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Lebendige Epidermis und totes Material

Als Rodin, so auch die heute noch gültige kunsthistorische Einschätzung, einen menschlichen Körper in seiner individuellen Erscheinung durch seiner Hände Arbeit so exakt wie möglich kopiert hat, hat er sich zugleich auch von den gängigen Schemata der bildhauerischen Körperdarstellung (wie etwa dem Kontrapost) losgesagt, wie sie noch den Künstlern des Klassizismus, der Romantik, ja selbst noch des Realismus und des Historismus vertraut waren.75 Die Materialqualitäten des Gipses und später dann der Bronze stellte er so ganz in den Dienst eines mimetischen Darstellungsauftrags. In den Werken von Rodins Bildhauerrivalen Jules Dalou hallte ungeachtet einer fast rest-losen Anverwandlung des skulpturalen Materials an die hyperrealistisch wiedergegebe-nen Körper stets noch ein Moment von inhaltlicher Bestimmtheit nach, so etwa, wenn der Künstler auf anekdotische Details und zeitgenössisches Kostüm seiner genreartigen Alltagsdarstellungen Wert legte. Rodin sagte sich mit seiner Plastik auch von dieser Verankerung der Deutung los.76

Man kann die von den Kritikern beschriebenen Effekte einer gesteigerten Leben-digkeit dieser Plastik durchaus aus diesem Akt der Lossagung, der (nicht nur meta-phorischen) Entleerung der Plastik von ikonografischen, motivischen und stilistischen Lektürehilfen begründen. Die Rede vom »œuvre elle-même«, von einem Werk also,

73 Vgl. Anthea Callen, The Spectacular Body: Science, Method and Meaning in the Work of Degas, New Haven 1995, 21ff. Vgl. auch: Holsten, elegant // expressiv (wie Anm. 47), 321.

74 Vgl. zur Problematik des Tagträumens im späten 19. Jahrhundert: Jonathan Crary, Suspensions of Per-ception. Attention. Spectable and Modern Culture, Cambridge/Mass. 2001; Lisa Dieckmann, Traum-dramaturgie und Selbstreflexion: Bildstrategien romantischer Traumdarstellungen im Spannungsfeld zeitgenössischer Traumtheorie und Ästhetik, Köln 2015, DOI: https://doi.org/10.16994/bab (Zugriff vom 05.04.2017).

75 Vgl. Ruth Butler, Rodin and the Paris Salon, in: Albert E. Elsen/Albert Alhadeff (Hg.), Rodin Redis-covered (wie Anm. 39), 19ff.

76 Vgl. Holsten, elegant // expressiv (wie Anm. 47), 267ff.

das nichts als »Leben« ausstrahlt, ohne allegorisch darauf zu verweisen, zielt in diese Richtung. Doch wäre es unzureichend, diese Lebendigkeitseffekte allein durch die Stil-begriffe eines forcierten »Naturalismus« oder »Realismus« zu beschreiben. Demge-genüber lässt die Verwendung einer Metaphorik des »Lebens« der Figur, mit der ein ästhetisches Präsenzerleben vor dem Werk signalisiert wird, auf Aspekte dieses Werks aufmerksam werden, die erstaunliche Aktualität vor dem Hintergrund jüngerer Debat-ten der Medientheorie erlangen. Um diese, auch im Blick auf die nachfolgenden Kapitel, fassbarer zu machen, möchte ich die neuere Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Konzept der »Präsenz« zumindest skizzenartig darstellen, und zwar zunächst im Blick auf die Diskussion über vergleichbare Aspekte im Ehernen Zeitalter und sodann hin-sichtlich der jüngeren medientheoretischen und philosophischen Überlegungen.

In ihrer Untersuchung zu Rodin haben sich die Kunsthistoriker Rainer Crone und David Moos ganz bewusst auf die Präsenzeffekte eingelassen, wie sie vor allem vom Ehernen Zeitalter auszugehen scheinen.77 Rodins »Modernität« wird von den Autoren in den Kontext des zeittypischen Strebens nach der Überwindung einer Geschichtsmü-digkeit gesetzt, wie sie Friedrich Nietzsche im Zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Be-trachtungen, der Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben aus dem Jahr 1874, beschrieben hat.78 Einer Überfrachtung der Kunst mit Bildungszitaten habe Rodin, so Crone und Moos, mit einem lebensphilosophisch inspirierten Vitalis-mus geantwortet, der auf einen unmittelbar sensualistischen Zugang zum skulptural-plastischen Körper setzte. Diese geistesgeschichtliche Einschätzung kann durchaus überzeugen, allerdings erklärt sie noch nicht erschöpfend die künstlerischen Strategien der Präsenzerzeugung selbst.

