar Degas, aber auch von Paul Cézanne (1839–1906), deren Werke er auf eindringliche Weise zu vermitteln und deren Karrieren er tatkräftig zu unterstützen vermochte. Er verstand es so, auch den späten Impressionismus im Ausgang einer naturalistisch geprägten Ästhetik wortge-wandt als Visualisierung einer zeitgemäßen Wahrnehmungsform zu konturieren, etwa wenn er über Monets Serien von Pappeln schrieb:

Dans les tableaux des Peupliers, cette présence réelle des formes et leur subite éva-poration sont exprimées avec une noblesse et un charme véritablement exquis et émouvants. Les hautes tiges sont en même temps des lueurs. Les feuillages qui des-sinent le bord sinueux de la rivière tournent comme une ronde aîlée. En retrait de la première plantation des arbres, l’ellipse des arbres du fond s’avance, s’allonge, presque triangulaire, à la façon d’un vol d’oiseaux migrateurs conduits par un chef. Ce grand dessin des choses que toujours Monet a voulu et exprimé, par les crêtes de massives falaises, par les arrivées concentriques de lames, par les circuits de rivières et les mamelonnements de collines, voilà qu’il le trace dans l’air, gra-cieux, souple, par le frisson léger des feuilles, et qu’il le répète et symétrise encore par le reflet dans l’eau tremblante de cette couronne suspendue dans l’air fluide.194 Andererseits aber sah Geffroy – und hier zeigt sich die Zeitgebundenheit seiner kunst-kritischen Einlassungen – in einem Künstler wie Jean-François Raffaëlli einen gleichbe-deutenden Vertreter dieser Künstlergeneration. Die anekdotisch anmutenden Milieu-studien der Lebensräume der Pariser Banlieues, die Raffaëlli bekannt gemacht haben, würden wir heute wohl kaum mehr zur künstlerischen Vorhut des Impressionismus zählen.195 Geffroys Begeisterung für Raffaëlli war sicherlich auch seinem Interesse für die Milieutheorien von Hippolyte Taine geschuldet, die dieser Künstler in fast konge-nialer Weise in Bilder zu übersetzen schien. Einem Künstler wie Georges Seurat (1859–

1891) konnte Geffroy zwar noch zugestehen, dass er in seinen Werken die noch junge Tradition der impressionistischen Bildtechniken fortzuführen vermochte.196 Dem-gegenüber schien ihm ein rigoros praktizierter Divisionismus, der offensiv auf eine wissenschaftliche Begründung des Impressionismus setzte und dabei die Eleganz des malerischen Duktus vernachlässigte, schon als eine allzu gewollte Übersteigerung die-ses künstlerischen Idioms.197 Nicht weniger befremdeten Geffroy die idealisierenden, spirituell eingefärbten oder primitivistischen Tendenzen des Symbolismus. In der os-tentativ hervorgekehrten Naivität eines Paul Gauguin (1848–1903) oder der Gruppe der Nabis fehlte ihm sowohl das offene Bekenntnis zur urban geprägten Modernität als auch zu einer genuin naturalistischen Naturerfahrung, wie sie seinen unmittelbaren Lebensraum zeitlebens prägte:

194 Gustave Geffroy, La Vie artistique, Bd. III, Paris 1894, 93f., Permalink: http://www.purl.org/yoolib/

inha/5760 (Zugriff vom 01.01.2017).

195 Vgl. Paradise, Geffroy (wie Anm. 190), 206ff.

196 Vgl. Dies., Geffroy (wie Anm. 190), 366ff.

197 Vgl. Dies., Geffroy (wie Anm. 190), 372f.

Hélas! Il faut craindre qu’il ne s’agisse que de la peinture d’hier et même d’avant-hier, si ces peintres qui se proclament idéistes ne savent pas trouver le contact nécessaire entre leur état d’esprit et la nature. […] c’est un art, non d’après la vie, mais d’après l’art. C’est la proclamation de la naïveté par des moyens de trans-cription réappris, – facilement ou péniblement, selon le cas – dans les œuvres déjà acquises, classées, chronologiquement dans les salles des musées.198

