• Keine Ergebnisse gefunden

Von der »Beseelung« zur »Bewegtheit«

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 180-184)

5.3 Das »Souveränwerden des Bewegungsmotivs«: Georg Simmels Rodin- Rodin-Interpretationen

5.3.1 Von der »Beseelung« zur »Bewegtheit«

Simmels erste Auseinandersetzung mit Rodin aus dem Jahr 1902 stand noch ganz im Zeichen der unmittelbaren Eindrücke des Ausstellungsbesuchs in Prag. Daher über-rascht es umso mehr, dass Rodin als Künstler und sein Werk in diesem Aufsatz auf eine merkwürdige Weise blass, ja geradezu ungreifbar erscheinen. Zwar wird der Künstler von Anbeginn (und nicht ohne Pathos) als eine Art deus ex machina ein-geführt, dem es durch sein skulpturales Schaffen gelungen sei, »[d]ie tiefsten inneren Schwierigkeiten des neunzehnten Jahrhunderts«432 zu überwinden. Doch wenn weite Teile des Aufsatzes um jenen epochalen »Konflikt zwischen der Individualität und der Gesetzmäßigkeit«433 kreisen, so scheint dies auch um den Preis einer eindringlichen Beschäftigung mit Rodins Werken selbst zu geschehen. In dem frühen Deutungsent-wurf dient Rodins Œuvre für Simmel also primär als ein sinnfälliges Anschauungsma-terial für seine soziologische Theorie des Individualismus in der Moderne.434 Man geht sicher nicht fehl, wenn man folgert, dass sich der Philosoph in seinem interpretativen Gestus von Rodins Werken selbst kaum hat leiten und lenken lassen.435

Dessen ungeachtet finden sich bereits hier einige Denkmotive, die Simmels weitere Beschäftigung mit dem Künstler prägen werden und die deshalb eine genauere Be-trachtung verdienen. Rodins entscheidender bildhauerischer Coup wird in der Über-windung einer klassizistischen Formensprache gesehen. Dabei möchte Simmel die In-novationen des Franzosen aber nicht so verstanden wissen, als habe sich dieser mit seinem Schaffen einfach in eine linear verlaufende Abfolge von Stilen eingereiht. Im Gegenteil: Die historische Relevanz von Rodins bildhauerischem Werk liegt für Simmel in ihrer, zugespitzt formuliert, genuinen Geschichtsmächtigkeit. Rodins Werke haben den Klassizismus überhaupt erst als einen historisch bedingten Stil kenntlich gemacht und somit die ästhetische Normativität als ein bloß relativ gültiges Geschmacksurteil enttarnt. Um Rodins historische Rolle zu kontextualisieren, zieht Simmel eine Parallele zu Nietzsches Moralphilosophie. Schließlich habe dieser in vergleichbarer Weise die nur relative Gültigkeit und somit auch die historische Bedingtheit von überzeitlichen Werten, im konkreten Fall also von moralischen Vorstellungen, ins Bewusstsein ge-holt.436 Der Vergleich von Rodin mit Nietzsche scheint auf den ersten Blick ein typi-scher Zug der deutschsprachigen Rezeption des Künstlers zu sein. Jedoch liegt hierin bereits ein Hinweis auf Simmels eigenwillige Deutung von Nietzsches Arbeit an einer

432 Simmel, Geistesrichtung (wie Anm. 329), 93.

433 Ders., Geistesrichtung (wie Anm. 329), 93.

434 Vgl. Georg Simmel, Die beiden Formen des Individualismus, in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmo-natszeitschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens 1/13 (1901), 397–403, Permalink:

http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:hebis:30-1117865 (Zugriff vom 01.01.2017).

435 An dieser Stelle der Interpretationsgeschichte zeigt sich recht deutlich, dass die Frage, wie sehr die Deutung vom Kunstwerk mit geformt wird, auch von der Bereitschaft des Interpreten selbst abhängt, sich auf das Werk einzulassen und sich dabei von den eigenen Ausgangsprämissen loszusagen. Vgl.

Klaus Lichtblau, Zum Stellenwert der ästhetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber, in: Gerhard von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne. DFG-Symposion 1997, Stuttgart 1998, 52–68.

436 Vgl. Simmel, Geistesrichtung (wie Anm. 329), 92f.

Theorie des modernen Subjekts, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wer-den soll.

