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Mehrdeutigkeit und Ent-Ortung: Léon Maillard

Im Dokument Deutungen und Debatten von der Moderne (Seite 110-117)

4.2 Szenarien des Aufschubs

4.2.1 Mehrdeutigkeit und Ent-Ortung: Léon Maillard

Der heute nur mehr einem Fachpublikum bekannte Kunstschriftsteller Léon Maillard verfasste im Klima des französischen Symbolismus mit seiner Monografie Auguste Rodin. Études sur quelques artistes originaux. Statuaire aus dem Jahr 1899 eine erste, gleichwohl aus heutiger Sicht eher konventionelle Monographie zu Leben und Werk des Bildhauers.233 Dennoch weisen einige Passagen zum Höllentor auf einen signifikan-ten Umbruch hin, der sich in der Rezeptionsgeschichte zu Rodin vollzogen hat. Das da-mals noch relativ junge Genre der Künstlermonografie entstand in einem engen Wech-selverhältnis mit den Künstlerretrospektiven, die vor allem zum Ende des Jahrhunderts hin populär wurden. Wie Robert Jensen festhält, sind dessen Anfänge in den Schriften über die Barbizon-Künstler zu suchen: »These biographies exploited the ubiquitous practice of combining anecdotal information, letters, diaries, and exhibition history. As art criticism, these monographs had an explanatory power that stands halfway between Kunstwissenschaft and hearsay.«234 Wie schon einige Autoren vor ihm zeigt auch Mail-lard in seinen Werksbetrachtungen ein ausgesprochenes Interesse für die topografische Anordnung der Figuren des Höllentors, gerade in Bezug auf ihr jeweiliges Verhältnis zu

231 Vgl. Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, 252f., URL: https://books.google.de/books?id=_scA_7B7NlgC (Zugriff vom 03.01.2017).

232 Ders., Meisterwerk (wie Anm. 231), 253.

233 Vgl. Léon Maillard, Études sur quelques artistes originaux: Auguste Rodin. Statuaire, Paris 1899, Per-malink: http://n2t.net/ark:/13960/t1vd7ht31 (Zugriff vom 01.01.2017).

234 Jensen, Marketing Modernism (wie Anm. 187), 110.

ihrer Bedeutung für das Gesamtgeschehen. Wie sich die Masse an plastisch geformten Leibern im Tor räumlich und strukturell zum über ihnen wachenden Denker verhält und wie wiederum dieser zu den über ihm positionierten Drei Schatten steht – dies sind für Maillard Fragen, die nicht nur aus Überlegungen zu bildhauerischen Kompo-sitionsprinzipien herrühren. Zumindest implizit legen seine Ausführungen auch den Gedanken nahe, dass ihre Analyse Aufschluss über die strukturelle Stellung des Dich-ters zu seinem literarischen Werk erlaubt. Dadurch aber lässt Maillard die Möglichkeit einer metaphorischen Übertragung seiner Überlegungen auf das ›poetologische‹ Ver-hältnis des Künstlers zu seinem skulpturalen Werk offen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Frage nach dem Bezug Rodins zu seinem Opus magnum in demjenigen Moment in die Aufmerksamkeit eines Kritikers drängte, als die Werksentstehung in eine kritische Phase der Verzögerung mit einem unabsehbaren Ausgang eintrat. Wie schon vor ihm Geffroy, so sieht auch Maillard den Grund für Rodins Rückgriff auf Dantes Göttliche Komödie nicht allein in einem historistischen Interesse für den italienischen Motivstoff, sondern vor allem in dem Potenzial dieser Dichtung, einen literarischen Fundus für die visuelle Dramatisierung allgemein-menschlicher Schicksale zu liefern:

Tous les épisodes se dressaient, non comme des fragments de l’histoire de Flo-rence, mais comme un perpétuel appel aux causes humaines de l’Histoire.

