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Deutungskollaps und Kompensationsstrategien

Im Gegensatz zu Steinberg und Elsen, die in dem männlichem Akt trotz ihrer unter-schiedlichen Bewertung eine Art Extremfall der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung sehen wollten, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die kunstkritischen Kommentare, dass sich Rodins Zeitgenossen gerade aufgrund der ikonografischen und stilgeschichtli-chen Unbestimmtheit der Plastik umso mehr herausgefordert fühlten, sie einzuordnen und zu klassifizieren, und sei es im Rückgriff auf sozialtypologische und physiognomi-sche Kategorien. Kommen wir daher noch einmal zu den anspielungsreichen Sätzen des anonymen Kritikers zurück, der im Étoile belge seine wirkmächtigen Beobach-tungen publiziert hat. Wir haben gesehen, inwiefern die Rede vom »vie« der Plastik eine höchst zweifelhafte Qualität des Werks – »une qualité aussi précieuse que rare« – charakterisieren sollte, womit zugleich auch die gefährliche Nähe des Artefakts zu einer womöglich durch mechanische Verfahren errungenen Täuschung angedeutet werden konnte. Im weiteren Fortgang des Artikels wird deutlich, dass sich hinter diesem Qua-litätsurteil wohl auch das Eingeständnis des Kunstkritikers verbarg, dass er die tiefere Bedeutung dieses Werks nicht entschlüsseln konnte. Denn über die Benennung der verblüffenden »Lebendigkeit« des Werks gelangte er kaum hinaus: »Nous avons voulu signaler cette figure dont l’affaissement physique et moral est traduit si expressivement que sans avoir d’autres indications que l’œuvre elle-même, il nous paraît que l’artiste a voulu représenter un homme sur le point de se suicider.«62

Kaum ein Hinweis erlaubt es dem Kritiker also, seine eigene Lektüre ikonografisch zu untermauern –  lediglich die körperliche Präsenz des »œuvre elle-même« dient ihm als Anhaltspunkt seiner tastenden Annäherung. Und doch lässt uns die Tatsa-che aufhorTatsa-chen, dass der Kritiker in der Figur eine Art physisTatsa-che wie auch moralisTatsa-che Sinkbewegung (»affaisement physique et moral«) auszumachen glaubte. Nicht weni-ger überraschend ist die hochgradig spekulative Vermutung, dass der Dargestellte gar Selbstmordabsichten hegen könnte. Angesichts eines fundamentalen Mangels an iko-nografischer Bestimmtheit griff der Kritiker also auf Entzifferungsverfahren zurück, die einem ganz anderen Diskurs zuzuhören scheinen. Auf diese Merkwürdigkeit wird gleich noch zurückzukommen sein. Doch verfolgen wir zunächst noch einige andere Einschätzungen zu der Plastik.

In seinem Bericht über die Brüsseler Ausstellung thematisierte der bereits erwähnte Kritiker Jean Rousseau in offensiver Weise seine mehrfachen – und dabei nahezu er-folglosen  – Anläufe einer interpretativen Annäherung an das Werk. Auch er merkt kritisch an, dass Rodin wohl so sehr mit dem Herstellungsprozess selbst beschäftigt

62 Anonymus, Rodin (wie Anm. 50).

gewesen sein musste, dass er offenbar vergessen habe, den Titel preiszugeben – ganz so, als handele es sich bei diesem Versäumnis nur um einen Flüchtigkeitsfehler des Künstlers. Auch Rousseau bemerkt jene »étrangeté« der Figur, von der der Kunstkri-tiker des Étoile belge schon gesprochen hatte, und erhebt daher die Frage, weshalb die Augen der Figur halb geschlossen und eine Hand zugleich erhoben ist. Anders als sein Kritikerkollege versucht er aber, der Plastik durch eine Stilkategorie, nämlich die des

»Realismus«, beizukommen. Freilich dürfte er sich dabei nur vordergründig auf die sozialkritische Kunst in der Tradition Gustave Courbets (1819–1877) bezogen haben.