Neue Annäherungen an dieses Werk haben dagegen versucht, sich Rodins beun-ruhigenden Verfahren der skulpturalen Inszenierung des Effekts einer vermeintlich unmittelbaren Körperlichkeit durch Vergleiche mit zeitgenössischen Bildhauern an-zunähern. Michael Hatt zum Beispiel hat einen Gegensatz konstruiert, der sich auf die unterschiedlichen Auffassungen der Werksoberfläche bezieht, wie sie einerseits der englische Künstler Frederic Leighton (1830–1896) vertreten hat und wie sie anderer-seits von Rodin verstanden wurde. Er unterscheidet ein »topografisches« Verständ-nis der skulptural-plastischen »Epidermis«, wie sie bei Leightons Werken vielfach in Erscheinung tritt, von einer »topologischen« Auslegung bei Rodin.79 Während die er-ste überwiegend auf Fernansichtigkeit angelegt sei und die skulpturale ›Haut‹ meta-phorisch als eine Grenze zwischen dem dargestellten Individuum und seiner Umwelt begreife, ziele Rodins Ästhetik dagegen primär auf Nahansichtigkeit. Galten Leigh-tons neoklassizistisch inspirierte Körperdarstellungen den Zeitgenossen deshalb als nachvollziehbar, weil sie sich weitgehend in den Bahnen einer traditionellen visuellen

77 Vgl. Rainer Crone/David Moos, Trauma des Göttlichen: eine Kritik der Konvention. Über das Frag-ment im Werk von Auguste Rodin und Friedrich Nietzsche, in: Dies. (Hg.), Eros und Kreativität (Aus-stellungskatalog: Bremen, Kunsthalle, 1991/1992; Düsseldorf, Städtische Kunsthalle, 1992), München 1991, 9–37, hier 9ff.

78 Vgl. zu den philosophischen Hintergründen: Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg i.Br./München 1995, 55ff.

79 Vgl. Michael Hatt, Substance and Shadow: Conceptions of Embodiment in Rodin and the New Sculp-ture, in: Claudine Mitchell (Hg.), Rodin: The Zola of SculpSculp-ture, Aldershot 2004, 217–235.

Rhetorik bewegten, so wurde gerade eine solche ›Lesbarkeit‹, wie Hatt hervorhebt, in zahlreichen Werken Rodins verunmöglicht, und zwar vor allem aufgrund seiner Beto-nung der sinnlich-sensitiven Aspekte des Körpers.80 Das Eherne Zeitalter verweigere sich, so der Kunsthistoriker, gerade aufgrund seiner »topologischen« Nahsichtigkeit den überkommenen Konnotationen eines genuin männlichen Körpers, dessen Haut die wehrhafte Schicht eines autonomen, auch psychisch in sich abgeschlossenen Sub-jekts bildet. Im Gegensatz hierzu inszeniere Rodin die skulpturale ›Epidermis‹ durch das unruhig-flimmernde modelé und durch eine Zurücknahme der Unterteilung des Körpers in einzelne, deutlich konturierte Partien zugunsten einer fließenden Gesamt-oberfläche als eine osmotische Kontaktstelle zwischen dem dargestellten Individuum und seiner Umwelt. Der Betrachter kann sie dadurch als eine empfindliche und verletz-liche Schicht wahrnehmen, die zwischen der subjektiven Innenwelt des Dargestellten und einem objektivierten Außen vermittelt. Gängige Geschlechterklischees würden dadurch subvertiert.81

Hatts Deutung erfährt eine Bestätigung durch Rodins Selbstbeschreibungen seiner Kunst. Der Bildhauer hat in seinen Gesprächen mit Paul Gsell betont, wie wichtig ge-rade die unruhig-flimmernden Oberflächen für die Wirkung seiner Werke sind.82 Im Rahmen der skulpturtheoretischen Debatte des 20. Jahrhunderts erfuhr das sogenannte modelé jedoch bemerkenswerterweise nicht deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil es mit den Mitteln der plastischen Oberflächengestaltung die menschliche Epi-dermis repräsentieren konnte, sondern vielmehr, weil im Spiel von Licht und Schatten die Eigenqualitäten des Materials besonders hervortreten. Unter dem Schlagwort einer materialgerechten Ästhetik, die im Diktum des »truth to the medium« eine eigene Kar-riere erfahren hat, hat sich ausgehend von Rodin eine komplexe Diskussion entwickelt, die in der ambivalenten Bewertung der Oberflächentexturen zwischen mimetischer Wirklichkeitsverpflichtung auf der einen und selbstreflexiver Thematisierung des ver-wendeten Materials auf der anderen Seite gebündelt scheint: Wenn die Oberflächen von Rodins Werken auf eine täuschende Darstellung von menschlicher Haut abzielten, so wären die Skulpturen und Plastiken eher einem traditionellen Begriff von skulp-turaler Mimesis zuzuschlagen, bei der das Material der Skulptur (etwa der Gips, der Marmor oder die Bronze) ganz in den Dienst der Repräsentation, primär derjenigen des menschlichen Körpers, gestellt wird. Wenn Rodins Oberflächentexturen dagegen, wie in späteren Werken öfter zu beobachten ist, die Faktur ihrer eigenen Herstellung