L’amour, la haine, Francesca, Ugolin, étaient non plus les symboles poétiques mis en œuvre par le Gibelin, c’était l’évocation permanente des mouvements toujours renouvelés dans la nature, jamais identiques des attitudes innombrables des êtres en mouvement, dans l’exercice de la vie, avec les variations infinies de la passion et de la volupté, ces mobiles des actes des hommes.235

Wenn man sich bei der Lektüre dieser Sätze an Geffroys Deutung erinnert fühlt, so ist dies kein Zufall: Tatsächlich widmete Maillard seine Studie dem naturalistischen Kunstkritiker; zudem verfasste er im Vorwort eine Art Lobrede auf dessen unermüdli-che Einsatzbereitschaft im Kampf um die moderne Skulptur und Plastik, wohl auch mit dem Hintergedanken, seiner Monografie als einer noch recht neuartigen Publikations-form eine historische Verankerung zu verleihen. Während sich der Kunstkritiker bis zu diesem Punkt noch in gewohnten Bahnen der Deutung bewegt, erkennt man in seinen Überlegungen zur Figur des Denkers neuartige Zugangsweisen. Maillard bespricht die Gestalt im Zusammenhang mit der darüberstehenden Figurengruppe der Drei Schat-ten. Auch wenn diese eine Art von Bekrönung des Portals darstellen, so könne selbst ihre herausgehobene Stellung nicht über den im Wortsinn ›dekadenten‹ Bewegungs-zug ihrer Körper hinwegtäuschen: »L’abîme de désespoir, qui s’étend au-dessus, les ap-pelle.« Demgegenüber scheint es im Fall des Denkers schon schwieriger zu sein, seinen räumlichen, aber auch narrativen Ort im Geschehen zu lokalisieren: Zunächst einmal ragt der Denker (Abb. 7) für Maillard in physischer, kompositorischer und struktureller Weise aus dem Gesamtgeschehen heraus. Den »pensée générale de l’œuvre« verkörpere er so in geradezu emblematischer Weise: »C’est vers elle que converge toute l’unité dé-corative, celle du sommet comme celle du panneaux et des montants.«

235 Maillard, Rodin (wie Anm. 233), 80.

Der Denker wird also in einem ersten Schritt ganz traditionell als Mittelpunkt des Gesamtensembles charakterisiert, als dessen »centre idéal«, von dem aus das »rayonne-ment sculptural« ausstrahle.236 Als ein körperlich agierendes und geistig reflektierendes Wesen, dessen Handeln sich zwischen frei entfaltender Energie und ihrer Bündelung in einem fokussierten Akt des nachdenkenden Imaginierens die Waage hält, wird er anfangs in seiner traditionellen Funktion als Allegorie einer Autorfigur bestätigt: »Dans sa sévère nudité«, so Maillard, sei er »que l’image de la réflexion éternelle de l’homme sur les choses humaines.«237

Erweist sich die Figur einerseits gegenüber dem Bildgeschehen in einer gesonder-ten Beobachterposition, so wird ihr andererseits aber noch im selben Absatz diese herausgehobene Stellung wieder entzogen. Schließlich sei der Denker auch ein »son-geur perpétuel qui perçoit l’avenir dans les faits du passé, sans s’abstraire de la vie qui bruit autour de lui et à laquelle il participe […].«238 In einer chiastisch formulierten Doppelpositionierung wird die Figur des Denkers, die gerade noch als außenstehen-der Beobachter und als kompositorisches Zentrum gewertet worden war, radikal in die

»Immanenz«239 eines »vie qui bruit autour de lui« hineingezogen. Der Denker wird von

236 Alle Zitate: Ders., Rodin (wie Anm. 233), 81.

237 Ders., Rodin (wie Anm. 233), 81f.

238 Ders., Rodin (wie Anm. 233), 82.

239 Wenn ich hier den Begriff der »Immanenz« gebrauche, so verwende ich ihn insbesondere in seiner Kontraststellung zum Denken der Transzendenz bzw. der Transzendentalität. Mit diesem Begriff soll Abbildung 7: Auguste Rodin, Das Höllentor (Detail mit dem Denker), ab 1880, Bronze, Paris, Musée Rodin [Bildrechte:MuséeRodin,Paris,FotografieJérômeManoukian].

Maillard also in jenem bewegt-bewegenden Geschehen verortet, das sich um ihn herum und zu seinen Füßen abspielt. Wenn der Kunstkritiker an dieser Stelle emphatisch vom

»Leben« spricht, das sich strömend und quellend vor dem Blick der Betrachter und unterhalb des Denkers ausbreitet, so nimmt diese Metaphorik einer Lebensfülle, die jegliches Distanzstreben verschlingt und verzehrt, eine durchaus neuartige Qualität an.

