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Am Grund des Menschlichen?

In einer Ausstellung aus dem Jahr 2007 mit dem Titel elegant // expressiv. Von Houdon bis Rodin. Französische Plastik des 19. Jahrhunderts, die in Karlsruhe gezeigt wurde, nahm Rodin neben Edgar Degas eine Hauptrolle für die kunsthistorische Erzählung ein.102 Sehen wir uns an, wie sie im Ausstellungsparcours und auch im Begleitkata-log vor den Augen der Besucher ausgebreitet wurde. Diese Überblicksausstellung wollte vor allem die vom Publikum oft vergessene Vielfalt und Variationsbreite der

98 Die kunsthistorische Überblicksliteratur zur modernen Skulptur ist so umfassend, dass eine Auflis-tung den Rahmen einer Fußnotennotiz sprengen müsste. Exemplarisch sei daher verwiesen auf: Pene-lope Curtis, Sculpture 1900–1945. After Rodin, Oxford 1999; sowie: Antoinette Le Normand-Romain (Hg.), La Sculpture dans l’Espace. Rodin, Brancusi, Giacometti… (Austellungskatalog: Paris, Musée Rodin, 17.11.2005–26.02.2006), Paris 2005, 15.

99 Vgl. Catherine Chevillot, »Le problème, c’était Rodin«, in: Dies./Anne Dufour (Hg.), Oublier Rodin?

La Sculpture à Paris, 1905–1914 (Ausstellungskatalog: Paris, Musée d’Orsay, 10.03.–31.05.2009/Madrid, Fundación MAPFRE, 23.06.–04.10.2009), Paris 2009, 17–23, hier 21f.

100 Vgl. Le Normand-Romain, Rodin (wie Anm. 41).

101 In dieser Perspektive lässt das hier eingeschlagene Untersuchungsprojekt manche Parallele zu Nathalie Heinichs kunstsoziologischer Studie zu den Verfahren und Prozessen der Stilisierung und Mytho-logisierung Vincent van Goghs zum einsamen und devianten Helden der Moderne erkennen. Vgl.

Nathalie Heinich, La Gloire de Van Gogh. Essai d’anthropologie de l’admiration, Paris 1991.

102 Vgl. Holsten, elegant // expressiv (wie Anm. 47).

skulpturalen Stile und Modi des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Zugleich wollte sie aber nicht verschweigen, mit welch enormer Verzögerung sich die stilistischen Innovati-onen dieser Kunstgattung im Vergleich zur Malerei vollzogen haben. Vor allem die vergleichsweise konservative Auftragssituation in Frankreich wie auch die Beharrungs-kraft der ästhetischen Normen der Akademie wurden als Gründe für den verspäteten Anschluss der Skulptur und Plastik an die Kunst der Moderne angeführt.103 Wichtige Koordinaten und Bezugsfiguren einer künstlerischen Entwicklungslinie, die spürbar auf Rodins bildhauerische Umwälzungen hin perspektiviert worden sind, seien hier in einer knappen Skizze genannt.