80 Vgl. Ders., Substance (wie Anm. 79), 223.

81 Vgl. Ders., Substance (wie Anm. 79), 222f. Das Argument ist letztlich einer geschlechtertheoretischen Debatte geschuldet: So hat Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter darlegen können, in wel-chem Ausmaß die Vorstellung von der menschlichen Hautoberfläche als symbolisch überdetermi-niertem ›Bollwerk‹ des Subjekts oder aber als nicht nur metaphorischer ›Durchgangszone‹ zwischen dem Ich und der Welt mit kulturellen Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit verknüpft ist:

Indem Rodin die Hautoberfläche seiner Figur gerade nicht unmissverständlich als Grenzmarkierung darstellt, öffnet er sie einem sinnlich-empfindsamen Lektüremodus, der in Konflikt mit der Wahr-nehmung der Maskulinität als Inbegriff eines autonomem, ganzheitlichen und aktiven Wesens treten muss. Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a.M. 1991, 193ff.

82 Vgl. Auguste Rodin, Die Kunst. Gespräche des Meisters, gesammelt von Paul Gsell, übersetzt von Paul Prina, Leipzig 1922, 43ff., archive.org-Digitalisat der französischen Ausgabe von 1911 mit Volltext unter Permalink: http://n2t.net/ark:/13960/t0pr89391 (Zugriff vom 01.01.2017).

sichtbar machen und sich selbst beispielsweise durch unbossierte Stellen, durch das Sichtbarlassen von Armaturen oder durch offensichtliche Brüche und Fehlstellen im Objekt als Material exponieren, so wären Rodins Werke als Vorgriff auf eine modernis-tische Ästhetik der Materialspezifizität zu verstehen.83 Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm beispielsweise hat sich dieser im weitesten Sinne modernistischen Deutung an-geschlossen, als er auf Rilkes Poetik der plastischen Oberflächengestaltung verwies, die der Dichter an Rodins Werken und an Paul Cézannes (1839–1906) Gemälden erarbeitet hatte:

Von Rodins Plastik lässt sich sagen, daß die Oberfläche im Grunde alle Bedeu-tungen trägt und entwickelt. Ihre Vielgestaltigkeit erzeugt nicht nur einen un-aufhörlichen Wechsel von Licht und Schatten, sondern sie ermöglicht überhaupt, das Material aus seiner dumpfen und stummen Verschlossenheit zu befreien und ihm Sprachkraft zu geben. Sie resultiert aus der Bewegtheit der Oberfläche, in der kleinste Teile […] miteinander in Beziehung treten. Die erzeugte Bewegung ist auch nicht primär die eines körperlichen Bewegungsmotivs, sondern die Bewegt-heit der Oberfläche selbst.84

Demgegenüber hat der Kunsthistoriker David Getsy in seiner Analyse des Ehernen Zeitalters vor allem den Prozess der ästhetischen Rezeption dieser Plastik hervorgeho-ben. Rodins Gestaltung der Oberfläche als einer nahsichtigen Textur, die es mit detail-genauem Blick zu erkunden und zu erfahren gelte, rücke die »physicality« des Werks in den Blick, die dadurch zu einem »integral element of the viewers experience« und dessen »motile and temporal engagement« mit dem Werk werde.85 Vor allem Hatts und Getsys Beobachtungen scheinen bestechend, weil sie eine präzise terminologische Ein-ordnung erlauben und eine rezeptionsästhetische Dimension in die kunsthistorische Rekonstruktion mit einbeziehen. Allerdings scheinen ihre Argumentationen doch auch wieder dem kunstkritischen Diskurs selbst nachzufolgen, insofern beide Kunsthistori-ker die darin entfaltete Auslegung vom Realismus der Figur als weitgehend gegeben hinnehmen, und zwar im Sinne einer skulpturalen Mimesis an die Oberflächenstruk-turen des Körpers. Auch für Hatt und Getsy scheint Rodins Plastik einen Nullpunkt der Körperdarstellung zu markieren, eine kaum mehr zu überbietende, bildhauerische An-näherung an den menschlichen Leib als einem sinnlich empfindenden Komplex. Ein Seitenblick auf die medienhistorischen und -theoretischen Debatten um Effekte von ästhetischer Präsenz, wie sie gerade auch im Zusammenhang mit den Wahrnehmungs-bedingungen von moderner Skulptur und Plastik diskutiert worden sind, kann dage-gen helfen, aus dem Bannkreis stilistischer Kategorien auszubrechen und die kunst-kritischen Formulierungen von Ambivalenzerfahrungen auf ihre medienhistorischen Implikationen zu befragen.