In den Diskussionen um das Eherne Zeitalter jedenfalls konnte man diese semantische Dimension noch nicht finden. So wird an dieser Stelle offensichtlich, dass die übergrei-fenden Metaphern der Interpretation von Rodins Werken oberflächlich betrachtet zwar über die Generationen hinweg relativ stabil bleiben, dass sie jedoch in einer tieferen Bedeutungsschicht einem historischen Wandel unterworfen sind. Im Kapitel zu Rainer Maria Rilke (1875–1926) und Georg Simmel (1858–1918) werden wir in einer methodo-logischen Perspektive und mit Blick auf Hans Blumenbergs (1920–1996) Projekt einer Metaphorologie auf solche Problemstellungen zurückzukommen haben.

So betrifft die von Maillard angedeutete Umperspektivierung des Höllentors auch die Frage, welche Form von Geschichte und Geschichtlichkeit in diesem Werk eigentlich visualisiert wird – eine Frage, die, wie wir gesehen haben, bereits Geffroy intensiv be-schäftigt hatte. Wir erinnern uns daran, dass der Kunstkritiker in Rodin einen Künstler sah, der sich von der akademischen Doktrin losgelöst hat und so auch gleichsam seine eigene Vergangenheit zu erschaffen vermochte. Auch haben wir gesehen, dass Geffroy die unbekleideten und von jeglichem Zeitkolorit befreiten Figuren des Höllentors als Zeichen einer Emanzipation Rodins von der literarischen Vorlage Dantes gelesen hat.

Zwar übernimmt Maillard zunächst diese Deutungsperspektive, ganz so, als wolle er sich vor Geffroy intellektuell verbeugen. Doch wenn er nachdrücklich die Gewaltsam-keit jenes »vie qui bruit autour de lui« betont, so erlaubt dies für ein Verständnis der kompositorischen, strukturellen und narrativen Aspekte des Höllentors auch neuartige Perspektiven.

Um die modernetheoretischen Implikationen jener Rede vom »vie« besser be-greifen zu können, lohnt es, den Blick auf Michel Foucaults  (1926–1984) berühmte Studie Die Ordnung der Dinge (1966) zu richten. Wenn man dem wissensgeschicht-lichen Modell von Foucault folgt, so avancierte die Denkfigur des »Lebens« seit dem 19. Jahrhundert zu einer Art »Quasi-Transzendentalie«, die die Ordnung des Diskurses zu organisieren vermochte, indem sie in das klassische Repräsentationsdenken eine genuin moderne Tiefendimension des Geschichtlichen einzog. Das moderne Denken des 19. Jahrhunderts, wie Foucault es charakterisierte, orientierte sich hinsichtlich der Auffassung von Geschichtlichkeit an der Empirizität eines strikt verzeitlicht gedachten Seins. Bestimmend war nun die Auffassung von einer Wirklichkeitsaneignung, die die Objekte ihrer Betrachtung als historisch gewordene Phänomene zu lesen verstand. Im

also eine Denkform markiert werden, die keine Letztbegründungsszenarien außerhalb des Gegebe-nen anzunehmen versucht. Der ImmaGegebe-nenz-Begriff wurde in der Philosophie von Baruch de Spinoza über Gilles Deleuze bis zu Georgio Agamben theoretisch reflektiert. Agamben betont mit Blick auf Deleuzes’ Denken der Immanenz, dass »die wesentliche Eigenschaft der deleuzianischen Immanenz«

darin zu sehen ist, »daß sie ›nicht auf ein Objekt verweist‹ und ›nicht einem Subjekt zugehört‹; mit an-deren Worten, daß sie nur sich selbst immanent ist und dennoch in Bewegung.« Vgl. Giorgio Agam-ben, Bartleby oder die Kontingenz, gefolgt von: Die absolute Immanenz, hg. von Andreas Hiepko, übersetzt von Andreas Hiepko und Maria Zinfert, Berlin 2010, 90.

