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Schmerzens-Figuren/Begehrens-Figuren: Stuart Merrill und Arthur Symons Mit der im Jahr 1900 parallel zur Weltausstellung veranstalteten Einzelausstellung in

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 125-134)

4.2 Szenarien des Aufschubs

4.2.3 Schmerzens-Figuren/Begehrens-Figuren: Stuart Merrill und Arthur Symons Mit der im Jahr 1900 parallel zur Weltausstellung veranstalteten Einzelausstellung in

einem Pavillon an der Place de l’Alma formte sich Rodins Schaffen im Blick des Pu-blikums erstmals zum Bild eines Œuvres. Und doch schien dieses Gesamtwerk von

266 Nur beiläufig sei erwähnt, dass Derridas Figur der »différance« (im Sinne der darin eingelagerten Doppelbedeutung von einerseits Aufschub und andererseits Verschiebung) vielleicht eher für eine postmoderne Revision der bildhauerischen Praxen des Künstlers geeignet scheint, als die ihrem Ges-tus nach doch stets modernekritische Rede von der Reproduzierbarkeit, die die Vorstellung des Ori-ginals verdrängt. Vgl. Jacques Derrida, Die différance, übersetzt von Eva Pfaffenberger-Brückner, in:

Ders., Die différance. Ausgewählte Texte, mit einer Einleitung herausgegeben von Peter Engelmann, Stuttgart 2004, 110–149, hier 125f., 134.

Anbeginn darauf angelegt zu sein, in struktureller Hinsicht unabschließbar zu bleiben.

Zugleich aber war diese Ausstellung auch entscheidend für die kunsthistorische Stili-sierung des Bildhauers zu einem paradigmatischen Bildhauer der Moderne selbst.267 In den hellen Sälen des eigens für die Ausstellung gebauten Pavillons gesellten sich neben weniger prominenten Werken Gipse von bekannten Skulpturen und Plastiken wie die Bürger von Calais, das Denkmal des Balzac und das Höllentor – allerdings ohne einen Großteil der eigentlichen Figuren.268 Antoinette Le Normand-Romain hat sich für eine genuin modernistische Deutung dieser Kuriosität ausgesprochen, da Rodin

»auf der Suche nach dem Wesentlichen bei seinen Skulpturen mehr und mehr auf alles Überflüssige verzichtete.«269 Zwar wissen wir heute, dass diese Ausstellung weniger gut besucht war, als es in der kunsthistorischen Literatur oftmals angedeutet wird, aber angesichts der spürbar über die nationalen Grenzen hinausgehenden Presseresonanz kann es als gesichert gelten, dass dieses Ereignis den internationalen Ruhm des Künst-lers nachhaltig beförderte. Schon zu diesem Zeitpunkt schien Rodins Œuvre, wie wir sehen werden, für die Zeitgenossen eine gewisse innere Geschlossenheit aufzuweisen;

und tatsächlich sollten sich die Jahre nach 1900, zumindest in Bezug auf Rodins noch heute weithin bekannte Meisterwerke, nicht mehr als die produktivste Zeit des Bild-hauers erweisen.270

Die Ausstellung selbst wurde von zahlreichen Publikationen und Zeitungsartikeln begleitet. So hat Anna Tahinci errechnet, dass allein zwischen den Jahren 1899, als die Ausstellung in Planung war, und 1901, als der Pavillon dann schließlich in Meudon re-konstruiert wurde, über 600 Artikel zu Rodin in der französischen und internationalen Presse erschienen waren.271 Angesichts solcher Zahlen lässt sich erkennen, dass die Rede von der notwendigen Ausschnitthaftigkeit der hier versuchten Analyse keines-wegs eine bloß rhetorische Bescheidenheitsfloskel ist. Zwei Aspekte stechen in diesem Schrifttum besonders hervor: Zum einen zeichneten sich diese nun öfter, als man es von früheren Autoren gewohnt war, durch eine enge Verklammerung von biografi-schen Schlüsselmomenten mit einem Überblick zu Rodins bildhauerischem Schaffen aus. Auf der anderen Seite sind diese Darstellungen von einem spürbaren Originali-tätsstreben im jeweiligen Deutungszugriff auf das Werk des Künstlers geprägt. Man darf dies sicher auch als Folge eines gestiegenen Konkurrenzdrucks im Kampf um die Deutungshoheit zu Rodins Werk begreifen. Die immer zahlreicher werdenden Auto-ren, die sich mit Rodin beschäftigten, sahen sich zunehmend gezwungen, sich vor der schieren Masse an Kommentaren und journalistischen Randnotizen zu dem Bildhauer abzuheben. Auch um eine drohende Tendenz zur Wiederholung immer gleicher Ar-gumentationsmuster im Schreiben über Rodin zu vermeiden, wurden nun einzelne Aspekte aus dem Gesamtwerk systematisch herausgelöst und sodann als werksüber-greifende Interpretationsschlüssel für ein kunstinteressiertes Publikum präsentiert.