Das erste Kapitel der Ausstellung widmete sich Skulpturen und Plastiken des spä-teren achtzehnten Jahrhunderts. Klassizistisch orientierte Bildhauerinnen und Bild-hauer wie etwa Marie-Anne Collot (1748–1821) und – weit prominenter – Jean-Antoine Houdon (1741–1828) wurden dabei als Identifikations- und Kontrastfiguren zu allem Nachfolgenden präsentiert. Erst durch ihre Traditionsverhaftung lassen sich die künst-lerischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts wirklich ermessen; doch blieb zumindest Houdon auch weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt für spätere bildhauerische Positi-onen. An seiner berühmten Büste von Jean-Jacques Rousseau (1778) kann exempla-risch aufzeigt werden, wie der Bildhauer der Gefahr einer klassizistischen Erstarrung der Physiognomie durch eine intensive psychologische Durchdringung des Darge-stellten entgegengetreten ist. Es ist dies eine bildhauerische Strategie, die von Rodin wieder aufgegriffen werden sollte.104 Wenn es auch unstrittig ist, dass in der Bildhau-erkunst romantische Strömungen, wie sie in der Malerei prominent durch Eugène Dela croix (1798–1863) oder Théodore Géricault (1791–1824) vertreten werden, in einer solchen ästhetischen Radikalität kaum in der Bildhauerei verwirklicht worden sind, so lässt die Ausstellung dennoch auch Raum für genuin antiklassische Haltungen: An François Rudes (1784–1855) gestisch bewegtem Gipsentwurf des Aufbruchs der Freiwil-ligen im Jahre 1792 (1828/33) lässt sich diese Tendenz wohl eindrücklicher darstellen als an alltäglichen Genreszenen wie etwa dem Neapolitanischem Fischerjungen (1829).105 Während die Plastik bei Pierre Jean David d’Angers (1788–1856) als Medium der Ver-ewigung von zeitgenössischen Geistesgrößen in einem realistischen Darstellungsmo-dus vorgestellt wurde, wurde mit Werken von Jean-Pierre Dantan (1800–1866) oder auch mit Honoré Daumiers (1808–1879) berühmten Ratapoil von 1851 an die Fähigkeit der Bildhauerkunst zu humoristischer Karikatur und politischer Satire erinnert.106 Die von Charles Baudelaire (1821–1867) ebenso bissig wie wohl auch zutreffend kritisierten Salonskulpturen eines James Pradier (1790–1852), die dem Bedürfnis des Kunstpubli-kums nach pikanten Szenen im nur dürftig kaschierenden, mythologischen Gewand Rechnung trugen, finden ebenso Beachtung wie die von kolonialistischen Imaginatio-nen durchdrungeImaginatio-nen Werke eines Charles Cordier (1827–1905), die in polychromem, meist dunkelfarbigem Marmor ausgeführt worden sind.107 Im Zeichen eines wieder-belebten, meist auf offizielle Repräsentationszwecke ausgerichteten Neobarock führen

103 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 13.

104 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 82ff.

105 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 103ff.

106 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 127ff., 151ff.

107 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 180ff., 192ff.

schließlich die Werke von Jean-Baptiste Carpeaux (1827–1875) und Albert-Ernest Car-rier-Belleuse (1824–1887) schon in den künstlerischen Wirkkreis von Rodin ein. Bei beiden Künstlern lernte Rodin einen Stil kennen, der mit dramatisch-bewegten Figu-rengruppen und michelangelesker Körperlichkeit auftrumpft.108

All diese stilistischen Entwicklungstendenzen scheinen nun, wenn man der Drama-turgie der Ausstellung folgt, seit den 1870er-Jahren allmählich zu einem künstlerischen Scheideweg geführt zu haben, der in den divergierenden Positionen von Jules Dalou auf der einen und von Rodin auf der anderen Seite kulminieren sollte. Innerhalb die-ser Künstlerkonkurrenz handelt es sich für die Kuratoren aber nicht um gleichwertige stilistische Optionen, sondern um einen höchst asymmetrischen Gegensatz: Eine Ten-denz zum versierten Zitieren vergangener Stilformen, wie sie bei Dalou zu beobachten ist, wurde entschieden mit Rodins Streben nach einer forcierten ›Aufhebung‹ eben-solcher stilgeschichtlicher Referenzrahmen kontrastiert. So wurde Rodin hier (neben Degas) einmal mehr als ein künstlerischer Revolutionär gefeiert, dem es gelungen sei, sich von der Last der Tradition loszusagen und die angestaubte, durch Konventionen und künstlerische Zaghaftigkeit gehemmte Kunstgattung der Skulptur und Plastik im Zeichen einer wahrhaftigen Körperlichkeit in die Moderne zu überführen. Rodin erst habe nämlich den menschlichen Körper in seiner authentischen, von stilistischen Ver-zerrungen und anekdotenhaften Ablenkungen befreiten ›Natur‹ erkannt.109 Implizit wird dabei auf eine Rhetorik zurückgegriffen, bei der Rodins Kunst emphatisch für die skulpturale Verwirklichung eines Strebens nach Wahrhaftigkeit einsteht, bei der also eine authentische Natur des Menschen ihre Rechte gegenüber einer gesellschaftlichen und ästhetischen Zurichtung einzufordern scheint. Solche genuin ›modernen‹ Mytho-logeme wie dasjenige eines ganz auf sich selbst und sein eigenes Menschsein zurückge-worfenen Künstlers sind es, deren Entstehung im weiteren Verlauf dieser Untersuchung rekonstruiert werden soll.

