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Körpersprache und Selbstausdruck

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 169-176)

5.2 Eine »andere Historie« der Menschheit: Rainer Maria Rilkes Monografie zu Rodin

5.2.3 Körpersprache und Selbstausdruck

Rilkes Überlegungen zur Gebärde bei Rodin zielen auf einen neuralgischen Punkt seiner Deutungsarbeit, zeigen sich doch in diesem Fragehorizont die Herausforderung einer nicht mehr selbstverständlichen ›Lesbarkeit‹ von modernen Skulpturen und Plas-tiken besonders eindringlich. Wir haben bereits gesehen, dass Rilke in seiner Rodin-Monografie die allzu vereinfachenden Gegensatzoptionen von Natur und Kultur, Prä-senz und AbPrä-senz, Leben und Tod, Ausdruck und Projektion ablehnt und sie zugleich durch Denkformen ersetzt, durch die jene Polaritäten in spannungsvolle Konstellatio-nen einer wechselseitigen Bedingtheit gebracht werden. Ganz ähnlich begreift er auch die Gesten und Gebärden, wie sie jede einzelne von Rodins Skulpturen und Plastiken vollführt, weder als rein naturhafte und somit auch geschichtsenthobene Formen des menschlichen Selbstausdrucks, noch sieht er darin eine Form von Zeichenkommuni-kation, die schlichtweg auf konventionalisierten Codes und symbolischen Abmachun-gen beruht. Vielmehr nimmt Rilke – zumindest in seinen theoretischen Reflexionen – an, dass auch die Sprache der Gebärden erst im Horizont jener von ihm immer wieder evozierten »anderen Historie« der Menschheit Sinn ergibt, dass auch sie also eine eigene Geschichtlichkeit aufweist:

Er [Rodin] fand die Gebärden der Urgötter, die Schönheit und Geschmeidigkeit der Tiere, den Taumel alter Tänze und die Bewegungen vergessener Gottesdienste 401 Vgl. zum Verhältnis (und den Paradoxien) von Autobiographie und Textualität: Manfred Schneider,

Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986.

seltsam verbunden mit den neuen Gebärden, die entstanden waren in der lan-gen Zeit, während welcher die Kunst abgewendet war und allen diesen Offenba-rungen blind. Diese neuen Gebärden waren ihm besonders interessant. Sie waren ungeduldig.402

In der Literatur zu Rilke ist diese Passage bisweilen so gedeutet worden, als habe der Dichter in Rodins Werken eine Art Syntheseleistung gesehen, durch die eine anthro-pologisch fundierte Körpersprache mit den Anforderungen einer modernen Ästhe-tik vermittelt worden ist. So kommt beispielsweise Georg Braungart zu dem Schluss, dass »[d]ie Gegenwart, […] einerseits durch das Neue, andererseits aber auch durch die Wiederkehr des ganz Alten gekennzeichnet [ist]. Die Sprache des Körpers soll bei-dem gerecht werden, bei-dem noch nie Dagewesenen und bei-dem Archaischen.«403 Braungart rückt Rilkes These von der Ausdruckshaftigkeit der Körpersprache in den historischen Zeitkontext der Sprachkrise des Fin de Siècle, in der, so der Literaturwissenschaftler, der menschliche Leib und sein Ausdrucksvermögen als Flucht- und Ankerpunkte ver-standen wurden, um den tiefen Verunsicherungen jener Epoche entgegenzutreten, die sich angesichts der Frage gestellt haben, ob die diskursiv organisierte Sprache über-haupt fähig sei, die Lebenserscheinungen in ihrer ganzen Fülle fassbar zu machen. Der fühlende, pulsierende Leib wurde zum ganz Anderen der Sprachverwendung stilisiert;

er schien nunmehr wie eine vertrauensstiftende »Heterotopie« (Michel Foucault) in einer entzauberten Welt der leeren und mechanisierten Zeichenproduktionen. Wenn Einfühlungstheoretiker wie Johannes Volkelt (1848–1930) oder Theodor Lipps (1841–