Eher suchte er nach Verbindungen zur Kunst der Antike, die er in Rodins Aktfigur aus-zumachen glaubte und durch die der offenkundige Mangel an einer stilgeschichtlichen Anbindung kompensiert worden wäre. Dass Rousseaus stilgeschichtlicher Vergleich dem heutigen Urteil nur bedingt standhalten kann, ist vielleicht weniger entscheidend als die rhetorische Strategie des Kunstkritikers, mit der er nach historischen Vorläufer-figuren für die offensichtliche Naturnähe von Rodins Darstellung sucht: Rodin habe die menschliche Anatomie eben so umfassend und genau studiert, wie sie sich dem anti-ken Bildhauer im griechischen gymnasion noch dargeboten hatte.63 Wenn Rodin spä-ter selbst immer wieder auf seine künstlerische Orientierung an der Natur und an der Kunst der Antike zu sprechen kommt, so mag man in dieser Form des self-fashioning auch eine kluge Aneignung der frühesten kunstkritischen Kommentare sehen, die über den Bildhauer in der Öffentlichkeit zirkulierten.

Ähnlich wie der anonyme Kritiker der Étoile belge erhob auch Charles Tardieu (1838–

1909), der die Plastik im Pariser Salon sehen konnte, den Vorwurf, dass Rodin vielleicht einen Abguss vom lebenden Modell angefertigt hat. Allerdings versucht er mit seinem Beitrag den Künstler zumindest insofern in Schutz zu nehmen, als er das Werk als eine Studie und somit als den Versuch einer möglichst naturgetreuen Kopie eines Mannes verstehen wollte. Der Kritiker erwähnt, dass Rodin mit seinem Werk, welchem zwi-schenzeitlich der Titel Der Besiegte verliehen worden war, wohl die körperlich-seelische Erfahrung des Krieges allegorisch erfassen wollte. Deshalb sei es dem Künstler weder um Schönheit noch um charakteristische Eigenheiten zu tun gewesen. Ihm sei einzig daran gelegen gewesen, ein ganz gewöhnliches Individuum darzustellen. Indem Tar-dieu nachdrücklich die Anonymität der Figur und ihre seiner Ansicht nach ganz und gar alltägliche Erscheinung in den Vordergrund rückt, greift auch er – wenngleich eher tastend und vorsichtig – tendenziell auf Strategien einer physiognomischen Deutung zurück. Doch noch in Bezug auf einen anderen Aspekt gleicht Tardieus Kommentar den vorigen Ausstellungsbesprechungen. Auch Tardieu schildert nämlich die höchst ambivalente Betrachtersituation, in die ihn dieses Werk gezwungen hat. Wie schon bei seinen Kollegen, wurden auch seine Deutungsanstrengungen durch einen Mangel an ikonografischer Eindeutigkeit gestört:

Seulement il manque peut-être à sa statue un attribut explicatif qui en précise le sens. Cependant, même sans commentaire, la tension des muscles, l’expression de la face, le geste des bras, suffisent à définir l’intention de l’artiste […].64

63 Vgl. Jean Rousseau, Rodin, in: Revue des Arts, Écho du Parlement, Brüssel, 11.04.1877.

64 Charles Tardieu, Le Salon de Paris – 1877 – La Sculpture, in: L’Art 3/10 (1877), 100–108, hier 108, DOI:

http://dx.doi.org/10.11588/diglit.16906.27 (Zugriff vom 03.01.2017).