Kommen wir nun aber zu Geffroys Lektüre von Rodin und dessen Höllentor.199 Gleich zu Beginn seines Aufsatzes macht Geffroy mit einem Zitat aus Stendhals (1783–1842) Histoire de la Peinture en Italie aus dem Jahr 1817 deutlich, welche historischen Erwar-tungen auf dem Bildhauer im Blick der Zeitgenossen lasteten. In der Histoire de la Pein-ture en Italie hatte Stendhal zuvor schon seinen Hoffnungen nach einer Erneuerung der Skulptur durch einen »neuen Michelangelo« Ausdruck verliehen.200 Mit einer typologi-schen Pointe wird der italienische Meister nun von Geffroy als Figur einer Verheißung eingeführt, deren Erfüllung sich erst mit dem Auftauchen Rodins verwirklichen sollte.

In einer »rapide biographie« erzählt Geffroy sodann von den prekären Anfangsbedin-gungen, unter denen Rodins frühe Künstlerkarriere gestanden hat und die zu diesem Zeitpunkt schon freilich selbst zu einer oft zitierten Anekdote geworden waren. Zudem verortet er seine eigenen Überlegungen zu dem Künstler in einem kulturellen Umfeld, das sich der kunsthistorischen Bedeutung des Künstlers bereits bewusst geworden ist und das ihm deshalb auch mit Ehrenabzeichen und Banketten seine Reverenzen erwie-sen hat.201

Mit einer protokinematografisch anmutenden Erzählstrategie führt Geffroy den Leser im weiteren Fortgang seines Essays durch jenes Pariser Viertel in der Nähe des Champ de Mars, in dem sich Rodins Atelier befand. Basierte Edmond de Goncours Ta-gebucheintrag über den Besuch des Ateliers noch auf einem Ereignis, das wohl tatsäch-lich so stattgefunden haben dürfte, so hat man es bei Geffroy nun mit einer Erzählform zu tun, die zutiefst inszeniert und auf ihre genuinen Wirkungseffekte hin kalkuliert wirkt, sodass man sich als Leser nicht mehr sicher sein kann, ob es sich dabei um eine ausgeschmückte Nacherzählung eines Besuchs oder aber um eine fiktionale Szenerie handelt. Bei Geffroy jedenfalls ist der »promenade« hin zur Stätte des Kunstschaffens schon ein spannungssteigerndes Moment eingeschrieben, durch das die imaginierte Begegnung mit dem Künstler auch zeitlich heraus gezögert wird. Als Künstlerfigur wird Rodin selbst zunächst über eine physiognomische Beschreibung eingeführt. Fast beiläufig kann Geffroy so das vom literarischen Realismus inspirierte Verfahren der Lektüre von Körpern und Gesichtern vorführen, das auch seine Deutungsstrategie im Blick auf die Skulpturen und Plastiken im weiteren Verlauf seiner Argumentation prä-gen wird. In einer regelrechten demonstratio ad oculus führt uns der Kunstkritiker so vor das Antlitz und die Gestalt des Künstlers. Im vorurteilsfreien Blick, wie ihn der

198 Gustave Geffroy, La Vie artistique, Bd.  II, Paris 1893, 384, Permalink: http://www.purl.org/yoolib/

inha/5759 (Zugriff vom 01.01.2017).

199 Zum Verhältnis von Geffroy und Rodin vgl. Janin Salbert, Geffroy et Rodin, in: Annales de Bretagne 70/1 (1963), 105–121.

200 Vgl. Gustave Geffroy, Auguste Rodin (Faksimile des Katalogtextes von 1889), in: Vilain (Hg.), Claude Monet – Auguste Rodin (wie Anm. 120), 47–84, hier 47.

201 Vgl. Ders., Rodin (wie Anm. 120), 48.

Naturalismus und Impressionismus kultiviert haben, begegnen wir als Leser einem durch und durch arbeitsamen und uneitlen Bildhauer:

Regardez l’homme et comprenez l’œuvre. L’homme, il est là, devant vous, les vêtements tâchés de plâtre, les mains poissées de terre glaise. Il est petit, trapu et tranquille. Tous les traits du visage apparaissent à la fois, car tous ils sont caracté-ristiques. Entre les cheveux, coupés courts, et la longue barbe qui descend à flots blonds sur la poitrine, un visage fin, passant du distrait au soucieux, et du soucieux au souriant, se masque de préoccupations et s’éclaire de joie paisible et de bonté silencieuse.202

Von der spöttischen Sozialcharakteristik, wie wir sie bei Goncourt gesehen haben, ist in Geffroys Glorifizierung von Rodins unprätentiösem Habitus nicht mehr viel übrig.