1914) in der leiblichen Verfasstheit des menschlichen Körpers den Garanten für eine Überwindung der spätestens seit Immanuel Kant (1724–1804) unüberwindbar schei-nenden Subjekt-Objekt-Spaltung erblickten, und wenn Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos (1902) in seinem berühmten Brief die Unfähigkeit der Worte beklagte, mit ih-nen seine eigeih-nen, körperlich-psychischen Wahrnehmungserlebnisse kommunizierbar zu machen, so haben solche Reflexionen die entstandene Kluft zwischen Sprache und Körper, zwischen Zeichenskepsis und Leibvertrauen nach Braungart nur noch weiter vertieft.404

Wenn nun Braungart Rilkes Deutung der Gebärden als doppeltes Zugeständnis so-wohl an eine archaische Ursprünglichkeit als auch an eine moderne Ästhetik wertet, so schreibt er implizit denjenigen Trennungsgestus fort, der nach Bruno Latour das ge-samte moderne Denken durchzogen hat. Dabei übersieht er tendenziell Rilkes subtiles Gedankenspiel, dass auch die Natur des Menschen selbst der Historizität unterworfen sein könnte. Zwar ist es richtig, dass Rilke Rodins Gebärdensprache mit der Aura von unvordenklich alten und sakralen Ritualen belegt. Aber er verortet diese gerade nicht in einen geschichtslosen Raum der Zeitenthobenheit. So wie die Neuartigkeit der Ge-bärdensprache bei Rodin nicht aus einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit resul-tiert, so werden bei Rilke die Pole von Natur und Kultur nicht einfach diametral gegen-übergestellt. Eher wird die Entwicklungslogik der Moderne, die sich vor allem in einer Verfeinerung von Zeichenpraktiken und in Prozessen der kulturellen Überformung

402 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 170.

403 Braungart, Leibhafter Sinn (wie Anm. 361), 245.

404 Ders., Leibhafter Sinn (wie Anm. 361), 170.

ausdrückt, mit den Prozessen einer selbst als wandelbar verstandenen Natur des Men-schen parallelisiert. Die Geschichte der Akkulturation des MenMen-schen wie auch seine Naturgeschichte laufen in Rilkes Version der Moderne nebeneinander her, wenn auch mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten:

Aber ihre Bewegungen sind zugleich auch wieder zögernder geworden. Sie haben nicht mehr die gymnastische und entschlossene Gradheit, mit der frühere Men-schen nach allem gegriffen haben. Sie gleichen nicht jenen Bewegungen, die in den alten Bildwerken aufbewahrt sind, den Gesten, bei denen nur der Ausgangspunkt und der Endpunkt wichtig war. Zwischen diesen beiden einfachen Momenten ha-ben sich unzählige Übergänge eingeschoha-ben, und es zeigte sich, daß gerade in die-sen Zwischen-Zuständen das Leben des heutigen Menschen verging, sein Handeln und Nicht-Handeln können.405

Die Gebärden der Figuren Rodins können laut Rilke kaum mehr im Sinne eines unver-stellten Ausdrucks von unwillkürlichen Impulsen oder willentlich gesteuerten Hand-lungen verstanden werden. In ihren Bewegungen, in ihrem Handeln und in ihrem ges-tischen Gebaren offenbart sich vielmehr eine ihnen eigene Geschichtlichkeit. Während vor dem Beginn der Epoche der Moderne (die Rilke zumindest in diesem Buch letztlich mit Rodin beginnen lässt) noch ein unmittelbarer Nexus zwischen dem intentionalen Wollen und dem tatsächlichen Agieren bestanden habe, so zeichne den skulpturalen Körper seit Rodin schon eine zögernde Unentschiedenheit, ein Moment des reflexiven Innehaltens aus. Auch mit diesem Versuch einer Charakterisierung genuin moderner Befindlichkeiten präsentiert sich Rilke auf der Höhe der zeitgenössischen philosophi-schen Reflexion. Wenige Jahre vor dem Erscheinen der Rodin-Monografie hatte sich Henri Bergson in seiner vielgelesenen Studie Matière et Mémoire aus dem Jahr 1898 von dem mechanistisch-deterministischen Menschenbild der Psychophysik abgewendet.