267 Vgl. Antoinette Le Normand-Romain/Jesette Grandazzi (Hg.), Rodin en 1900. L’exposition de l’Alma (Ausstellungskatalog: Paris, Musée du Luxembourg, 12.03–15.07.2001), Paris 2001.

268 Vgl. für eine umfassende Dokumentation: Alain Beausire, Quand Rodin exposait, Paris 1988, 159–207.

269 Le Normand-Romain/Lampert (Hg.), Rodin (wie Anm. 153), 61.

270 Vgl. Butler, Rodin (wie Anm. 6), 358ff.

271 Vgl. Anna Tahinci, Revue de Presse, in: Le Normand-Romain/Grandazzi (Hg.), Rodin en 1900 (wie Anm. 267), 61–64.

Diese Stilisierungstendenz tritt besonders deutlich in einigen Sonderausgaben der Zeitschrift La Plume aus dem Jahr 1900 zutage, die als kunstkritische Begleithefte zur Ausstellung an der Place de l’Alma konzipiert wurden.

Wie die kunstkritischen Essays des amerikanischen Dichters Stuart Merrill (1863–

1915)272 und des englischen Lyrikers Arthur Symons (1865–1945)273 zeigen, wurde der leidende, aber auch der sexuell begehrende Körper zu einer grundlegenden Dimension von Rodins Werken, aber auch von seinem Schaffen selbst erklärt. Nicht nur galt es, in der Herausarbeitung dieser Aspekte die ästhetische Aktualität der Rodinschen Skulp-turen und Plastiken zu untermauern, sondern diese sollten zugleich als ›poetologische‹

Dimensionen seines Schaffens selbst verstanden werden. Merrill und Symons galten das Pathos und das Begehren nicht mehr als singuläre, wenn auch hervorstechende Ele-mente von Rodins Werk, sondern als werksübergreifende Antriebsfedern seiner bild-hauerischen Praxis wie auch seiner skulpturalen Motivik. Hatte man diese erkannt, so das latent mitschwingende Versprechen dieser Schriften, so hatte man auch einen Deu-tungsschlüssel für das Gesamtœuvre in der Hand. Merrill, der dem französischen Sym-bolismus nahestand, und Symons, der sich für ein Bekanntwerden dieser Kunstströ-mung in seinem Heimatland England einsetzte, werden daher auf den folgenden Seiten nicht nur als Protagonisten eines internationalen Kulturtransfers vorgestellt, sondern als Akteure einer Reflexion über die ›poetologischen‹ Aspekte von Rodins Schaffen, insofern sie ein Nachdenken über die Möglichkeitsbedingungen von Skulpturen und Plastiken stimulierten. Während die Schriftsteller mit ihren Texten offenkundig daran arbeiteten, den Künstler und sein Werk im Horizont einer an Arthur Schopenhauer und Charles Baudelaire orientierten Ästhetik und Erkenntnistheorie zu begreifen, par-tizipierten sie zugleich doch auch an jener übergreifenden Denkbewegung, die in die-sem Kapitel nachgezeichnet wird: Wie schon im Fall der französischen Kritiker, die sich intensiv mit dem Höllentor beschäftigten, zielen auch die Interpretationen von Merrill und Symons darauf ab, Rodin mit subtilen rhetorischen Verfahren und argumentativen Manövern allmählich in die Immanenz seines eigenen Werkes hineinzuziehen. Auch an den Texten von Merrill und Symons lässt sich also jene Bewegung der Überschreitung studieren, durch die die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität, also zwischen der Figurenkunst und der Künstlerfigur selbst, eine allmähliche Öffnung erfuhr.274