Ein zweites Beispiel soll diesen Zusammenhang noch verdeutlichen: Lange bevor Albert Elsen (1927–1995) durch den berühmten Streit mit Rosalind Krauss (geb. 1941) als ein kennerschaftlich orientierter Rodin-Forscher über die Grenzen seines Fachge-biets hinaus bekannt geworden war, hatte er im Jahr 1963 eine monografische Studie zu dem Bildhauer publiziert, die für das öffentliche Bild des Künstlers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso prägend war wie sie uns heute symptomatisch erscheint.

An Rodins skulpturalen Menschenbildern wollte Elsen das genuin Menschliche in den Blick rücken, ohne aber diese letztlich anthropologische Beschreibungskategorie selbst zur Diskussion zu stellen:

Rodin’s attitude towards the body was humane. None of his contemporaries had such compassionate understanding, acuity of observation, or sensitive rendering of the nude. He could find humanity in a hand or a foot. As Lipchitz has men-tioned, it was the skin rather than the word that for Rodin bore the precious trace of what it meant to live at any time. His desire to make the public and artists seriously aware of sculpture, and of the possibilities for new and meaningful emo-tional encounters with it, was closely related to his conviction of the need for a

108 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 221ff.

109 Vgl. Ders., elegant // expressiv (wie Anm. 47), 265.

sincere awareness of the human body itself. In the body, Rodin saw both man’s fatality and his own destiny. Much of Rodin’s modernity rests upon his belief that the artist must devote his life to empirical discovery for and of himself.110

Auch Elsens Überlegungen bekräftigen also, dass Rodin vielleicht erstmals in der jün-geren Geschichte der Skulptur den ›Menschen‹ (im emphatischen Sinne) in seiner un-verstellten körperlichen und psychischen Verfasstheit zur Ansicht gebracht habe. So bildet der ›Mensch‹ für Elsen eine unhintergehbare anthropologische Grundlage der Skulptur und Plastik. Zugleich wird das genuin Menschliche zu demjenigen übergrei-fenden Zielpunkt des künstlerischen Strebens auserkoren, der erst mit Rodins Schaffen erreicht worden sei. Diesem Problemfeld haben sich Rodin-Forscher immer wieder zugewandt, so auch, um ein drittes Beispiel zu nennen, der Kunsthistoriker Michael Kausch in einem Aufsatz mit dem Titel Das Menschenbild Auguste Rodins (1994). Da-rin bekräftigt Kausch, dass Rodin die »condition humaine« im Spannungsfeld von

»überzeitlichen anthropologischen Konstanten« und »eines historischen psychosozia-len Kulturzustandes« darstelpsychosozia-len wollte.111 Sodann breitet der Autor ein Panorama von übergreifenden Themen aus, um die Rodins Werke kontinuierlich kreisen: Eros, Natur und Religion, Leid und Tod, die Frau, die Arbeit, der Künstler, der Mensch, das Leben, die Psyche und die Gesellschaft. So verdienstvoll eine tableauartige Zusammenführung von Rodins wichtigsten Themenfelder auch ist, so sehr läuft eine solche Herangehens-weise doch auch Gefahr, den kunstkritischen Rezeptionsdiskurs als eine Art Neben-schauplatz zur eigentlichen künstlerischen Produktion selbst zu verstehen und dabei zu übersehen, dass dieser selbst ein konstitutiver Bestandteil jenes Diskurses ist, in dem die von Kausch diagnostizierten Zusammenhänge überhaupt erst konstruiert worden sind. Ein anderer Aspekt, der mir an einem Vorgehen, wie Kausch es vorgeschlagen hat, nicht unproblematisch erscheint, betrifft die relativ strikte Trennung von »über-zeitlichen anthropologischen« Dimensionen auf der einen und »historischen psycho-sozialen« Faktoren auf der anderen Seite. Innerhalb einer solchen Dichotomie bleibt der Gegensatz von Natur und Kultur weitgehend unberührt, obwohl er doch, wie im Kapitel zu Rilke deutlich werden soll, innerhalb der Debatte selbst intensiv zur Ver-handlung stand.