Martin Jay hat überzeugend herausgearbeitet, dass Bergson mit dieser Studie »chal-lenged the positivist image of the body as an object to be analyzed from the outside, as merely one of innumerable ›things‹ in the material world.«406 Während die Psycho-physiker das Denken, das Wünschen und das Verhalten des Menschen noch gemäß der unerbittlichen Kausalitätskette von Reiz-Reaktions-Schemata zu erklären versuchten, trat Bergson emphatisch für einen Glauben an die Freiheit des Subjekts ein. Dies be-gründete er nicht zuletzt aus einer evolutionsgeschichtlichen Perspektive:

En un mot, plus la réaction doit être immédiate, plus il faut que la perception res-semble à un simple contact, et le processus complet de perception et de réaction se distingue à peine alors de l’impulsion mécanique suivie d’un mouvement né-cessaire. Mais à mesure que la réaction devient plus incertaine, qu’elle laisse plus de place à l’hésitation, à mesure aussi s’accroît la distance à laquelle se fait sentir sur l’animal l’action de l’objet qui l’intéresse. Par la vue, par l’ouïe, il se met en rapport avec un nombre toujours plus grand de choses, il subit des influences de plus en plus lointaines; et soit que ses objets lui promettent un avantage, soit qu’ils le menacent d’un danger, promesses et menaces reculent leur échéance. La part 405 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 170f.

406 Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth Century French Thought, Berkeley/

London 1993, 192, URL: https://books.google.de/books?id=_T-BfsiIWCoC (Zugriff vom 01.01.2017).

d’indépendance dont un être vivant dispose, ou, comme nous dirons, la zone d’in-détermination qui entoure son activité, permet donc d’évaluer a priori le nombre et l’éloignement des choses avec lesquelles il est en rapport.407

In jener »Zone der Indeterminiertheit«, die sich zwischen dem Denken und dem Han-deln, zwischen einem unmittelbaren Willensimpuls und seiner körperlich-physischen Ausführung einschleicht, erblickte Bergson also einen Raum für eigenständige Ent-scheidungen und – in konsequenter Fortsetzung des Gedankens – für die Entstehung einer nicht voraussagbaren, eben einer nicht determinierten Zukunft.408 Auch Rodins skulptural-plastische Körperbilder sind für Rilke stets an jener Kippstelle angesiedelt, an der sich eine immer schon geschichtliche Natur mit einer stets ins Naturhafte kip-penden Geschichtlichkeit begegnet.

So verlockend und überzeugend Rilkes Reflexionen auch erscheinen, in seinen kon-kreten Werksbetrachtungen hat er sich offenkundig nicht durchgehend an sein eigenes theoretisches Programm gehalten. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner Hinfüh-rung zum Ehernen Zeitalter, in der die Interpretationskunst des Dichters streckenweise tautologische Züge anzunehmen droht. In der Dramaturgie seines argumentativen Aufbaus nimmt diese Plastik eine entscheidende Rolle ein, da sie dem Dichter zum Beweis einer vom Bildhauer schon früh erreichten, »unumschränkten Herrschaft […]

über den Körper«409 dient. Rilke setzt bei der von der Kunstkritik schon so eindring-lich beschriebenen Erfahrung von ästhetischer Präsenz vor dem Werk an, wenn er die Gebärde und die Körperhaltung der männlichen Aktfigur als eine Form des Selbstaus-drucks imaginiert, die scheinbar keiner kulturellen Vermittlungsinstanz mehr bedarf.

