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Selbstüberschreitungen I: Simmel und Nietzsche

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 184-190)

5.3 Das »Souveränwerden des Bewegungsmotivs«: Georg Simmels Rodin- Rodin-Interpretationen

5.3.2 Selbstüberschreitungen I: Simmel und Nietzsche

Die an Rodins Werken exemplifizierten Überlegungen zur historischen Verfasstheit des Subjekts in der Moderne mögen auf den ersten Blick ebenso eloquent wie allgemein-gültig erscheinen. Um ihr theoretisches Fundament genauer fassen zu können, lohnt es, die Argumente und Denkfiguren der Rodin-Interpretation in den zwei späteren Auf-sätzen auf ihre Herkunft aus Simmels philosophischer Beschäftigung zu befragen. Am Beispiel der Philosophie Nietzsches erprobte Simmel in einem Aufsatz des Jahres 1906 die Tragfähigkeit eines Subjektbegriffs, der sich den Konsequenzen einer radikal ge-dachten Veränderlichkeit der Natur des Menschen stellt. Entscheidend ist hierbei seine Parallelisierung der Begriffe »Leben« und »Entwicklung«, die fortan im Sinne einer Art Differenzphilosophie avant la lettre ausformuliert wurden. Mit Nietzsche denkt Sim-mel »Leben« und »Entwicklung« gerade nicht im Sinne einer teleologischen Bewegung, die auf einen vorab fixierten Zielpunkt hin zusteuert, sondern sie werden als Denkfor-men einer Bewegung des kontinuierlichen Aufschubs mit einem offenen Zeithorizont erfasst. Die hier gelegte Spur, die Simmel an Rodins Werken weiter verfolgen wird, soll anschließend noch in ihrer konsequenten Fortführung in einem Aufsatz zu Henri Bergson überprüft werden, der im Jahr 1914 veröffentlicht wurde.

444 Simmel, Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 28.

Simmel publizierte seinen Aufsatz zu Nietzsche in der Vossischen Zeitung. Darin brachte er den von Nietzsche vertretenen Subjektbegriff einem breiteren Leserpubli-kum näher, indem er diesen von Schopenhauers Auffassung abgrenzte.445 Die Argu-mentation verfolgte das Ziel, die Zeitgemäßheit von Nietzsches Überlegungen gegen-über denjenigen Schopenhauers hervorzukehren. Wie sehr Simmels Überlegungen zu diesen beiden Hauptprotagonisten der Lebensphilosophie von seinen eigenen soziolo-gischen Vorarbeiten geprägt waren, zeigt bereits der Einstieg in die Thematik. Dass sich in der philosophischen Aufmerksamkeit des 19. Jahrhunderts ein »unruhiges Suchen nach dem Ziele und der Bedeutung des Lebens«446 überhaupt Bahn brechen konnte, begründet Simmel mit der zivilisationsgeschichtlichen Ausdifferenzierung in der mo-dernen Kultur. Der Stand der historischen Modernisierung, so Simmel, lasse sich näm-lich daran ablesen, wie sehr Bedürfnisse nicht mehr einfach unmittelbar befriedigt, sondern zum Zweck des Erreichens von höheren Zielen immer weiter aufgeschoben werden. Die moderne Technik im Sinne einer »Summe der Mittel für die kultivierte Existenz«447 kann laut Simmel als eine Art Zwischenglied zwischen dem direkten Wunsch impuls auf der einen und der Bedürfnisbefriedigung auf der anderen Seite ver-standen werden. Während die christliche Religion einen letzten Sinn noch im »Heil der Seele« und im transzendenten »Reich Gottes« erkannte, habe das moderne Sub-jekt den Zweck seines Daseins gänzlich in die Immanenz des Lebens selbst verlegt.448 Noch für Schopenhauer lag die Letztbegründung der Existenz in der Eigentätigkeit des Willens, den sich der Philosoph als ein unruhiges Treiben und Pulsieren im Menschen vorstellte, welches stets zur Befriedigung drängt. Das schopenhauerische Bewusstsein aber, diesem Willen als Subjekt ausgeliefert und dadurch in eine »trostlose Immer-gleichheit« gebannt zu sein, erweise sich als niederschmetternde »Abwesenheit jedes Entwicklungsgedankens«. Es sei aber gerade dieses Wissen, so spitzt Simmel Schopen-hauers Philosophie zu, das zur »Qual der Langeweile« führen muss.449 Der philosophi-sche Pessimismus schrecke also vor den Konsequenzen seiner eigenen Überlegungen keineswegs zurück.