Schon in dem einführenden Essay des ersten Bandes der Sonderausgabe von La Plume, den Stuart Merrill verfasst hat, wird, wenn man ihn mit der früheren Kunstkri-tik vergleicht, eine veränderte Wahrnehmung von Rodins Schaffen spürbar. Selbst der Titel scheint auffallend bedeutungsschwer, ja prätentiös: La Philosophie de Rodin. In diesem Text wird die symbolistische Kunsttheorie, die zu diesem Zeitpunkt sicher kein Novum mehr war, in einer eher resümierenden Weise nochmals aktualisiert. Zudem

272 Vgl. Stuart Merrill, La Philosophie de Rodin, in: Auguste Rodin et son œuvre, Sonderausgabe von La Plume (1900), 17–19, Permalink: http://musee-rodin.bibli.fr/opac/index.php?lvl=notice_

display&id=26430 (Zugriff vom 01.01.2017).

273 Vgl. Arthur Symons, Rodin, in: Ders., Studies in the Seven Arts, London 1924, 1–18.

274 In dieser Betonung der Aspekte von Körperlichkeit und Leiblichkeit unterscheiden sich die hier un-tersuchten Kritiken von der idealistischen Strömung der Kunstkritik des Symbolismus. Vgl. Rodolphe Rapetti, Pour une définition du symbolisme pictural: critique et théories à la fin du XIXe siècle, in:

Quarante-huit/Quatorze: La Revue du Musée d’Orsay 5 (1993), 69–82, hier 69ff.

werden zwischen Rodins Skulpturen und Plastiken sowie seiner Persönlichkeit Ver-gleichsmomente herausgearbeitet und in eine pessimistisch-schopenhauerische Welt-sicht eingespannt. Merrills Ausführungen folgen über weite Strecken einer spätroman-tisch geprägten Genieästhetik, wobei sie diese mit der symbolisspätroman-tischen Kunsttheorie überblenden. Der bloß talentierte Künstler, so Merrills Überlegung, müsse, wenn er herausragende Werke schaffen will, stets innerhalb der medialen Grenzen der gewähl-ten Kunstform bleiben. Demgegenüber erkenne man das wahre Genie darin, dass es solche Grenzmarkierungen mühelos überschreiten kann – und zwar in jüngerer Zeit meist mit dem Ziel, ein symbolistisches Gesamtkunstwerk zu schaffen. Auch von Mer-rill wird Rodin in einer nunmehr fast schon topischen Weise in eine Filiationsreihe mit Dante, Michelangelo und Ludwig van Beethoven (1770–1827) gestellt, nun allerdings mit der neuartigen Pointe, dass der Kunstkritiker explizit nach Bezügen nicht nur zu Charles Baudelaires Motivik, sondern vor allem zu dessen Kunsttheorie der correspon-dances sucht. Das bildhauerische Genie, wie es laut Merrill exemplarisch in Rodin ver-körpert wird, habe die Aufgabe, eine im Zuge des Modernisierungsprozesses verloren geglaubte »unique et mystérieuse relation« der Welt wieder zu gewinnen. Im »rythme, signe mathématique des lois mêmes de la création«275 finde sie einen verdichteten Aus-druck. So wie sich die Divina Commedia des Dante als eine Art literarische Kathedrale oder als ein poetisch inszeniertes Triptychon präsentiere und dadurch die medialen Grenzen des schriftlich verfassten Werks schon im metaphorischen Sprachgebrauch transzendiere, so übersteigen Rodins Skulpturen den engen Bereich des bildhaueri-schen Ausdrucks und werden zu »des poèmes et des chants avivés de lumière«.276 Mer-rills Überlegungen zur Medialität der Kunstformen lassen sich aus der historischen Retrospektive genauer lokalisieren: So glaubten die Symbolisten an die grundsätzliche Übersetzbarkeit einer Kunstform in eine andere, sodass in ihren kunsttheoretischen Entwürfen verschiedene Medien zueinander in einem metaphorischen Verhältnis der wechselseitigen Ersetzbarkeit stehen. Einzelne Kunstformen werden darüber hinaus meist in die teleologische Perspektive eines höher stehenden Zieles, namentlich des Gesamtkunstwerks, eingespannt. Während im symbolistischen Kunstdenken die ein-zelnen Medien im Dienste einer höheren Instanz stehen, haben die Vertreter der his-torischen Avantgarden im Gegenzug hierzu meist die radikale Differenz der Medien untereinander betont. Unterschiedliche Medien wie Bild und Text oder auch Skulp-tur und Malerei galten ihnen nun nicht mehr als ineinander übersetzbar, sondern sie wurden gerade durch ihre medialen Grenzen voneinander unterschieden. Ein mediales System, das auf metaphorischen Ersetzungsverhältnissen basierte, wurde so durch ein metonymisches Kunstdenken ersetzt.277