Im nachfolgenden Absatz zeichnet Simmel nach, wie Rodin eine »Verschmelzung des modernen Geistes mit dem Kunstgefühl Michelangelos«437 erreicht habe. Nicht nur an dieser Stelle schließt der Philosoph an einen gängigen Topos der Kunstkritik an, nur um sich gleichzeitig doch auch wieder mit einem Gestus der theoretisch versierten und intellektuell informierten Überbietung davon abzusetzen. Schon vor Simmel hat man Rodins bildhauerische Virtuosität darin gesehen, dass dieser sich scheinbar mühelos in unterschiedlichen historischen Stillagen auszudrücken vermochte und sozusagen gleichzeitig in mehreren kunsthistorischen Registern arbeiten konnte. Doch für Sim-mel liegt in diesem pluralistischen Zugriff auf unterschiedliche Stilmodi noch nicht das eigentlich Moderne von Rodins Kunst. Zwar sei es zutreffend, dass Rodin »gleichzeitig wie Donatello oder Verrocchio, wie Michelangelo oder Bernini arbeiten« könne. Aber als Künstler beweise er damit nur, »was er kann«, also die »Extensität« seiner Könner-schaft im Sinne einer souveränen Verfügungsgewalt über die kunsthistorische Tradi-tion. Demgegenüber zeige Rodin, »was er ist« nur in einem »Bruchteil seines Werkes«.

Gerade darin aber offenbare sich die »Intensität des modernen Geistes«.438 Wenn Sim-mel in Rodins Schaffen zwischen bloßem Können und tatsächlichem Sein, zwischen der bildhauerischen Kompetenz und einer künstlerisch gelebten Existenz eine Diffe-renz einzieht, so rückt er den Bezug von kunsthistorischen Stilepochen und dem Stil der Moderne in ein Verhältnis, durch das die historische Inkommensurabilität der Mo-dernität hervorgehoben wird. Während nämlich die verschiedenen Neuauflagen des Historismus von der Neugotik bis zum Neubarock als relativ frei wählbare Optionen und insofern als prinzipiell erlernbare Stilgrammatiken vorgestellt werden, ist für Sim-mel erst die Moderne diejenige historische Erfahrungsform, die für Rodins Schaffen unhintergehbar ist. In dieser Lesart lässt sich aus Rodins Skulpturen und Plastiken eine spezifische geschichtliche Lage herauslesen, die nicht mehr der freien künstlerischen Intention anheimgegeben ist. Erst durch diese historische Positionierung kann Simmel Rodins Werke von der Warte seiner eigenen akademischen Interessen als soziologisch versiertem Kunstphilosophen betrachten.

Galt bei Rilke noch die menschliche Naturgeschichte als unhintergehbare Quasi-Transzendentalie der Rodinschen Skulpturen und Plastiken, so führt Simmel als über-zeugter Vertreter einer soziologischen Theorie der kulturellen Modernisierung nun mit großer Entschiedenheit eine historische Tiefenperspektive in die Debatte ein.439 In Simmels frühem Aufsatz zu Rodin jedoch scheint diese interpretative Zuspitzung nur stellenweise durch; erst in dem späteren Aufsatz von 1909 und vor allem dann in dessen Überarbeitung von 1911 wurden diese Gedanken mit systematischer Konse-quenz durchgeführt. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes zeichnet Simmel nach, was für ihn als grundlegende Problematik des gesamten 19. Jahrhunderts erscheint. Zwischen den Geltungsansprüchen des Individuums, das nach freier Betätigung strebt und nach Selbstverwirklichung gemäß seinen ureigensten Kräfte sucht, und den

gesellschaftli-437 Ders., Geistesrichtung (wie Anm. 329), 93.

438 Ders., Geistesrichtung (wie Anm. 329), 93.

439 Vgl. Frisby, Fragmente (wie Anm. 328), 53.

chen Ansprüchen, die dieses Individuum in einer ausdifferenzierten Moderne wieder einschränken und formieren, erkennt Simmel eine unversöhnliche Konfliktsituation.

Rodin aber habe diese Widersprüche mit seinem Schaffen zumindest in der fiktionalen Welt der Kunst überwunden. Mit dem Begriff des »Individuums« wird das moderne Subjekt von Simmel hier noch ganz konventionell als eine Entität aufgefasst, die sich angesichts des ubiquitären sozialen Anpassungsdrucks Geltung zu verschaffen sucht.

Am Rande sei bemerkt, dass Simmel gerade diese eher traditionelle Auffassung vom Subjekt als einem in sich geschlossenen und autonomen Individuum, das erst in einem zweiten Schritt vergesellschaftet wird, im Laufe seiner jahrelangen Auseinandersetzung mit Rodin überdenken und schließlich schrittweise fallen lassen wird.