Dieses Spannungsmoment findet sich, wenn auch nicht unbedingt in dieser Schärfe, auch in den Studien anderer Forscher, zum Beispiel bei David Getsy. Der Kunsthisto-riker stellt in einer schon in der Einleitung erwähnten Studie fest, dass mit Rodin ein Wandel in der Rezeption von skulpturalen Bildwerken eingesetzt habe:

For many viewers, his energetic nudes externalized passion, desire, and longing by making the straining, contorted, or fragmentary body manifest the effects of internal emotional states. Viewers were thus offered images of the acting out of extreme emotion that they correlated to their own understanding of their bodies’

capacities and their experiences of proprioception.112

110 Elsen, Rodin (wie Anm. 48), 18.

111 Michael Kausch, Das Menschenbild Auguste Rodins, in: Paul Naredi-Rainer (Hg.), Sinnbild und Ab-bild: Zur Funktion des Bildes (Kunstgeschichtliche Studien, N.F., 1), Innsbruck 1994, 121–149.

112 Getsy, Rodin (wie Anm. 14), 9.

Dieser Feststellung ist zunächst einmal durchweg zuzustimmen. Jedoch lässt sie weitge-hend offen, ob jene emotionalen Zustände und die gesteigerte Aufmerksamkeit auf die körperliche Selbstwahrnehmung, die das Betrachten von Rodins Werken regelrecht zu provozieren scheint, als anthropologische Konstante aufgefasst werden soll oder aber als eine diskursiv-historische Konstruktion, an deren ›Funktionslogik‹ die Interpreten selbst in konstitutiver Weise mitgeschrieben haben. Folgt man jedenfalls Getsys Auf-fassung eines mit Rodin einsetzenden Umbruchs der skulpturalen Sprache, bei der es zu einem Wandel von einer Orientierung auf die Sphäre der Öffentlichkeit hin zu einer Bildrhetorik des Affektiven und Subjektiven gekommen sei, so müsste zudem auch die diskursgeschichtliche Rolle einer ›Anthropologisierung‹ der Skulptur und Plastik ge-klärt werden. Ansonsten bliebe man doch auch wieder jenem Narrativ einer Geschichte der modernen Skulptur verpflichtet, an dem schon Rodins früheste Biografen mitge-schrieben haben.

Aus der Retrospektive lässt sich daher heute vielleicht deutlicher als noch vor eini-gen Jahren oder Jahrzehnten erkennen, inwiefern sich die vorgestellten Ansätze selbst wieder in das genuin ›moderne‹ Projekt einer »anthropologische[n] Konjunktur«113 seit der »Sattelzeit« um 1800 eingliedern, wie es Michel Foucault (1926–1994) in seiner Studie Die Ordnung der Dinge (1967) einst so nachdrücklich beschrieben und wie es die jüngere, kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft weiter untersucht ha-ben: »Leib und Seele, Physis und Intellekt«, so formuliert es Albrecht Koschorke, seien damals »[…] in einen Zusammenhang [getreten], der die bis dahin gültigen metaphy-sischen und wissenspragmatischen Aufteilungen durchkreuzt und an diesem Kreu-zungspunkt einer besonderen Vorstellung vom Menschen Raum gibt.«114 Im Rekurs auf anthropologische Fragehorizonte, wie sie sich besonders eindrücklich bei Elsen oder Kausch abzeichnen, mag es zwar so scheinen, als ob Rodins Schaffen auf eine immer weiter vorangetriebene ›Entbergung‹ des eigentlichen Substrats des Menschen zuge-laufen sei, doch ist man heute dafür sensibel geworden, dass auch die Anthropologie und das von ihr erzeugte Menschenbild nicht ein Letztbegründungsszenario darstel-len, sondern selbst diskursgeschichtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen unterworfen waren.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat bekanntlich für die abendländi-sche Geschichte des Denkens in Die Ordnung der Dinge (1967) eine Epocheneintei-lung vorgeschlagen, die im Vergleich zu ideengeschichtlichen, fortschrittsorientierten Darstellungen einer Logik der in sich homogenen Wissensräume und der dazwischen liegenden, radikalen Disjunktionen folgte: So unterschied Foucault eine vorklas-sische Denkform des Mittelalters und der Renaissance, die den Bezug von Subjekt und Welt nach dem Modell von Mikro- und Makrokosmos organisierte und die an eine Lesbarkeit der Phänomene durch Ähnlichkeitsbeziehungen glaubte, von einer klassischen Ordnung des Wissens, die sich in zeitlicher Hinsicht etwa mit demjeni-gen Zeitalter deckt, das wir im deutschsprachidemjeni-gen Kontext als »Barock« zu bezeich-nen gewohnt sind. Die essenzielle Ordnungskategorie dieser Episteme war laut Fou-cault das sich im Raum ausbreitende Tableau. Ihr Wissen war daher über ein Denken