Allerdings beschränkt sich Merrill nicht auf eine bloße Zuordnung Rodins zum symbolistischen Kunstdenken. Vielmehr wagt er sich an eine philosophisch ambiti-onierte Charakterisierung der Figurendarstellungen des Künstlers. Rodins eigene

275 Merrill, Philosophie (wie Anm. 272), 17.

276 Ders., Philosophie (wie Anm. 272), 17.

277 Vgl. Aage A. Hansen-Löve, Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne, in: W. Schmidt/W.-D. Stempel (Hg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11), Wien 1983, 291–360, hier 292f.

Existenz gerät dabei zur allegorischen Figuration einer ›modernen‹ Auffassung des Künstlersubjekts. In seinem künstlerischen Schaffen geht es dem Bildhauer, wie Mer-rill schreibt, nicht um die Darstellung eines »vie individuelle«. Eher möchte er seine Skulpturen und Plastiken als Visualisierungsweisen eines »vie universelle« verstehen.

Man sieht hier, wie sich die Metapher des »Lebens« von einer primär wirkungsästhe-tischen Kategorie, wie sie in der Rezeption des Ehernen Zeitalters angesichts eines ge-radezu hyperindividualisierten Bildkörpers verwendet worden war, allmählich in ein lebensphilosophisches Interpretament verwandelte. Der Künstler habe in seinen Wer-ken bildhafte Ausdrucksformen für den »éternelle lutte de l’esprit contre la matière«278 gesucht und dabei die traditionellen Darstellungsfunktionen von Skulpturen regelrecht umgekehrt: Während sich skulptural-plastische Bildwerke üblicherweise, so Merrill, von der sie umgebenden Umwelt, einer unwirtlichen »gangue terrestre«, durch ihre

»postures statiques« und »gestes actifs« emanzipieren, betone Rodin im Gegenzug ge-rade die Herkunft und die Gebundenheit des skulpturalen Bildkörpers an die »terre natale« in all ihrer urwüchsigen Stofflichkeit. So sehr Rodins Figuren auch nach einer Loslösung von jenem Urgrund streben mögen, so können sie ihn weder verleugnen noch sich seiner ganz entledigen. So gemahnen Rodins Darstellungen des menschli-chen Körpers an eine »humanité traînant après elle le poids de son instinct«. In dieser zähen Beharrlichkeit einer instinkthaften Natur, die ungeachtet der humanen Zivilisati-onserrungenschaften der Moderne wie eine schwere Last an den Figuren hänge, werde ein unerbittlicher »déterminisme« sichtbar, »qui relie les êtres aux choses, la fleur au fumier, l’âme à l’excrément«. So fällt es nicht schwer, aus Merrills Text Spuren eines an Darwin geschulten, evolutionistischen Denkmodells herauszulesen, wobei der Autor nicht müde wird, daran zu erinnern, dass selbst so hehre Ideale wie platonische Ideen, metaphysische Konstruktionen, transzendentale Anschauungsformen und ästhetische Erfahrungen des Sublimen aus einer ungestalteten Materialität des Daseins herstam-men und in diese auch unweigerlich zurückkehren werden.279 Jene Kraftanstrengungen des Geistes, von der die »muscles gonflés« der Rodinschen Leiber zeugen, verweisen somit stets auf eine unüberwindbare »résistance de la matière«, die den intellektuellen Höhenflügen des Denkens immer auch die ganz materiellen Schranken aufweist. Selbst die mentale Tätigkeit ist also laut Merrill in der dichten Textur der Wirklichkeit, in ihrer basalen Substanz eingelassen, ja mehr noch, sie wird durch diese erst ermöglicht.