Simmel stellt sodann dar, weshalb gerade Nietzsches Philosophie eine Antwort auf diesen Verlust von Transzendenz und von historischer Sinnstiftung gibt. Im Vergleich zu Schopenhauer habe Nietzsche nämlich aus dem gleichen Ausgangswissen die ent-gegengesetzten Konsequenzen gezogen. Eine historische Bruchstelle zwischen den beiden Philosophen sieht Simmel in jenem epochalen Umbruch des Denkens, den bereits Charles Darwins  (1809–1882) Erkenntnisse ausgelöst hatten: »Aus dem Ent-wicklungsgedanken hat Nietzsche den, Schopenhauer gegenüber, völlig neuen Begriff vom Leben geschöpft: daß es von sich aus, seinem eigensten, innersten Wesen nach, Steigerung, Mehrung, wachsende Konzentrierung der umgebenden Weltkräfte auf das

445 Vgl. Klaus Lichtblau, Das »Pathos der Distanz«: Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne: neue Interpretationen und Materialien, Berlin 1984, 231–281, hier 249ff.

446 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. II, hg. von Alessandro Cavalli/Volkhardt Krech (GSG, 8), Frankfurt a.M. 1993, 58–68, hier 59, URL:

http://gutenberg.spiegel.de/buch/schopenhauer-und-nietzsche-8/1 (Zugriff vom 16.01.2017).

447 Ders., Schopenhauer und Nietzsche (wie Anm. 446), 58.

448 Ders., Schopenhauer und Nietzsche (wie Anm. 446), 60.

449 Ders., Schopenhauer und Nietzsche (wie Anm. 446), 63.

Subjekt ist.«450 Besonderen Wert legt Simmel dabei auf die Feststellung, dass Nietzsche, wenn er über »Entwicklung« spricht, gerade nicht eine Bewegung meint, die auf einen festgelegten Zielpunkt hin zusteuert:

Das tatsächliche Leben ist in dem Maße mehr oder weniger »Entwicklung«, in dem mehr oder weniger von jenem in ihm gelegenen, auf die Verstärkung seines eigenen Seins gerichteten Elemente zur Entfaltung gelangen. Ob ein tatsächlicher Vorgang als Entwicklung gelten soll – im historisch-psychologischen oder auch in metaphysischen Sinne –, hängt demnach nicht mehr von einem außerhalb seiner selbst gesetzten Endziel ab, das von sich aus jenen Vorgang ein Maß von Mittel- oder Übergangsbedeutung zuteilte. […] Jedes Stadium des menschheitlichen Da-seins findet seinen Zweck nicht in einem Absoluten und Definitiven, sondern in dem Nächsthöheren, in dem alles in dem früher nur Angelegten zu größerer Weite und Wirkung erwachsen ist, in dem also das Leben voller und reicher geworden ist, in dem mehr Leben ist.451

Simmel scheint in Passagen wie dieser seinen eigenen Schreibstil fast mimetisch an denjenigen Nietzsches anzugleichen. Spätestens hier wird man sich als Leser der Faszi-nation bewusst, die der ältere Philosoph auf den Soziologen ausstrahlen musste. Nietz-sche hatte eine Auffassung von historiNietz-schen Verlaufsformen formuliert, die schließlich auch die Moderne als eine Bewegung ohne erkennbaren Zielpunkt denkbar werden ließ.

Mit dieser Variante der Denkfigur des »Lebens« konnte eine solche Idee des scheinbar ziellosen, scheinbar blinden Voranschreitens terminologisch dingfest gemacht werden.

Basierend auf der Überzeugung einer kontinuierlichen »Weiterbewegung des Lebens«, einer »Entwicklung ins Unendliche«, erschien das moderne Subjekt in seinem histori-schen Gewordensein ebenso wie in seiner steten Veränderbarkeit als ein kontingentes Produkt vorandrängender historischer Kräfte. Sie bilden konzeptuelle Pendants zum

»Bewegungsmotiv«, das in Rodins Figurenauffassung zu sichtbarer Gestalt gerinnt.452 So wie in seinen Reflexionen zu Nietzsche, so bleibt für Simmel auch in seinem Rodin-Aufsatz von 1909 das historische Modell eines ebenso unumkehrbaren wie un-vorhersehbaren Fortschreitens des geschichtlichen Ablaufs bestimmend: Jede neue Ge-genwart stößt sich von ihrer Vergangenheit ab, indem sie ihre eigene Differenz zu die-ser bekundet. So treibt sie ihre eigenen Entwicklungstendenzen immer weiter hervor.