In den vergangenen Jahren ist die Frage nach den ästhetischen Wirkungsweisen von skulpturalen und plastischen Werken, gerade auch in ihrer medialen Differenz zur Malerei, wieder verstärkt in den Blick geraten. Als materiale Dinge im Raum, denen

83 Vgl. Elsen, Rodin (wie Anm. 48), 10.

84 Gottfried Boehm, Plastik und plastischer Raum, in: Gundolf Winter/Jens Schröter/Joanna Barck (Hg.), Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen, München 2009, 21–46, hier 30.

85 Getsy, Encountering the Male Nude (wie Anm. 45), 301f.

aufgrund ihrer Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit eine genuin objekthafte Qualität eig-net, unterscheiden sie sich schon aufgrund ihrer materialen Disposition von zweidi-mensionalen Kunstgattungen. Seit dem linguistic turn lag das Augenmerk kulturwis-senschaftlicher Untersuchungen meist auf der Frage nach der sprachlichen Verfasstheit unseres Realitätsverständnisses. Die Rede von der Textualität der Wirklichkeit und der Unausweichlichkeit ihrer sprachlichen und semiotischen Strukturen galt so lange Zeit als master trope eines poststrukturalistisch gefärbten Denkstils. Vielleicht zu Unrecht sieht man in Jacques Derridas (1930–2004) oft aus dem Kontext gerissenen Aphoris-mus, dass es kein Jenseits der Texte geben könne als dessen epistemisches Leitmotiv.86 Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat in einer Bestandsaufnahme der jüngeren Kulturwissenschaften das Axiom eines Pluralismus von Interpretations-möglichkeiten, das er als Folgeerscheinung eines poststrukturalistisch orientierten Konstruktivismus ansieht, einer fundamentalen Kritik unterzogen. Gerade die kultur-wissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaften hätten die genuin dinghafte Ma-terialität von literarischen oder künstlerischen Werken zugunsten eines Glaubens an das freie Spiel von Bedeutungen, Lektüren und Projektionen sträflich vernachlässigt.

Um den (von Gumbrecht polemisch überzeichneten) Gefahren eines Weltverständnis-ses entgegenzutreten, das sich der Wirklichkeit ausschließlich über die Metaphern des alles umgreifenden Textes und der unhintergehbaren Textualität zuwendet, plädiert er für eine analytische Zuwendung zu ästhetischen Präsenzeffekten, wie sie beispielsweise in der körperlichen Erfahrung von Gegenwärtigkeit bei der Betrachtung von Kunst entstehen können. Gumbrecht weist darauf hin, dass es ihm in seiner Konturierung des Präsenz-Begriffs nicht um eine Wiederauflage des blinden Vertrauens in die Möglich-keit einer unvermittelten Selbstgegenwart des Seins geht (wie sie Derrida vielfach als Restbestand eines metaphysischen Denkens kritisiert hat), sondern um eine Wieder-entdeckung von körperlichen Erfahrungsweisen der Präsenz und ihren Folgen für die Interpretationspraxis. Dessen ungeachtet läuft sein Definitionsversuch von Präsenzef-fekten letztlich auch auf eine Kritik am Poststrukturalismus hinaus. Wenn Gumbrecht