113 Koschorke, Körperströme (wie Anm. 89), 9.

114 Ders., Körperströme (wie Anm. 89), 9.

in Repräsentationsbeziehungen aufgebaut. Auf diese Epoche wiederum folgte die

»moderne« Episteme, in der jenes Repräsentationsdenken zugunsten eines Modells abgelöst wurde, das sich einem zutiefst verzeitlichenden und historisierenden Denk-stil zuwandte. In den »Quasi-Transzendentalien« des Lebens, der Arbeit und der Sprache sah Foucault die unhintergehbare Grundlage des Diskurses seit dem späten 18. Jahrhundert. Zudem meinte er in ihnen auch diejenigen Wirkkräfte entdeckt zu haben, die einen allmählichen Abschied vom Modell des ›Menschen‹ selbst ausgelöst haben: Im Leben, in der Arbeit und in der Sprache, wie sie der modernen Biologie, der Ökonomie und der Sprachwissenschaft als kaum weiter hinterfragbare, paradigmati-sche Grundlage gedient haben (und laut Foucault wohl auch bis in seine Zeit hinein weiter dienen), habe sich der Mensch eine anthropologische Verdopplung seiner Selbst geschaffen. Im selben Zug aber habe dies auch die Geltungskraft der Vorstellung eines ursprünglichen humanen ›Kerns‹ ausgehöhlt. Der Mensch der »modernen« Episteme sieht sich also laut Foucault mit seiner eigenen Ursprungslosigkeit und zugleich auch mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert, und zwar in einer Weise, wie sie frühere Epochen noch nicht gekannt haben.115 Nun richtete aber auch Rodin – weit mehr als seine Bildhauerkollegen – seine Schaffenskräfte auf die künstlerische Verwirklichung eines Menschenbildes, das sich nicht mehr an einer transzendenten oder transzenden-talen Idealvorstellung orientiert, wie sie etwa der Neoklassizismus noch zu garantieren versucht hatte. Zeit seines Lebens schuf er dagegen skulptural-plastische Körperbilder, die gerade die Leiblichkeit, die Endlichkeit und die Zeitlichkeit des Menschen radi-kal in den Vordergrund rückten. Der fühlende, pulsierende, handelnde und denkende Leib, der stets in die Dialektik von Werden und Vergehen eingespannt ist, markiert bei Rodin den Grund allen Schaffens und die Grenze (s)einer Welt. Wenn es also rich-tig ist, dass Rodins werksübergreifende Suchbewegung auf eine Bestimmung der con-ditio humana des Menschen als psycho-physischem Wesen abzielte, so zeigt sich in seinem Schaffen womöglich eine Form von ›Modernität‹, wie sie Foucault als eine zu-tiefst historische Epoche im Blick hatte. Ihre Legitimation als Epochendiagnose zieht sie weniger aus künstlerischen Merkmalen als vielmehr aus einer wissensgeschichtli-chen Dimension. Auch der anthropologisch erforschte Mensch trägt also, wie auch Ko-schorke hervorhebt, die Signatur der Historizität. Die ›anthropologische Konjunktur‹

erzeugt dabei mit rhetorisch-diskursiven Mitteln, was sie eigentlich nur zur Sprache zu bringen vorgibt:

Als Wissenschaft vom Menschen gehorcht die Anthropologie jedoch nicht einfach einem deskriptiven Verfahren. Weder steht sie einem zeitlosen noch auch bloß einem historisch-phänomenologisch je und je veränderlichen Substrat gegenüber.

Vielmehr wirkt sie selbst am Konstitutionsprozeß dessen mit, was sie beschreibt.116 Wenn man also die Sprechweisen über den ›Menschen‹, wie sie in der Debatte um Rodin omnipräsent sind, nicht als nachträgliche Darlegungen einer vorgängig existenten

115 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1974.