Wenn man Bruno Latours Überlegungen zum Konzept der »Moderne« heranzieht, die ja bereits im Kapitel zu Rilke angesprochen wurden, so ist Simmel zumindest in dieser

450 Ders., Schopenhauer und Nietzsche (wie Anm. 446), 61; vgl. zum Verhältnis von Nietzsches Biologis-mus und DarwinisBiologis-mus vor dem Hintergrund der Rezeption bei Michel Foucault: Sarasin, Darwin und Foucault (wie Anm. 450), 111ff.

451 Simmel, Schopenhauer und Nietzsche (wie Anm. 446), 62.

452 Vgl. hierzu auch Philipp Sarasins Überlegungen: »Das subversive Potential der darwinschen Theorie, welches Nietzsche zumindest mit Blick auf das ›Volk‹ als Rechtfertigung des Egoismus und der Aus-höhlung jeder Moral fürchtete, war vielmehr genau das, was ihn (gemeint ist hier Foucault) an Darwin faszinierte. Darwins évolutionisme öffne den Blick auf ein Denken der Nichtidentität, ein Denken der Untergrabung aller behaupteten, dabei doch bloß historisch gewordenen Entitäten und Wesenheiten, ein Denken der fundamentalen Skepsis gegen alle ›Begriffe, Typen und Arten‹, die dem Individuum Zwang antun. Nietzsches Vorstellung hingegen, der Mensch müsse seine Natur, wenn sie schon nicht gegeben sei, nicht in der tierischen Vergangenheit suchen, sondern in der Zukunft erst noch finden, mit anderen Worten, sein Lob des Übermenschen, nennt Foucault ›des mythes délirantes‹.« Sarasin, Darwin und Foucault (wie Anm. 450), 120f.

Hinsicht in der Tat selbst auch als zutiefst »modern« einzuschätzen. Rodins Schaffen wird als »Station einer Entwicklung« verstanden, die eine »Linie fortsetzt, deren Rich-tung von jenen Erscheinungen festgelegt ist«.453

In einem groß angelegten geistesgeschichtlichen Bogen verfolgt Simmel, wie un-terschiedliche Epochen den Körper im skulptural-plastischen Bildwerk aufgefasst ha-ben. Ohne sich allzu sehr mit kunstgeschichtlichen Differenzierungen aufzuhalten, kontrastiert er die griechische Plastik, deren Körperauffassung von einem »feste[n], geschlossene[n], substantielle[n] Sein«454 ausgegangen sei, mit der Kunst des christli-chen Mittelalters, dessen geistige Ausrichtung auf ein transzendentes Jenseits mit einer Verleugnung der körperlichen Substanz einhergehe:

Anderthalb Jahrtausende später hat dann die plastische Kunst der Gotik zum erstenmal den Körper zum bloßen Träger der Bewegtheit gemacht, hat die subs-tantielle Sicherheit seiner Form aufgelöst. […] Durch oft unnatürliches Strecken, Beugen, Dehnen drückte die Seele die Tatsache aus, dass sie sich eben nicht aus-drücken konnte und wollte, dass der Körper nur da war, damit die Seele sich von ihm entferne, und so entfernte er sich gleichsam von sich selbst.455

Sieht man davon ab, dass Simmels Erklärung in ihrem denkbar umfassenden Erklä-rungsanspruch einer kunsthistorischen Überprüfung im Einzelnen kaum standhalten dürfte, so klärt diese Passage dennoch über den methodischen Ansatz auf, der auf eine Gleichsetzung von historischen Großepochen mit damit jeweils korrespondierenden Körpervorstellungen basiert. Mit einem solchen Schema fällt es Simmel beispielsweise nicht weiter schwer, in der Frühen Neuzeit eine Tendenz zur radikalen Verweltlichung zu diagnostizieren, die die Realgeschichte ebenso wie die künstlerischen Erscheinun-gen zu präErscheinun-gen scheint. Vor allem bei Michelangelo sei es zu einer bis dahin unerreich-ten Koinzidenz der »Bewegtheit des Körpers« mit der »substantielle[n], plastische[n]

Form des Körpers« gekommen. Simmel sieht die »Tragik der Figuren Michelangelos«

darin, »daß das Sein in das Werden hineingerissen ist«.456 Mit solchen Überblendun-gen ist dem Philosophen ein Schema an die Hand gegeben, Rodins Emphase auf einer gleichermaßen inneren wie äußeren Bewegtheit des Körpers als Symptom einer his-torischen Entwicklung hin zur Moderne aufzufassen, die sich in einer »neue[n] Bieg-samkeit der Gelenke«, in einem »neue[n] Eigenleben und Vibrieren der Oberfläche«, und in einer »neue[n] Art, wie die Flächen aneinander stoßen, sich bekämpfen, oder zusammenfließen«457, Ausdruck verschafft.