Dabei ist es gerade dieser Aspekt eines Verzichts auf sinnstiftende Attribute, der dem Kri-tiker so etwas wie ein ästhetisches Präsenzerlebnis vor der Plastik ermöglicht hat. Rodins kühne Präsentation eines plastischen Aktes, der von vertrauten Stilcodes ebenso befreit worden war wie von ikonografischer Eindeutigkeit, unterlief also die eingeübten Aneig-nungsstrategien der Kunstkritiker und lenkte deren Aufmerksamkeit im Gegenzug auf die plastische Körperdarstellung selbst. Zwar habe Rodin eine Anbindung an einen dechiff-rierbaren Stil, der eine Einordnung nach normativen Kriterien erlauben würde, sträflich vernachlässigt, aber das Werk evoziere doch einen Effekt von gesteigerter Lebendigkeit und unmittelbarer physischer Präsenz, über die die Kritiker nicht kurzerhand hinweggehen konnten. In ihrer strategischen Argumentation gleichen sich die kunstkritischen Kommen-tare also in zweierlei Hinsicht: Sie präsentieren Berichte über ihre eigenen Rezeptionspro-zesse, in denen die überkommenen Strategien der Bedeutungsentschlüsselung am Bildwerk scheitern, bevor sie in eine neuartige Wahrnehmung der Plastik und ihrer ästhetischen Verlebendigungseffekte münden. Und sie greifen mal mehr, mal weniger nachdrücklich auf physiognomische oder pathognomische Deutungsmuster zurück, die den Mangel an Worten und Kategorien für Rodins neuartiges Werk ausgleichen sollten. Beide Verfahren, die physiognomische Deutung und die Beschreibung der präsentischen Lebendigkeitswir-kung, sind im Schrifttum über Skulpturen und Plastiken keineswegs ungewöhnlich. Neu ist jedoch ihr fast gleichzeitiges Zusammentreffen in den verschriftlichten Rezeptionserlebnis-sen. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Tradition der Physiognomie, um den historischen Stellenwert der kunstkritischen Einlassungen genauer verorten zu können.

Physiognomische und pathognomische Lektüreverfahren reichen bis in die antiken medizinischen Traktate des Corpus Hippocraticum zurück. Vor allem im 19. Jahrhundert erlangten sie im Zuge einer umfassenden Verwissenschaftlichung des Körpers eine neue Aktualität.65 Dass die Deutung von charakterlichen Eigenschaften und Wesens-zügen des Gegenübers durch die Analyse von physiognomischen Merkmalen wie den Gesichtszügen, den körperlichen Dispositionen, aber auch den mimischen und gesti-schen Besonderheiten mit der Geschichte der Wahrnehmung von Skulptur und Plastik stets aufs Engste verknüpft war, zeigt sich beispielsweise an der im Jahr 1504 erschie-nen Schrift De Sculptura des Humanisten Pomponius Gauricus (1483–1530), die zu den klassischen Texten der physiognomischen Tradition zählt und die auch Rilke in seiner Rodin-Monografie als Eingangsmotto zitieren wird.66 Im Umkreis der französischen Académie royale de peinture et de sculpture durchlief die Physiognomie im 17. Jahr-hundert durch die berühmten Conférences des Hofmalers Charles Le Brun (1619–1690) eine durchgreifende Typisierung, Codifizierung und Semiotisierung, die sich im Sinne einer cartesianischen Trennung von Leib und Seele entfaltete.67 Als eine Kunst

65 Vgl. Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995, 20–41.

66 Vgl. Pomponius Gauricus, De sculptura (1504), hg. von Paolo Cutolo/Francesco Divenuto, Neapel 1999, URL: http://docnum.u-strasbg.fr/cdm/compoundobject/collection/coll5/id/1343/rec/1 (Zugriff vom 01.01.2017). Vgl. zudem: Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin (Erster Teil) (1902), in: Ders., Sämtli-che Werke, Bd. 5: Worpswede – Rodin – Aufsätze, Frankfurt a.M. 1965, 137–201, hier 137, URL: http://

gutenberg.spiegel.de/buch/august-rodin-einer-jungen-bildhauerin-7304/1 (Zugriff vom 01.01.2017).

67 Vgl. Thomas Kirchner, L’Expression des Passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der franzö-sischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991. Vgl. zudem: Schmölders, Vorurteil (wie Anm. 65), 27.

der individuellen Charakterkunde erlebte sie dagegen ihre eigentliche Blütephase im deutschsprachigen Raum im 18.  Jahrhundert mit der Veröffentlichung von Johann Casper Lavaters (1741–1801) in den Jahren 1775 und 1778 in vier Bänden erschiene-nen Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Men-schenliebe. Es handelte sich dabei um ein opulentes, reich bebildertes Werk, dessen Inthronisierung der physiognomischen Praktik zur umfassenden charakterologischen Wesensschau nicht unwidersprochen blieb, wie Georg Christoph Lichtenbergs (1742–

1799) berühmte Parodie Fragment über Schwänze beweist.68 Kritisiert wurde vor allem Lavaters universalisierender Ausgriff wie auch sein allzu optimistischer Glaube, dass man das Innere eines Menschen, also seinen Charakter und seine seelische Disposi-tion, über die äußeren Anzeichen seiner Gestalt und seiner Gesichtszüge dechiffrie-ren könne. Von dem kleinwüchsigen und durch einen Buckel entstellten Lichtenberg wurde diese Praktik als »grober Aberglaube aus der feineren Welt«69 gebrandmarkt.