Zunächst nähert sich Rilke der Plastik noch mit dem konventionellen Instrumentarium einer physiognomischen Lektüre der Gesichtszüge, die ihm von der »Schmerzhaftig-keit eines schweren Erwachens«410 zu künden scheinen.411 Sodann wandert sein Blick jedoch entlang der skulpturalen Epidermis, in der die »Sehnsucht nach dem Schwe-ren […] auf dem kleinsten Teil dieses Körpers geschrieben«412 steht. In einer für Rilke typischen Rhetorik der Inversion, die wir auch in den zahlreichen Chiasmen seiner Gedichte wiederfinden, setzt er die Metapher des sprechenden Mundes ein, um die stumme Körperoberfläche der Plastik als ausdruckshaft und bedeutungsgesättigt zu imaginieren: »[j]ede Stelle war ein Mund, der es sagte, in seiner Art«413. Aus der Pers-pektive der Rhetorik betrachtet, bedient sich Rilke hier in einer sehr freien Weise der Figur der Prosopopoïe, also derjenigen Trope der Adressierung, durch den leblosen Dingen die Eigenschaften von lebendigen Wesen verliehen werden. Durch sie wird im Text Naturdingen wie Steinen oder verstorbenen Personen erst eine Stimme gege-ben. Die Prosopopoïe kann also aufgrund ihrer rhetorischen Struktur eine ästhetische

407 Henri Bergson, Matière et Mémoire. Essai sur les relations du corps à l’esprit, Paris 1985 (Originalaus-gabe: 1896), 29.

408 Vgl. zur Frage von Handeln und Zögern aus neuerer kulturwissenschaftlicher Perspektive: Vogl, Zau-dern (wie Anm. 395), 2007.

409 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 159.

410 Ders., Rodin (wie Anm. 66), 160.

411 Vgl. Daniela Bohde, Physiognomische Denkfiguren in Kunstgeschichte und Wissenschaften. Lavater und die Folgen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 56 (2011), 81–121.

412 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 160.

413 Ders., Rodin (wie Anm. 66), 160.

Erfahrung von Präsenz und eine Verbürgung von Sinn gerade dort garantieren, wo Absenz und Sinnentleerung drohen: nämlich im Anblick der schieren, toten Materia-lität der Dinge. Seit Paul de Mans dekonstruktivistischen Reflexionen zur Prosopopoïa haben sich neuere literaturwissenschaftliche Arbeiten eingehend mit den rhetorischen Leistungen dieser Trope beschäftigt. Über ihre konkrete Verwendung in der Literatur hinaus hat man in ihr auch eine Art Metamodell der gelingenden Lektüre von Tex-ten erblickt. Denn auch im Akt des Lesens müssen die toTex-ten Buchstaben in all ihrer Materialität durch die Imagination des Lesers vergessen gemacht werden, so dass die-ser gleichsam in die vor ihm niedergeschriebenen Geschichten eintauchen kann. Die Schrift vor den Augen des Lesers muss also einer halluzinierten Fülle, Lebendigkeit und Präsenz weichen. Somit gleicht der Akt des Lesens jenem performativen Vollzug des ›Vergessen-Machens‹ der leblosen Materialität, der mit der Prosopopoïa rhetorisch umschrieben wird.414 In einem Aufsatz zur Problematik der Autobiographie als Mas-kenspiel (so der Titel) hat Paul de Man die Prosopopöie definiert als

Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben.415

Mit der Prosopopoïa als einem Metamodell des Lesens setzt der Lesende also im Voll-zug der Lektüre die Gegenwärtigkeit einer lebendigen Stimme voraus, um hierdurch die Stummheit und die Materialität der Schrift vergessen zu machen. Diesen rhetori-schen Effekt des performativen Hervorbringens einer Sprechinstanz im Text, durch die deren tatsächliche Absenz camoufliert werden soll, hebt auch Bettine Menke als die Funktionsweise der Prosopopoïa selbst hervor:

Die Prosopopoiia, die Gesichts-Verleihung, die das Lesen vornimmt, ›sagt‹, indem sie mit einer Maske oder einem Gesicht ›versieht‹ (prosopon-poien), ›to give a face‹

(de Man), auch, dass dort zuvor keines war – ebenso wie (und gerade insofern) sie für diesen Mangel eintritt (und ihn verstellt). Die Prosopopoiia ist eine Katachrese des Gesichts. Denn Katachrese wird die Trope genannt, nach der ein Wort für ein (zuvor) nicht Benanntes, für das also kein Wort literal verwendet wird, eintritt.416 Wenn Rilke nun »[j]ede Stelle« von Rodins Bronzeplastik als eine Vielzahl von spre-chenden Mündern beschreibt, wenn er also die leblose Materialität der bronzenen Oberfläche durch die Halluzination eines allumfassenden, beseelt-belebten Sprachor-gans ersetzt, so verrät sein Einsatz der Figur der Prosopopoïe eine rhetorische Strategie, durch die eine scheinbar mühelose Lesbarkeit der Plastik imaginiert werden soll. Rilke

414 Vgl. mit Blick auf die Verwendung der Prosopopoïa in Rilkes Lyrik: Benjamin Bühler, Lebende Körper.

Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, 167–209.

415 Paul de Man, Allegorie als Maskenspiel, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius (Aesthetica, 682), Frankfurt a.M. 1993, 140.

416 Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, Mün-chen 2000, 143, Permalink: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00041265-8 (Zugriff vom 01.01.2017).

kann also bereits auf die streckenweise noch unbeholfen wirkenden Zugriffsweisen der frühen Kunstkritik verzichten, auf ihre leere Rhetorik des »Lebens« ebenso wie auf ihre stilgeschichtlichen Vergleichsbeispiele und ihre sozialphysiognomischen Annäherun-gen. Doch kann er dies nur um den Preis einer letztlich kaum überprüfbaren Hypo-these, die sich hinter der Behauptung verbirgt, dass der plastische Körper des Ehernen Zeitalters seine eigene Bedeutung gleichsam unvermittelt zu externalisieren vermag, dass er sich also dem Betrachter als ein Bedeutender zu präsentieren weiß, wobei diese Bedeutsamkeit im Namen der Prosopopoïe und der plastischen Oberfläche als einem

»sprechenden Mund« ausgetragen wird. Rodins Ehernes Zeitalter wird von Rilke als eine sich selbst erklärende, mithin als eine selbstevidente Einheit von Bild und Bedeutung imaginiert, wodurch der Dichter zugleich der Gefahr entgehen kann, dass seine Lektüre ihrer hermeneutischen Legitimation verlustig gehen könnte. Folgt man der Polarität von Romantik und Moderne, wie sie Bettine Menke vorschlägt, wenn sie diesen auf den Gegensatz von einer »romantischen« Einwilligung in die rhetorischen Leistungen der Prosopopoïe und einer »modernen« Lust an der Störung ihres allzu reibungslosen Funktionierens bringt, so gibt sich Rilkes Modell der Lektüre von ›moderner‹ Skulptur zumindest in diesem Fall als Erbe einer »romantischen« Textstrategie zu erkennen:

[S]ie gibt die (Rhetorik der) Stimme vor – für die Lesbarkeit und für die Restitu-tion von Vergessenem, Verstummten, Toten. Sie figuriert an der Stelle der roman-tischen Frage, wie aus Absenz Präsenz, aus dem Tod Leben und aus der Stummheit eine Verlautbarung werden kann. Und sie führt einen romantischen Index mit sich als rhetorische Figur der Löschung der Rhetorik: Die Figur der Stimme ist eine Figur, die in ihrem Effekt, der ›Stimme‹ heißt, ihre rhetorische Verfaßtheit und damit ihre Stummheit verstellt.417