Zeichen des »Lebens« (wie auch der »Arbeit« und der »Sprache« als den zwei ande-ren »Quasi-Transzendentalien« der modernen Episteme) wurde der Glaube an einen überzeitlichen Wesenskern der Lebewesen schrittweise fallengelassen. Das Leitmodell dieses neuartigen Denkens war nun der menschliche Körper in seiner unhintergehba-ren Leiblichkeit und Opazität. Durch das explosionsartige Anwachsen von physiologi-schem und biologiphysiologi-schem Wissen konnte auch dieser kaum mehr als eine zeitenthobene Matrix oder als das geschichtsbefreite Produkt einer einmaligen Schöpfung verstanden werden. Im Gegenteil: Der menschliche Körper als Ort des denkenden Bewusstseins schien nun in seiner Zeitlichkeit, Endlichkeit und Beschränktheit jenem »Leben« in fundamentaler Weise unterworfen zu sein:

Aber der Erfahrung des Menschen ist ein Körper gegeben, der sein Körper ist – Bruchstück eines nicht eindeutigen Raumes, dessen eigene und irreduzible Räumlichkeit sich indessen nach dem Raum der Dinge gliedert. Dieser selben Er-fahrung ist das Verlangen als anfänglicher Appetit gegeben, von dem ausgehend alle Dinge einen Wert, und zwar einen relativen Wert annehmen. Derselben Er-fahrung ist eine Sprache gegeben, in deren Linie alle Diskurse aller Zeichen, alle Abfolgen und Gleichzeitigkeiten gegeben werden können. Das heißt, daß jede die-ser positiven Formen, in denen der Mensch erfahren kann, daß er endlich ist, ihm nur auf dem Hintergrund seiner eigenen Endlichkeit gegeben ist. Nun ist diese nicht die gereinigteste Essenz der Positivität, sondern das, wovon ausgehend ihr Erscheinen möglich wird.240

Diese Beobachtung hat für Foucault enorme Konsequenzen hinsichtlich der Frage ge-habt, inwiefern sich das moderne Subjekt überhaupt noch durch Akte der Reflexion seines eigenen Ursprungs versichern könne. Nur noch aus dem Bewusstsein seiner un-hintergehbaren Nachträglichkeit gegenüber jeglichem ungetrübten Anfangsszenario, so Foucault, sei der Mensch der Moderne überhaupt fähig, seine eigene Geschichtlich-keit zu überdenken:

In der Tat entdeckt sich der Mensch nur als mit einer bereits geschaffenen Ge-schichtlichkeit verbunden: er ist niemals Zeitgenosse jenes Ursprungs, der durch die Zeit der Dinge hindurch sich abzeichnet und sich verheimlicht. […] Stets auf einem Hintergrund eines bereits Begonnenen kann der Mensch das denken, was für ihn als Ursprung gilt. Dieser Ursprung ist also für ihn absolut nicht der Beginn, eine Art erster Morgen der Geschichte, seit dem sich alle späteren Errungenschaf-ten aufgehäuft hätErrungenschaf-ten. Der Ursprung liegt eher in der Weise, in der der Mensch im allgemeinen, jeder Mensch sich nach dem bereits Begonnenen der Arbeit, des Lebens und der Sprache artikuliert.241

240 Foucault, Ordnung (wie Anm. 115), 380.

241 Ders., Ordnung (wie Anm. 115), 398. Vgl. auch folgendes Zitat: »Das Denken, das uns zeitgenössisch ist, und mit dem wir wohl oder übel denken, wird noch stark beherrscht einerseits durch die im acht-zehnten Jahrhundert an den Tag gebrachte Unmöglichkeit, die Synthesen im Raum der Repräsenta-tion zu begründen, und andererseits durch die dazu korrelative, gleichzeitige, aber sogleich gegen sie selbst geteilte Verpflichtung, das transzendentale Feld der Subjektvitität zu öffnen, und, umgekehrt, jenseits des Objekts jene ›Quasi-Transzendentalia‹ zu konstruieren, die für uns das Leben, die Arbeit und die Sprache sind.« Ders., Ordnung (wie Anm. 115), 307.

Vor dem Hintergrund dieses epochenübergreifenden Geschichtsmodells reihen sich Maillards Zuspitzungen in die im späten 19. und frühen 20.  Jahrhundert dominant werdenden Denkströmungen vom Vitalismus bis zur Lebensphilosophie ein, für die das »Leben« zu einer Art von Kompensationsfigur angesichts einer fortschreitenden Tendenz zur Säkularisierung und Enttranszendentalisierung geworden ist. Ein Sei-tenblick auf die deutschsprachige Debatte kann zeigen, dass sich hier vergleichbare Momente eines Strebens nach einem Denken der Immanenz finden lassen. Besonders eindrücklich treten diese freilich bei Friedrich Nietzsche (1844–1900) oder bei Hugo von Hoffmannsthal  (1874–1929) zu Tage, wie der Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel hervorhebt:

Und auch bei ihm [Hoffmannsthal] impliziert die uneingeschränkte und in die-sem genauen Verständnis nietzscheanische Lebensbejahung (aus der er allerdings die anti-nietzscheanische Konsequenz einer »sozialen« Sittlichkeit zieht) den Ver-zicht auf eine transzendente Sinngebung: »Das Leben ist des Lebens tiefster Sinn.«

[…] Als knapper Denkspruch, der sich im übrigen liest wie eine frühe Quintes-senz der »Zarathustra«-Lektüre, formuliert er nichts Geringeres als den Haupt-satz aller Lebensphilosophie. Indem er den »Sinn« in die Immanenz des »Lebens«

selbst hineinholt, rückt er dieses in die Position des Absoluten und setzt es, mit den bereits zitierten Worten Diltheys, als dasjenige, »hinter welches nicht zurück-gegangen werden kann«. Unausgesprochene Pointe dieses Satzes ist damit die in dieser Setzung […] enthaltene Negation: die Verneinung einer kompensatorisch-konsolatorischen Sinnwelt hinter der mundanen Seinswelt und, wie im Blick auf Hofmannsthals Lebensbegriff hinzuzufügen ist, ihren Schreckens. Unmißver-ständlicher und zugleich vornehmer läßt sich die Kassation der Transzendenz, die für das lebensphilosophische Denken, zumal in der Nachfolge Nietzsches, konsti-tutiv ist, nicht formulieren.242

Solche um 1900 fast ubiquitär auftretenden Tendenzen zur »Einziehung« der Trans-zendenz in die Immanenz haben, wie Maillards Deutung zeigt, auch Konsequenzen für die Formulierung der Position des Künstlersubjekts und seiner Verfügungsgewalt über die Bilderzählung, wie sie in der Figur des Denkers modellhaft durchgespielt wird. Für Maillard ist der Denker, wie wir gesehen haben, sowohl außerhalb als auch innerhalb des Geschehens verortet; er bildet als kompositorisches Zentrum den Ursprung der fantastischen Vision einer Hölle auf Erden und kann doch nicht von diesem Szenario losgelöst betrachtet werden. Wollte man diese ambivalente Verortung, die genau bese-hen eher einer ›Ent-Ortung‹ der Figur gleicht, in den Termini der strukturalistiscbese-hen Erzähltheorie eines Gérard Genette (geb. 1930) beschreiben, so ließe sich sagen, dass hier eine kontinuierliche Oszillation der Erzählebenen zwischen einer intra- und einer metadiegetischen Ebene vorliegt. Die Position des Denkers changiert bei Maillard zwi-schen einem homo- und einem heterodiegetizwi-schen Standpunkt, er ist also einmal ein Teil des Gesamtgeschehens und einmal außerhalb davon verortet.243

In einer rasanten Folge schreibt Maillard sodann der Figur des Denkers wechselnde Identitäten zu, wobei diese Travestie nur vordergründig wie ein fröhliches Maskenspiel

242 Wolfgang Riedel, Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin 1996, 23.

243 Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1998, 163f.

wirkt. Vielmehr verbirgt sich in diesen Akten der Überschreibung einer Identität eine geradezu schwindelerregende Umformulierung von Autorpositionen. Zunächst wird der Denker ganz konventionell als Dante identifiziert, der dem von ihm selbst imagi-nierten Treiben des Inferno als Beobachter beiwohnt. Sogleich aber wird er als Vergil gedeutet, an den Rodin, so Maillard, bei der Herstellung der Figur wohl eher gedacht haben dürfte. Schließlich jedoch wird er in einer verallgemeinernden Bewegung als eine Personifikation des Denkens an sich beschrieben. Die Figur stelle also kein »être déter-miné et connu« dar, sondern einen »type moral«.244 So inszeniert Maillard eine Oszil-lation zwischen mehreren Sinn- und Handlungsebenen. Auch dies dient ihm dazu, den Denker durch seine ambivalente Position als Beobachter und als Teilnehmer dessen, was sich unter seinen Füßen und in seinem Rücken abspielt, zu charakterisieren:

Que ce soit le Dante, où l’humaine identification de la Pensée, son regard vision-naire suit l’évolution des faiblesses et des passions à travers les temps fabuleux, où l’humanité fournissait ses héros à l’Olympe, jusqu’aux moindres années dont il a lui-même le partage.245

Nur in einer vordergründigen Sinnebene wird die Figur des Denkers, wie wir es noch bei Geffroy beobachten konnten, als ein Sinnbild für die Überwindung von Bindun-gen an die Tradition verstanden. Eher rücken Maillards AusführunBindun-gen eine sich an-bahnende Unsicherheit über dessen strukturelle Verortung ins Licht, die systematisch in Situationen einer interpretatorischen Unentscheidbarkeit führt. Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass in dem Werk mehrere Realitäts- und Imaginationsebenen ineinander verschachtelt werden. Eine vormals unangefochtene Souveränität von Au-torschaft, wie sie in Geffroys Deutung noch weitgehend unhinterfragt vorausgesetzt wurde, wird im Namen einer Immanenz des Lebens schrittweise verunsichert und schließlich durchkreuzt. Es muss hier Spekulation bleiben, ob Maillards Überlegungen womöglich offenlassen, ob der Denker, wenn er Vergil darstellen sollte, der fiktiona-len Welt der Göttlichen Komödie angehört und die gesamte Darstellung des Hölfiktiona-lentors somit als ein fiktionales Geschehen aufgefasst werden könnte. Oder aber, ob er eher als Dante zu interpretieren ist und die skulpturale Inszenierung somit eine Trennung zwischen der Dimension der Realität und derjenigen der Imagination ins Werk setzt.

Oder aber, ob die Figur als eine allgemeingültige Personifikation des Denkens gelesen werden sollte, wodurch die Gesamtszenerie als ein allegorisches Sinnbild des Welten-laufs verstanden werden könnte. Dass nun der Denker selbst wieder als eine Allegorie des Künstlersubjekts Rodin gelesen werden könnte, scheint bei dieser mise-en-abyme von immer weiter sich auffächernden Autorschaften schon zu diesem Zeitpunkt der Rezeptionsgeschichte nahezuliegen. Doch erst die piktorialistische Fotografie, die zu Beginn dieser Studie vorgestellt worden war, hat dann schließlich den Schritt vollzogen, mit den Mitteln einer genuin visuellen Argumentation die Trennlinie zwischen Rodin

244 Man könnte spekulieren, ob diese letzte Verallgemeinerungsbewegung wiederum eine symbolische Verbeugung vor Geffroys Deutung ist. Allerdings wurde ja ebendieses naturalistische Deutungssche-ma durch Maillards Überlegungen auch schon gesprengt. Diese Frage nach dem Einfluss von Geffroy muss an dieser Stelle ohnehin Spekulation bleiben, auch deshalb, weil Maillard zu einer letztgültigen Entscheidungsfindung nicht drängt.

245 Maillard, Rodin (wie Anm. 233), 82.

als einem realhistorischen Künstler und seinem Denker als einer fiktiven Darstellung aufzulösen. Indem die Figur des Dichter-Künstlers – sei dies nun Dante oder aber in metaphorischer Verkleidung Rodin selbst – zwischen dem objektiven Standpunkt einer souveränen Autorschaft und einer Preisgabe des Subjekts an die Seinsbedingungen zu schwanken scheint, rückt der Kunstkritiker den Künstler so nah an sein eigenes Schaf-fen heran, dass eine Grenzziehung zwischen Künstlerfigur und Figurenkunst immer schwieriger wird. Léon Maillard arbeitete in seiner Analyse der Darstellungsebenen des Höllentors also implizit schon an Konzepten vom künstlerischen Handeln, die das

als einem realhistorischen Künstler und seinem Denker als einer fiktiven Darstellung aufzulösen. Indem die Figur des Dichter-Künstlers – sei dies nun Dante oder aber in metaphorischer Verkleidung Rodin selbst – zwischen dem objektiven Standpunkt einer souveränen Autorschaft und einer Preisgabe des Subjekts an die Seinsbedingungen zu schwanken scheint, rückt der Kunstkritiker den Künstler so nah an sein eigenes Schaf-fen heran, dass eine Grenzziehung zwischen Künstlerfigur und Figurenkunst immer schwieriger wird. Léon Maillard arbeitete in seiner Analyse der Darstellungsebenen des Höllentors also implizit schon an Konzepten vom künstlerischen Handeln, die das

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