In mehreren Exkursen untermauert Simmel seine Überlegungen zum Rodinschen

»Bewegungsmotiv« durch intermediale Vergleiche, vor allem zur Lyrik Johann Wolf-gang von Goethes  (1749–1832), oder durch kunsthistorische Kontrastierungen, zum Beispiel zur Bildhauerkunst des Barocks. Im Verlauf seiner suggestiven Ausführungen verunklärt Simmel den Gegensatz zwischen Rodins Skulpturen und den real existieren-den Subjekten (in) der Moderne immer weiter, so zum Beispiel, wenn der Philosoph

453 Simmel, Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 28.

454 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 28.

455 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 29.

456 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 30.

457 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 31.

über Rodins Skulpturen und Plastiken in einer Weise spricht, als handele es sich dabei um leibhafte Menschen, denen man von Angesicht zu Angesicht im Raum begegnen könne. Denkt man an Rudolf Kassners (1873–1959) Evokationen einer skulpturalen Le-bendigkeit zurück, so bleibt einem die zeittypische Signatur dieser Auffassung nicht verborgen. Aber doch gewinnt Simmel aus dieser suggestiven Gleichsetzung mehr als einen bloßen Lobpreis der Bildhauerkunst des Franzosen. Im Zeichen des »Bewe-gungsmotiv« nimmt in Simmels Überlegungen allmählich eine Auffassung von mo-derner Subjektivität Gestalt an, bei der die skulpturale Formverfestigung nur mehr den

»Durchgangspunkt einer aus dem Unbestimmten kommenden und ins unbestimmte gehenden Wanderung« markiert – und somit zur kongenialen Visualisierung dessen wird, was es heißt, als Subjekt in der Moderne angekommen zu sein. Was uns als fest-gefügte Plastik in Gips, Bronze oder Ton und als Skulptur in Marmor entgegentritt, erscheint so als historische Zwischenstation eines »Wege[s] ohne Ziel«458, als Gerin-nungsmoment in einem kontinuierlichen Zeitfluss. Das »Bewegungsmotiv«, so wie Simmel es in immer neuen Ansätzen umschreibt, ist damit weder ausschließlich auf der Seite der Formgestaltung des Kunstwerks zu suchen, noch aber betrifft es allein seine inhaltliche Bestimmung. Viel eher ist es in einem bruchlosen Zusammenschmel-zen von Form und Inhalt zu suchen, wie es nicht nur von Rodin erreicht worden ist, sondern – nach Ansicht Simmels – auch in der Lyrik Stefan Georges. Die Gedichte des deutschen Ästhetizisten werden zu literarischen Pendants der Kunst Rodins sti-lisiert. Bei George nämlich sei das musikalische Element seiner Gedichte, also ihre

»rhythmisch-melodische Bewegtheit«, nicht so aufzufassen, als ob ein abstrakter Ge-dankengang lediglich in eine hierzu passende Klangform eingekleidet werden sollte.

Eher müsse man Georges Gedichte so verstehen, dass der Inhalt aus der schon anfäng-lich gegebenen Musikalität der sprachanfäng-lichen Gestaltung erwächst. In Georges lyrischer Poetologie sei als Ursprungsimpuls nicht eine inhaltliche Bedeutung anzunehmen, die sodann in Sprache übersetzt einen musikalischen Klang annimmt, sondern die sprach-liche Form sowie ihre Musikalität bringen die Bedeutungsdimensionen der Gedichte selbst hervor. Für das Verhältnis von »Bewegungsmotiv« und Materialität findet Sim-mel den in diesem Zusammenhang eigenwilligen, aber doch aussagekräftigen Termi-nus der »Kooptierung«: In einer zu George vergleichbaren Weise, so Simmel, »scheint bei Rodin das Bewegungsmotiv das erste zu sein und die plastische Struktur ihres ma-teriellen Trägers gewissermaßen zu kooptieren.«459

Das »Bewegungsmotiv« bildet somit nicht nur ein stilistisch-ästhetisches Phäno-men, wie es später dann Schmoll gen. Eisenwerth auffassen sollte. Es erlaubt auch einen interpretierenden Zugriff auf Rodins Werke als Sichtbarmachungen der »moderne[n]

Seele« in der Bildhauerkunst. Wenn Simmel mit Blick auf Rodins Werke das »Sich-biegen und Sichstrecken des Leibes« und das »Zittern und Erschauern, das über seine Oberfläche rinnt«, nicht mehr als körperliche Symptome einer gesteigerten Affekti-vität beschreibt, sondern als ebenso psychische wie physische Folgen einer tatsächli-chen, »gestiegene[n] Bewegtheit des wirklichen Lebens«, so wird deutlich, dass ihm das »Bewegungsmotiv« als visuelles Symptom eines neuartigen »Realismus« gilt: eines

458 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 34.