Wenngleich auch immer noch unter dem Vorwand einer Beförderung der Menschen-kenntnis nahm die physiognomische Praxis spätestens mit Franz Joseph Galls (1758–

1828) phrenologischen Spekulationen, die er in seiner Schrift Über die Verrichtungen des Gehirns der Menschen und der Tiere von 1798 entwickelt hat, einen nachdrücklich naturwissenschaftlichen und dabei auch normalisierenden Unterton an. Nun war es die Beschaffenheit des Gehirns und der Schädelform, die die Fähigkeiten und Entwick-lungspotenziale des Einzelnen schon im Vorhinein bestimmten, sodass die physiogno-mische Charakterdeutung in eine biopolitische Technik der Volkserziehung und der Prävention umzuschlagen begann. Mit dem französischen Polizeipräfekten und Erfin-der Erfin-der anthropometrischen Personenidentifizierung Alphonse Bertillon (1843–1915), dem britischen Forscher Francis Galton (1822–1911), der die sogenannte Kompositfoto-grafie populär machte, und dem italienischen Kriminologen Cesare Lombrose (1835–

1909) schließlich verlagerte sich das Interesse der Physiognomik zunehmend auf die Diagnose pathologischer Eigenschaften, wie sie sich vermeintlich in den Gesichtszügen und körperlichen Erscheinungsformen von Verbrechern oder Kranken abzeichnen.70 In der Folge richtete die Physiognomie ihr Augenwerk nicht mehr vordringlich auf die charakterologische Deutung des Einzelnen, sondern auf die Aussonderung und Iden-tifizierung sozialer Typen, die nach Klasse, Geschlecht und Rasse eingeteilt und nach Anomalien ihrer körperlichen und psychischen Disposition klassifiziert wurden. Lom-broso beispielsweise wollte im Jahr 1876 den Typus des Diebes an physiognomischen Eigenheiten festmachen:

Die Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend, die Brauen gefältelt und stoßen zusammen;

68 Vgl. Thomas Kirchner, Chodowiecki, Lavater und die Physiognomiedebatte in Berlin, in: Ernst Hin-richs/Klaus Zernack (Hg.), Daniel Chodowiecki 1726–1801. Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, Tü-bingen 1997, 101–142.

69 So Lichtenberg in dem Pamphlet mit dem Titel Wider die Physiognomen von 1778. Diese Textstelle findet sich auch in der informativen Sammlung von Primärquellen bei Schmölders, Vorurteil (wie Anm. 65), 198.

70 Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Jutta Parson, Der pathographische Blick – Physiognomik, Atavis-mustheorien und Kulturkritik 1870–1930, Würzburg 2005.

die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend.71

All diese äußerlichen Eigenschaften wurden von Lombroso zu untrüglichen Zeichen eines im Subjekt wurzelnden Gefahrenpotenzials erklärt. Vor diesem Hintergrund reiht sich die Vermutung des wohl belgischen Kritikers, Rodin habe einen Mann »sur le point de se suicider« porträtiert, überraschend in den physiognomisch-pathognomischen Diskurs ein. Der psychophysisch orientierte Psychologe Théodule Ribot (1839–1916) bei-spielsweise sah im Selbstmord keinen singulären Akt, den man womöglich mit einem individuellen tragischen Schicksal rechtfertigen oder ausreichend erklären könnte. Auch wollte er darin keine nachvollziehbare Reaktion auf untragbare soziale oder persönliche Umstände erkennen. Für den Forscher galt der Selbstmord dagegen schlichtweg als eine vererbbare Erkrankung. In seiner Studie L’Hérédité aus dem Jahr 1873 stellte er ihn in eine Reihe mit anderen Formen der psychologischen Devianz wie zum Beispiel wahn-haften Halluzinationen, Hypochrondrien, Manien und Demenzerkrankungen. Selbst noch die Art und Weise der Ausführung sei, so Ribot, vererbbar:

C’est là, en effet, un autre point qui mérite d’être signalé, parce qu’il est propre à montrer le caractère automatique de l’hérédité: l’identité du genre de suicide. Nous venons d’en signaler plusieurs cas; et il résulte de relevés faits à ce sujet, que fré-quemment le même genre de mort est de tradition dans une famille; les uns se noient, les autres se pendent, les autres s’étranglent, les autres se jettent par les fenêtres.72

Der Rückgriff des anonymen Kritikers auf letztlich pathognomische Deutungsmuster signalisiert also nicht nur das Scheitern traditioneller Formen der skulpturalen Lektüre und somit ein Moment von theoretischer Verlegenheit. Es verweist auch auf die biopo-litischen Unterströme, die den kunstkritischen Diskurs des späteren 19. Jahrhunderts geprägt haben. Vor diesem Hintergrund schreibt sich Rodins Ehernes Zeitalter auch in die Vorgeschichte jener skandalträchtigen Milieuschilderung ein, die im Jahr 1881 in der öffentlichen Präsentation von Edgar Degas’ (1834–1917) Kleiner vierzehnjähriger Tän-zerin auf einer Ausstellung der Impressionisten kulminieren sollte. Bei dieser zunächst als Wachsplastik ausgestellten Figur schieden sich die Geister: Schon die Verwendung von kunstfernen Materialien wie dem Mieder und dem Tutu stieß auf Verwunderung, vermischten sich dadurch doch bildliche Repräsentation und Versatzstücke aus der Wirklichkeit, wodurch die Plastik eine geradezu fetischartige Qualität annahm. Mehr noch war es wohl Degas distanziert-kühle Physiognomik eines Arbeiterkindes an der Schwelle zum Erwachsenensein, die schon früh bemerkt und kritisiert worden war. Die Kunstkritiker haben sich vor allem an dem leicht vorgereckten Kinn und der fliehen-den Stirn gestoßen, da diese Gesichtsmerkmale allzu leicht Rückschlüsse auf die sozi-ale Herkunft der Dargestellten zulassen mussten. Degas blendete offenbar mit diesem Werk die anmutige Grazie einer jugendlichen Balletttänzerin gänzlich aus und machte

71 Cesare Lombroso, Der Verbrecher (homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher und juristi-scher Beziehung, Hamburg 1894, 229f., Permalink: http://n2t.net/ark:/13960/t4cn73g7d (Zugriff vom 01.01.2017).

72 Théodule Ribot, L’Hérédité. Étude psychologique. Sur ses phénomènes, ses lois, ses causes, ses consé-quences, Paris 1873, 174.

dadurch ebenso empathielos wie befreit von einer anklagenden Bildrhetorik die Schat-tenseite des eleganten Spektakels einer Ballettaufführung sichtbar.73 Im Körper dieser jungen Tänzerin zeichnen sich die Entbehrungen eines von harter Arbeit und rigoroser Selbstdisziplinierung geprägten Alltags allzu deutlich ein. Sie werden dadurch ebenso an die Oberfläche des Kunstwerks geholt wie die Momente der kurzzeitigen Flucht aus dieser sozialen Realität in einen tagträumerischen Zustand.74 Ähnlich wie Rodin konfrontierte auch Degas die Ausstellungsbesucher und Kritiker mit einer jugendlich wirkenden Figur, die gerade aufgrund ihres träumerisch-abwesenden Geisteszustand zu einer eingehenden physiognomischen Analyse regelrecht einzuladen schien. Schon eine der frühesten Plastiken Rodins hat die Zeitgenossen also mit einem Betrachtersze-nario konfrontiert, das höchst ambivalente Seherfahrungen und konfliktreiche In-terpretationsmodi kollidieren ließ. Der offenkundige Traditionsabbau, den Rodin mit seiner Plastik vollzogen hat, wurde jedoch von den Kunstkritikern und ihren Strategien der physiognomischen Lektüre gleichsam kompensatorisch aufgefangen und das Werk so in eine andere Traditionslinie eingeschrieben.