Ein weiteres Schlüsselmoment seines Zugangs zu Rodin findet sich in der Schilderung von dessen künstlerischer Herkunft. Die zeitgenössischen Zuordnungen, wie man sie in den sogenannten Salon-Livrets finden konnte, wo Rodin oft als »Élève de Barye et de Carrier-Belleuse« ausgewiesen wurde, können für Geffroy nur auf eine ganz vorder-gründige und unwesentliche Abstammungslinie verweisen.203 Lediglich das technische Handwerkszeug für die Bildhauerkunst habe Rodin von Antoine-Louis Barye (1796–

1875) erlernt. Noch eindeutiger fällt sein Urteil hinsichtlich der Rolle von Albert-Ernest Carrier-Belleuse (1824–1887) für Rodins künstlerischer Entwicklung aus: Dessen Be-deutung wird gar auf seine bloße Rolle als Arbeitgeber für den Bildhauer beschränkt, ganz ähnlich wie es oft für Antoine Joseph van Rasbourg (1831–1902) gilt, bei dem sich der Künstler in der schwierigen Zeit der Brüsseler Jahre verdingt hat.

Blicken wir von hier auf Octave Mirbeaus Einführungstext über Monet. In Abset-zung zu Geffroy, aber nicht ohne rhetorische und konzeptuelle Parallelen wählt Mir-beau mit dem Thema des Schüler-Lehrer-Verhältnisses einen anekdotischen Einstieg.

Bei Mirbeau hat gleich zu Beginn ein junger Maler seinen Auftritt, der gerne bei Monet in die Lehre gegangen wäre. Jedoch sei er von diesem mit einem doppelten Argument abgewiesen worden: Als vielbeschäftigter impressionistischer Maler habe Monet laut eigener Aussage weder die Zeit gehabt, der Tätigkeit eines Kunstprofessors nachzuge-hen, noch sei ein Lehrer-Schüler-Verhältnis mit seinen künstlerischen Überzeugungen in Einklang zu bringen. Schon hier lässt sich ahnen, auf welche Pointe Mirbeaus An-ekdote hinauslaufen wird: Der einzige Lehrer eines impressionistischen Künstlers, so Monet schließlich zu dem jungen Künstler, sei freilich die Natur selbst, wie sie sich im Himmel und in der Landschaft zeige. Zudem sei das klassische Schüler-Lehrer-Ver-hältnis ohnehin nur eine überkommene Tradition der akademischen Kunstproduktion, die stets von einem normativen und schon unzeitgemäß gewordenen Schönheitsideal dominiert wurde:

Transmettre de génération en génération, théoriquement, mécaniquement, des lois fixes du beau; enseigner la méthode d’être ému d’une façon correcte et semblable, devant un morceau de nature, transformé en thème de bavardage scolastique,

202 Ders., Rodin (wie Anm. 120), 50f.

203 Ders., Rodin (wie Anm. 120), 52.

comme on apprend à métrer des pièces de soie ou à confectionner des bottes, cela semble, au premier abord, un extravagant métier.204

Künstlerische Originalität im Sinne einer impressionistischen Ästhetik lasse sich also nicht im Sinne einer Regelpoetik erlernen. Der wahre Künstler habe sie dagegen in sich selbst zu entdecken. Wie bei Geffroy, so gelten auch bei Mirbeau die gewohnheitsmäßig in den Ausstellungslivrets angegebenen Lehrer als ein bloßes Tribut an die »scholasti-sche« Tradition der künstlerischen Ausbildung. Den wirklichen Abhängigkeitsverhält-nissen könne diese Filiationsreihe jedoch kaum Rechnung tragen:

Avec M. Claude Monet, nous sommes loin de la tradition. Une de ses grandes ori-ginalités, c’est qu’il n’a été l’élève de personne. Il se trouve dans cette situation rare

Avec M. Claude Monet, nous sommes loin de la tradition. Une de ses grandes ori-ginalités, c’est qu’il n’a été l’élève de personne. Il se trouve dans cette situation rare

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 95-106)