459 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 32.

Realismus freilich, der nicht mehr wie noch im Falle der Kunst von Gustave Cour-bet (1819–1877) die Wirklichkeit möglichst ungeschönt darstellen möchte, sondern der sich auch hier wieder als eine Grenzaufweichung von Kunstwerk und Künstlerleben, von Realität und Imagination, von Faktizität und Fiktionalität zur Darstellung bringt.

In einer dichten aphoristischen Passage charakterisiert Simmel Rodins Werke, indem er feststellt, dass »[d]ie Kunst […] nicht nur eine bewegtere Welt [widerspiegelt], son-dern ihr Spiegel selbst […] beweglicher geworden«460 ist. Diese chiastische Wendung verweist auf jene Verschiebung der Unterscheidung von Kunst und Realität, die Sim-mels gesamtes Projekt seiner Rodin-Essays anzutreiben scheint: Dessen Kunst wird von ihm in ihrer materiellen Erscheinungsweise als Ausdrucksform eines unumkehrbaren Modernisierungsprozesses verstanden, der vom Künstler in einer Art getreuen Über-setzung zwar zur Darstellung gebracht, jedoch kaum mehr im Sinne einer autonomen Kunstproduktion willentlich gestaltet wird. So verabschiedet Simmel unter der Hand auch seinen emphatischen Begriff vom Künstlerheros, der jenseits der gesellschaftli-chen Ansprüche und Zurichtungen konsequent einzig dem von ihm selbst auferlegten,

»individuellen Gesetz« folgt. Dadurch partizipiert auch Simmels Deutung – nunmehr allerdings in einer forciert modernetheoretischen Weise – an derjenigen Gedankenbe-wegung, die schon Leon Maillard mit seinen Reflexionen über die oszillierende Veror-tung des Denkers in Bezug auf das Geschehen des Höllentors angestoßen hatte.

Die Rodin-Debatte, so wird deutlich, steht in einigen ihrer Schlüsselmomente vor der Frage nach dem Ursprung der Kunst im Zeitalter der Moderne: Kann dieser noch in romantischer Tradition aus der Imaginationskraft des Künstlers begründet werden, oder wird der Künstler in seinem Schaffen stets von Instanzen geleitet, die ihm im-mer schon vorgängig sind? Simmels Reflexionen zu Rodin und die argumentativen Neuformulierungen zwischen den Essays der Jahre 1902 und 1909 messen den weiten Abstand zwischen diesen höchst unterschiedlichen Auffassungen aus und zeichnen so eine Bewegung nach, bei der die erste, eher traditionelle Auffassung allmählich durch die zweite, schon auf die Postmoderne vorausdeutende Auslegung überschrieben wird.

Wenn Rodin und seine Kunst in den vergangenen Jahrzehnten in einer ideologie- und geschlechterkritischen Perspektive wiederholt auf ihre Tendenz zur mythenlastigen Stilisierung hin befragt worden sind, so ist ein solches Unterfangen lohnend.461 Doch muss zugleich mit bedacht werden, dass schon in der zeitgenössischen Rezeptionsde-batte und spätestens mit Simmels Essays die Auffassung vom Künstler als einem au-tonomen und selbstbestimmten Subjekt in Auflösung begriffen ist. Bereits bei Rilke und Simmel, wenn nicht schon in Ansätzen in der französischen Kunstkritik, gilt das Künstlersubjekt Rodin nicht mehr als Ursprungspunkt der Kreativität, sondern es fin-det sich im Gegenteil immer schon in ihm vorausgehende Selbst- und Weltverhältnisse eingelassen.

460 Ders., Bewegungsmotiv (wie Anm. 27), 35.

461 Nicht dass dieses Unterfangen nicht gerechtfertigt wäre, wenn man die große Anzahl an Biografien und Deutungen betrachtet, die über den Künstler und sein Werk verfasst worden sind und weiter verfasst werden. Aber doch zeigt der Blick in die Interpretationsgeschichte, dass die überbordende Anzahl von Deutungen zu Rodin schon im zeitgenössischen Diskurs mit Gegenmodellen durchsetzt worden ist. Vgl. mit Blick auf eine geschlechterkritische Perspektive auf Rodin: Getsy, Rodin (wie Anm. 14), 16ff.

5.3.3 Selbstüberschreitungen II: Vom »Bewegungsmotiv« zur »kosmischen

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 184-190)