Merrill sieht in Rodins bewegten Figuren eine fundamentale Gegensätzlichkeit am Werk: Während diese einerseits stets »vers la lumière« streben, können sie doch nicht den »pas [qui] s’empêtrent dans l’ombre« leugnen.280

Merrills Ausführungen lassen den immer noch vorherrschenden Einfluss der Phi-losophie Arthur Schopenhauers auf die Kunsttheorie des französischen Symbolismus erkennen. Erst seit dem Jahr 1888 lag eine französische Übersetzung von dessen Die Welt als Wille und Vorstellung vor. Diese wurde dann allerdings umso eifriger von den Kunstkritikern rezipiert.281 Schon seit 1874 aber wurde Théodule Ribots (1839–1916)

278 Merrill, Philosophie (wie Anm. 272), 17.

279 Vgl. Ders., Philosophie (wie Anm. 272), 17f.

280 Ders., Philosophie (wie Anm. 272), 17f.

281 Vgl. Robert Goldwater, Symbolism, London 1979, 75.

Einführung in das Denken des Philosophen gelesen.282 Schopenhauers explizite Äu-ßerungen zur Ästhetik schienen dabei für die Symbolisten weniger reizvoll als sein pessimistisches Menschenbild, wie es in den philosophischen Abhandlungen entfaltet wurde. In seiner Ästhetik konzipierte Schopenhauer das Reich der Kunst als das Refu-gium vor einer Wirklichkeit, die ganz im Zeichen der blinden Kraft des Willens gedacht wurde: In der einfühlenden Betrachtung eines Kunstwerks könne sich das Subjekt, so Schopenhauer, zumindest für den Moment des Kunstgenusses vom Leiden an seiner ei-genen Leiblichkeit und vom qualvollen Streben nach einer Befriedigung seiner körper-lichen Bedürfnisse lossagen. In Schopenhauers Ästhetik wird die Kunst zum Vehikel für einen zumindest zeitweiligen Rückzug aus einer Wirklichkeit, die nur aus Mühsal und Kampf zu bestehen scheint.283 Für eine Interpretation von Rodins Figurenwelten waren solche Annahmen von der Kunst als einem ästhetischen Narkotikum und der Rezeption als einer Form des interesselosen Genießens kaum dienlich. Schopenhauers Überlegungen zur Welt als Wille und Vorstellung dagegen schienen einen unwider-stehlichen Lektüreschlüssel für ein symbolistisch verstandenes Weltbild zu liefern.

In entschiedener Frontstellung zur Zuversicht der Aufklärung, die noch emphatisch an die Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung glaubte, ent-warf Schopenhauer noch vor Friedrich Nietzsche eine radikal pessimistische Sicht auf die Gattung des Menschen. Der Transzendentalphilosophie Kants, die auf die Bedingun-gen der Möglichkeit wie auch die unhintergehbaren BeschränkunBedingun-gen der Subjektivität und seiner Vermögen fokussierte, gab Schopenhauer so eine leibtheoretische Wende.284 Im makroskopischen Blick auf das 19. Jahrhundert lassen sich vielfach Spuren einer Revision oder gar Abwendung vom Kantischen Erkenntnissubjekt feststellen. Glaubte Immanuel Kant (1724–1804) noch an die Möglichkeit, dass sich das Subjekt durch einen kritischen Rückgang auf die grundlegenden und anfänglich gegebenen Anschauungs-formen von Zeit und Raum seiner eigenen Verfasstheit vergewissern könne, so haben die Lehren des Darwinismus sowie die umwälzenden Subjekttheorien von Schopen-hauer, Nietzsche und schließlich auch von Sigmund Freud (1856–1939) den Menschen in zunehmend radikaler Weise seiner Selbstgewissheit als Vernunftwesen beraubt.285

Folgt man dieser Logik, so wäre das Subjekt stets auf die immer nur nachträgliche Erkenntnis verwiesen, dass es die Selbst- und Weltverhältnisse, in die es hineingeboren wird, zwar konstatieren und beschreiben, jedoch nicht mehr autonom und selbstge-wiss bestimmen oder gar lenken kann. In der Doppelbestimmung der Welt als Wille und als Vorstellung formulierte Schopenhauer jedenfalls eine Weltsicht, bei der die

282 Vgl. Théodule Ribot, La Philosophie de Schopenhauer, Paris 1874.

283 Dieser Gedanke wird insbesondere in Schopenhauers Metaphysik des Schönen entfaltet. Vgl. Volker Spierling, Arthur Schopenhauer. Philosophie als Kunst und Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1994, 145ff.

284 Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein, Dresden/Basel 1996, 83.