116 Koschorke, Körperströme (wie Anm. 89), 9.

Wesenheit versteht, sondern als wissensgenerierende Diskurse auffasst117, so kann auch die kunstkritische und kunsthistorische Rezeption als Praktik einer Selbstbeschreibung der Moderne betrachtet werden. Daher soll in dieser Studie der Versuch unternommen werden, die historischen Sprechweisen über Rodins Werk an einigen wichtigen Texten im Sinne einer Diskursarchäologie oder, genauer, einer »Sprachsituation« zu rekonstru-ieren. Im Anschluss an Hans Blumenberg (1920–1996) hat der Literaturwissenschaft-ler Anselm Haverkamp den Begriff der »Sprachsituation« präzisiert, der als »Inbegriff des in einem gegebenen kulturellen Moment Sagbaren und Unsagbaren, Gesagten wie auch und wesentlich Ungesagten« zu verstehen ist. Eine »Sprachsituation« sei folglich

»sowohl grammatisch-rhetorisch konditioniert, als auch sozial, kommunikativ, prag-matisch überformt und also beschreibbar, interpretierbar, revidierbar«.118 Das Konzept der »Sprachsituation« hat somit den Vorzug, dass es erlaubt, die Sprechweisen über einen paradigmatischen Künstler wie Rodin nicht als Aussagen zu begreifen, die den ursprünglichen Intentionen des Künstlers näher oder ferner stünden. Demgegenüber impliziert es das Streben nach einer möglichst empirischen Darlegung derjenigen Wis-sensbestände, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zutage getreten sind. Dennoch kann auch das Konzept des »Diskurses« als Rahmentheorem für diese Studie nützlich sein, vorausgesetzt freilich, man verwendet es im Sinne einer neueren kulturwissenschaft-lich orientierten Forschungsrichtung. Koschorke legt in seinen Ausführungen dar, dass der Begriff des »Diskurses«, so wie Foucault ihn im Sinn gehabt hat, durchaus auch die performative und wirklichkeitskonstituierende Funktion des Sprechens und Schrei-bens anerkenne:

Wenn man Foucault darin folgt, dass Diskurse – in dem analytischen Sinn dieses Begriffs, der durch seinen inflationären Gebrauch häufig verwischt wird – das in ihnen verhandelte Wissen nicht vorfinden, sondern erzeugen, dann sind sie ad-äquat nur als soziale Praktiken zu verstehen. […] Daraus ergibt sich, daß man die Redeweisen, die im 18. Jahrhundert über den Menschen ergehen, nicht an ihrem konstativen Nennwert und ebensowenig an ihren humanistischen Selbstkommen-tierungen messen kann, sondern in ihren machttechnischen Verwicklungen, als Komplex von Einschluß- und Ausschlußverfahren, Zergliederungen und Forma-tionen ansehen muß.119

117 In einer grundsätzlich ähnlichen Stoßrichtung wie Koschorke, wenngleich auch mit einem stärkeren Akzent auf Foucaults spätem Modell der Selbstsorge, fokussiert der Historiker Philipp Sarasin auf die moderne Hygienelehre, die im 19. Jahrhundert nicht nur eine entscheidende Rolle in der Gesund-heitsvorsorge eingenommen hat, sondern die zugleich zwischen der Weltwahrnehmung des Subjekts und seinem eigenen Körper eine neue Dimension der Reflexivität eingezogen hat. Durch beispiellose Kampagnen, wie sie etwa in Anweisungen zum Hausgebrauch, in Handbüchern oder in Pamphleten vorliegen, wurde den Menschen ein neuer, sorgsamer und selbstverantwortlicher Umgang mit sich selbst sowie eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber ihren eigenen körperlichen Vorgängen beige-bracht. Als Ziel dieser Praktiken lockte paradoxerweise die Selbsterkenntnis des bürgerlichen Subjekts als einem freiheitlichen und selbstverantwortlichen Wesen. In zugespitzter Form lautet daher Sarasins These, dass die Selbstbezüglichkeit des modernen Subjekts gerade keine natürliche Gegebenheit ist, sondern dass sie im Gegenteil der Effekt von ausgiebigen Erziehungsmaßnahmen und durchaus bio-politisch grundierten Normalisierungstechniken ist. Vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M. 2001.

118 Anselm Haverkamp, Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004, 23.

119 Ders., Latenzzeit (wie Anm. 118), 10.

Kommen wir nach diesem Exkurs noch einmal zurück zu Elsens Deutung von Rodins Kunst. Wie wir gesehen haben, hebt der Kunsthistoriker die Sensibilität des

Kommen wir nach diesem Exkurs noch einmal zurück zu Elsens Deutung von Rodins Kunst. Wie wir gesehen haben, hebt der Kunsthistoriker die Sensibilität des