Im weiteren Verlauf der Argumentation untermauert Simmel seine Lesart von Ro-dins Schaffen, indem er eine kunsttheoretisch informierte Kritik an den künstlerischen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in eine weitergefasste Diagnose der Moderne überführt. Man sei gewohnt, so Simmel, den Klassizismus und den Naturalismus als einander diametral gegenüberstehende Stilrichtungen aufzufassen: Der eine zitiere ein-gebürgerte Formfindungen mit einer ehrfürchtigen Verbeugung vor der Vergangen-heit, während der andere davon überzeugt sei, dass die Kunst eine vermeintlich voraus-setzungslose Natur zum alleinigen Vorbild ihres Schaffens erklären muss. Bei näherer Betrachtung jedoch sind beide Optionen für Simmel zwei Seiten ein und derselben Me-daille: Beide Richtungen nämlich treten die schöpferischen Kräfte des Individuums an die Formelhaftigkeit eines mechanischen »Abschreibens« ab. Es nimmt kaum Wunder, dass Rodin auch hier wieder die heroische Großtat zugesprochen wird, einen dritten Weg jenseits der Skylla des klassizistischen »Konventionalismus« und der Charybdis des naturalistischen »Abschreibens« gefunden zu haben.440 Wenn Simmel den Bild-hauer sodann als eine in jeder Hinsicht singuläre Persönlichkeit charakterisiert, die den Niederungen der sozialen Prägungen enthoben scheint, so wird offenkundig, wie sehr dieser frühe Aufsatz doch noch einer eher konventionellen Genieästhetik verpflich-tet war. Rodin gilt Simmel als ein unvergleichliches »Genie«, das die »schöpferischen, neuen Wendungen« eingeleitet habe.441

Die argumentative Struktur von Simmels Aufsatz dürfte hier schon offensichtlich geworden sein: Immer wieder führt der Philosoph binäre Gegensätze ein, die sich in demjenigen Moment als künstlerische Sackgassen erweisen, in dem Rodin diese Po-larität in seinem Schaffen als eine bloße Scheinproblematik enttarnt. Mit fast schon hegelianischer Strenge folgt Simmels Darlegung einem Dreischritt von These, Anti-these und SynAnti-these – so auch, wenn er eine intellektuelle, aber künstlerisch trockene

»Inhaltskunst« einer bloß gefällig-dekorativen »Formkunst« gegenüberstellt. Während es, so Simmel, einer »Inhaltskunst« stets um die Visualisierung von »Gedanken, Stim-mungen, Charakteren, Ideen« gehe (und ihr dabei die »anschauliche Form« zum bloßen

440 Simmel, Geistesrichtung (wie Anm. 329), 95.

441 Ders., Geistesrichtung (wie Anm. 329), 95. David Frisby sieht in Rodins Leistung, widerstreitende historische Kräfte synthetisch zusammengebracht zu haben, die eigentliche Bedeutung des Bildhauers für den Soziologen – und unterschätzt dadurch ein Stück weit die Radikalität der späteren Essays zu dem Bildhauer. Vgl. David P. Frisby, Georg Simmels Theorie der Moderne, in: Heinz-Jürgen Dahme/

Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialen, Frankfurt a.M. 1984, 9–79, hier 20.

Vehikel der »Übermittlung« gerät), vertraue eine »Formkunst«, wie man sie in japani-schen Artefakten am eindrucksvollsten verwirklicht sieht, auf dekorative Wirkungsef-fekte und auf den »bloßen Reiz der Form«.442 Man kann bloß spekulieren, an welche zeitgenössischen Stilströmungen Simmel bei der Niederschrift gedacht haben könnte, da er weder konkrete Namen noch spezifische künstlerische Programme nennt. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfte hinter Simmels Gegensatz von »Inhaltskunst« und

»Formkunst« aber der Widerstreit zwischen einem akademischen, oftmals historistisch ausgerichteten Kunstbegriff auf der einen und einer die Materialität und Dekorativi-tät betonenden Kunst, wie sie im Postimpressionismus und im Ästhetizismus gefei-ert wurde, auf der anderen Seite stehen. Rodin jedenfalls, so Simmel, habe auch diese einseitigen Extreme synthetisch zusammengeführt, jedoch nicht im Sinne einer Suche nach einem gangbaren Mittelweg, sondern im Sinne eines für Rodin gültigen »indivi-duellen Gesetzes«, das die starre Entwicklungslogik der Geschichte zu durchbrechen vermag:

Es kann scheinen, als ob seine Figuren und Gruppen rein auf den Umriß kom-ponirt wären, von dem richtigen Blickpunkt aus gesehen, sind die Umrißlinien, das Spiel zwischen der Schwere der Massen und ihrer Aufhebung, die Balance zwischen den reliefmäßig vor- und zurücktretenden Theilen so vollkommen be-glückend, daß das Werk zu seiner Rechtfertigung nichts Seelenhaftes mehr hinter seiner Anschaulichkeit bedürfte und als reine Formkunst erscheint. Nun aber ist diese Form doch genau die Form jenes tiefsten seelischen Inhaltes, sein Strom ergießt sich genau bis zu ihrer Grenze, nirgends etwas leer lassend und nirgends darüber hinausflutend.443

Simmels Stilisierung von Rodins Schaffen als eine historische Leistung der Zusam-menführung von konfliktbehafteten Polaritäten in einer ausdifferenzierten Moderne mag uns heute etwas konventionell erscheinen. Die hier bereits anklingende Gedan-kenfigur einer Verschmelzung von Form und Inhalt und somit auch von Bedeutungs-träger und Bedeutung wird jedoch erst im späteren Aufsatz zum »Bewegungsmotiv«

ihre eigentliche methodologische Relevanz erweisen. Indem Simmel nämlich von der oberflächlichen Erscheinungsform der Werke auf die darin eingelassene »Beseelung«

zurückschließt, kann er im selben Zug Rodins Körperdarstellungen mit ihren Gesten, Posen, Haltungen und Bewegungsakten als historisch signifikante Epochensymptome beschreiben. Über diese konzeptuelle Brücke kann er zugleich von Rodins Skulptu-ren und Plastiken auf die Seinsweisen des modernen Subjekts schließen und in den Kunstwerken probate Untersuchungsgegenstände für seine Kulturtheorie der Moderne sehen, wie er sie in anderen Essays auch im Porträt, im Henkel oder in der Landschaft erkennen wollte. Im Gegensatz zu Rilke basiert Simmels Herangehensweise an Rodin, wie auf den nachfolgenden Seiten noch genauer analysiert werden soll, nicht mehr auf einem Interpretationsgestus, den man »apokalyptisch« nennen könnte, insofern er in seinem hermeneutischen Zugriff von einer sichtbaren Oberfläche des Kunstwerks auf eine unsichtbare Bedeutungstiefe zu schließen versucht. Daher überrascht es kaum, wenn Simmel Rilkes Überlegungen zu den Rodinschen Gebärden durch seine Theorie

442 Simmel, Geistesrichtung (wie Anm. 329), 95.

443 Ders., Geistesrichtung (wie Anm. 329), 98.

des »Bewegungsmotivs« überschreibt. Wir erinnern uns, dass die Gesten der Skulpturen und Plastiken für den Dichter Formen einer ebenso unmittelbaren wie unvermittelten Kommunikation waren, eine künstlerische Körpersprache im Wortsinn also, die kaum mehr einer Übersetzung bedarf, weil sie – als bildgewordene Naturgeschichte – von his-torischen Überformungen und kulturellen Codierungen weitgehend befreit erscheint.

Simmels Deutungszugriff dagegen erkennt die mediale Oberfläche der Skulpturen und Plastiken im emphatischen Sinn als eigentlichen Schauplatz der Bedeutungsproduktion wie auch als Manifestationsort der Historizität an. Das »Bewegungsmotiv« ist daher auch nicht im Sinne eines bloß ästhetisch reizvollen Oberflächeneffekts zu verstehen, der auf eine verborgene Tiefenstruktur verweist, sondern es schreibt sich im skulptu-ralen Körper und seiner im modelé durchgeformten »Epidermis« als eine historische Signatur der Moderne ein.

In dem späteren Aufsatz Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik von 1909 setzte sich Simmel wiederum das Ziel, diejenige »Stelle zu bestimmen, die Rodin in der Geschichte der Kunst deshalb zukommt, weil er sie in der Geschichte des Geistes einnimmt«444. Doch ging es dem Philosophen nun nicht mehr darum, Rodin als eine Figur der Versöhnung von widerstreitenden geistesgeschichtlichen Kräften zu profilieren. Erst in dieser neuartigen Herangehensweise an Rodins Kunst nahm die Me-taphorik einer allumfassenden »Bewegtheit« der Skulpturen und Plastiken eine wich-tige Vermittlerrolle ein. Nun kreisten Simmels Gedanken um die Moderne als einem historischen Prozess, der auf den Menschen und seine psychisch-physische Verfasstheit ebenso entsubstantialisierend wie relativierend einwirkt und der dabei Innen und Au-ßen, also Körper und Seele, gleichermaßen durchdringt.

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 180-184)