Diese Perspektive auf rhetorische Verfahren der Verstellung oder gar der Löschung von Rhetorik erlaubt es auch, Rilkes wiederholte Analogieschlüsse von Rodins Bildwerken mit Naturerscheinungen zu erhellen. Schließlich lässt sich die Verwendung der Proso-popoïe nicht nur als eine Rhetorik der ›Entrhetorisierung‹ beschreiben, sondern auch als ein Verfahren, durch das kulturelle und artifizielle Phänomene den Anschein von Natürlichkeit erhalten, durch das also eine Naturalisierung von Kultur angestrebt wird.

Rilke jedenfalls betont, dass er im Ehernen Zeitalter »keinen Platz entdecken [kann], der weniger lebendig, weniger bestimmt und weniger klar gewesen wäre«.418 Der skulp-turale Leib des männlichen Aktes wirkt auf ihn wie die »Silhouette eines Baumes, der die Märzstürme noch vor sich hat«, seine Gebärden gleichen seiner Ansicht nach einer

»Quelle, welche leise an diesem Leibe niederrann«, doch sind diese zugleich noch »wie in einer harten Knospe« eingeschlossen.419 Aus Textpassagen wie dieser lässt sich auf die performative Dimension von Rilkes Interpretationsarbeit rückschließen, die das, was sie behauptet, zugleich auch schon vollzieht.420 Mit dieser Strategie der Selbstlegiti-mation seiner Lektüre gelingt es Rilke, die Gebärden und Körperhaltungen von Rodins Werken als mühelos lesbar und somit in hermeneutischer Hinsicht als (aus sich selbst

417 Menke, Prosopopoiia (wie Anm. 416), 150.

418 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 160.

419 Ders., Rodin (wie Anm. 66), 161.

420 Vgl. Menke, Prosopopoiia (wie Anm. 416), 170.

heraus) verstehbar auszugeben: Die »redenden, erregten Arme[…]«421 des Johannes der Täufer, das »Sich-nach-innen-Biegen«422 der Plastik La méditation (Abb. 11), der

»herausfordernde Schritt«423 des Balzac (Abb. 12): Sie alle scheinen eine gestische Kör-persprache des Skulpturalen zu illustrieren, die dem künstlerisch empfänglichen Blick unmittelbar verständlich erscheint.

Man kann diese Tendenz von Rilkes interpretativem Gestus aus der Perspektive ei-ner poststrukturalistischen Ernüchterung durchaus kritisch sehen, wenn man darin eine Form der unhinterfragten Naturalisierung von Rodins skulpturalen Körpern, Ges-ten und Gebärden erkennt. Georg Simmel, als überzeugter Verteidiger der kulturellen Moderne, die erst in der Perspektive der Geschichte erhellt werden kann, hat eine sol-che Deutungsweise vielleicht auch im Blick auf das Modell von Rilke einer tiefgreifen-den Revision unterzogen. Aber erst die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss (geb. 1941) sollte in den späten 1970er-Jahren den hier ausgelegten Faden der interpretativen Lek-türe von skulpturalen Körperbildern wieder aufnehmen. Sie war es schließlich, die die Rilkeschen Denkfiguren einer radikalen Kritik unterzogen hat, indem sie das von dem Dichter so wortreich evozierte Phantasma einer von den Skulpturen und Plastiken aus-gehenden, ästhetischen Emanation der Lebendigkeit kritisch hinterfragte.

421 Rilke, Rodin (wie Anm. 66), 161.

422 Ders., Rodin (wie Anm. 66), 162.

423 Ders., Rodin (wie Anm. 66), 161.

Abbildung  11: Auguste Rodin, La Méditation, 1886, Gips, Paris, Musée Rodin [Bildrechte: Musée Rodin, Paris,FotografieChristianBaraja].

5.3 Das »Souveränwerden des Bewegungsmotivs«: Georg Simmels

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