285 In welchem Ausmaß etwa Charles Darwins (1809–1882) Evolutionstheorie die Vorstellung von einem Wesenskern des Menschen ausgehöhlt hat, beschreibt der Historiker Philipp Sarasin: »Es gibt für Dar-win keine wie auch immer gearteten präexistierenden – letztlich von Gott gegebenen – Einheitlich-keiten oder GemeinsamEinheitlich-keiten oberhalb der Ebene des Individuums. Das Individuum wird vielmehr von einheitlichen Bedingungen geformt, und erst auf diese Weise entstehen die Gemeinsamkeiten des Typus, nicht umgekehrt.«Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a.M. 2009, 74.

Leiblichkeit des Menschen als ein Hindernis und ein Erkenntnisinstrument zugleich definiert wurde. Die dunklen Triebströme des Menschen wurden dabei im Sinne einer Letztbegründung als quasi-metaphysische Instanzen verstanden.286 Einerseits könne der Mensch, so Schopenhauer, in der Wahrnehmung seiner Umwelt nicht aus den Be-schränkungen seiner eigenen subjektiven Erkenntnisbedingungen heraustreten. Die Frage, ob die uns umgebende Welt wirklich ist oder nicht, bleibt also für Schopen-hauer unbeantwortbar, insofern die Vorstellungsgehalte stets nur Aussagen über die subjektiven Gegebenheiten der Wahrnehmungsakte erlauben.287 In dieser Hinsicht steht Schopenhauers Philosophie bis zu einem gewissen Grad in der Tradition Kants.

Andererseits aber sei der Mensch befähigt, die Welt nicht nur als Erscheinungsform wahrzunehmen, sondern in ihrem eigentlichen Wesen zu erkennen, da er in der Leib-lichkeit seiner Existenz das blinde Streben einer Kraft vernimmt, die von Schopenhauer als Wille definiert wird und die in seinem Denken jene Position einnimmt, die bei Kant noch dem unerkennbaren »Ding an sich« zugekommen war. Im nicht mehr göttlichen, nicht mehr bewussten und nicht mehr rationalen Willen des menschlichen Leibes trete der Mensch also in Kontakt mit einem Realen, das ihm nicht nur Erkenntnis über sein eigenes Menschsein verspricht, sondern ihm zugleich auch ein Wissen über die Welt an sich ermöglicht.288 Mit dem Konstrukt des Willens ist dem Menschen so ein Deu-tungsschlüssel an die Hand gegeben, der es ihm erlauben sollte, von seiner eigenen leibbedingten Verfasstheit auf seine Umwelt zu schließen.289

Im verborgenen Dialog mit diesen vom Symbolismus breit rezipierten Grundge-danken Schopenhauers imaginiert Merrill Rodins Skulpturen als einen im Kunstwerk stillgestellten Kampf zwischen »les deux grandes forces qui régissent le monde mys-tique comme le monde physique, celle qui attire à la terre et celle qui en repousse«.290 Dabei bestimmt er Rodins Werke als »douloureux symbole de tous ceux dont la pensée aîlée dépasse leur propre marche et le lent progrès de l’humanité.« Wenn sich Merrill gerade für den »sens ésotérique« dieser Werke interessiert, so könnte man auch dies als eine subtile Anspielung auf die schopenhauerische Grundierung seiner Argumentation lesen. Schließlich hat sich gerade der späte Schopenhauer intensiv mit buddhistischen Lehren auseinandergesetzt. Auch Merrill rückt Rodin wieder in eine ambivalente Dop-pelposition, die sein Schaffen sowohl als Folge einer solchen Weltsicht wie auch als deren innovative Sichtbarmachung versteht:

Car Rodin est un grand poète de la douleur, non pas de la douleur résignée qui se plie en attitudes molles, mais de celle dont le front défie le ciel. Il est ainsi vrai-ment de son siècle, nourrisson de la science et enfant de la révolte. Il n’est ni assez ignorant pour être optimiste, ni assez faible pour être pessimiste. Il est, dans la plénitude de sa foi et la certitude de sa force, un mélioriste.291

286 Vgl. Spierling, Schopenhauer (wie Anm. 283), 94ff.

287 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung/1: Vier Bücher, nebst einem Anhange,

287 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung/1: Vier Bücher, nebst einem Anhange,

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 125-134)