»Präsenz« als ein »räumliches Verhältnis zur Welt und zu deren Gegenständen« be-schreibt, und wenn er dasjenige für »präsent« hält, was »für Menschenhände greifbar«

ist und »unmittelbar auf menschliche Körper einwirken kann«, so scheint man fast unweigerlich an die Kunstform der Skulptur und Plastik als einer höchst sinnfälligen Einlösung solcher Wunschprojektionen denken zu müssen. Präsenzerlebnisse zeich-nen sich laut Gumbrecht zudem durch eine regelrechte Umkehrung der überkomme-nen Wirkungsverhältnisse zwischen Kunstwerk und Betrachter aus. Nicht mehr die individuellen Konstruktionsleistungen der Interpreten, die – pointiert formuliert – ihre subjektiven Projektionen an das Artefakt herantragen, gelten nunmehr als das Letztbe-gründungsszenario der Bedeutungsproduktion, sondern das Kunstwerk wird im Ge-genteil auf die »Wirkung« hin befragt, »die dieses Ding auf den eigenen Körper und die eigenen Sinnesorgane haben mag«. Die »Produktion von Präsenz«, für die sich der Literaturwissenschaftler primär interessiert, ereignet sich so bei »alle[n] mögliche[n]

86 Eine genauere Kontextualisierung von Derridas Denken im Zusammenhang mit der Interpretation von Rodins Werken findet sich im Kapitel zu den postmodernen Rodin-Deutungen.

Ereignisse[n] und Prozesse[n], bei denen die Wirkung ›präsenter‹ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst und intensiviert wird«.87

Vor dem Hintergrund dieser Definitionen könnte man Rodins Ehernes Zeitalter auf den ersten Blick für einen Idealfall der von Gumbrecht geforderten Wiedergewinnung von ästhetischen Präsenzereignissen halten. Wollte man also Grumbrechts Modell mit historischen Beispielen unterfüttern, so scheint Rodins skulpturale Ästhetik der un-mittelbaren Körperlichkeit einen unumgänglichen Referenzpunkt zu bilden. Gerade aufgrund seiner greifbaren Dinghaftigkeit wurde Rodins Werk für die zeitgenössischen Kunstkritiker zu einer Herausforderung für eine deutende Einordnung und Erklä-rung. Noch bevor das Kunstwerks in sprachliche Bahnen überführt werden konnte, wurde die Plastik von dem Eindruck einer gesteigerten Lebendigkeit überlagert, die die Kunstkritiker zwar konstatieren, jedoch (noch) nicht mit kulturell verbürgten Narrati-onen ausstatten konnten. Dennoch erweist sich Gumbrechts Modell für den hier inter-essierenden Rezeptionsfall als unzureichend, und zwar aufgrund seiner allzu euphori-schen Hoffnung auf eine Wiedergewinnung von ästhetischer Gegenwärtigkeit. Wie wir gesehen haben, verharrten Rodins Zeitgenossen nicht lange in einem genießerischen Erleben von ästhetischer Fülle und gesteigerter Lebendigkeit, sondern haben sogleich auch das Bedürfnis verspürt, ihre Wahrnehmungserlebnisse sprachlich zu formulieren und dabei ihr Misstrauen gegenüber der Herstellungsweise des Werks zu äußern.

Im Gegensatz zu der polemischen Gegenüberstellung von »Präsenzkulturen«, die vorwiegend auf einer Anerkennung von Materialität und von ästhetischen Erlebnissen basieren sowie von »Sinnkulturen«, die sich einer hermeneutischen oder dekonstruk-tivistischen Perspektive auf die Wirklichkeit verschrieben haben, haben verschiedene Studien aus den vergangenen Jahren herausgearbeitet, inwiefern innerhalb von prä-senzartigen Erfahrungen die Tendenz entsteht, dass mit ihnen die Voraussetzungen ihres eigenen Gelingens regelrecht vergessen werden – und vielleicht auch vergessen werden müssen. Wenn Präsenz bei der Rezeption von Skulptur und Plastik für eine fast epiphanieartige Erfahrung von Gegenwärtigkeit einsteht, für das Erlebnis von Fülle und gesteigerter Lebendigkeit, so muss in ihr das, was sie erst ermöglicht, restlos ver-drängt werden.88 So wie wir beim Lesen die schiere Materialität des Textes, seine toten

87 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, 10f.

88 Von literaturwissenschaftlicher Seite ist für unsere Fragestellung die Studie Im Zeichen Pygmalions.

Das Modell der Statue und die Entdeckung der Darstellung von Inka Mülder-Bach hervorzuheben. Der Begriff der »Darstellung« avancierte im achtzehnten Jahrhundert zum theoretischen Instrumenta-rium, um das klassische Repräsentationsdenken einer radikalen Umdeutung zu unterziehen. Vgl.

Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Dar-stellung« im 18. Jahrhundert, München 1998, Permalink: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00042704-2 (Zugriff vom 01.01.2017). Die Stummheit der Skulpturen und Plastiken hat in der deut-schen Aufklärungsästhetik eine Eloquenz der Texte hervorgetrieben. In Herders Schrift zur Skulptur etwa zeigt sich eine Umkehrung der traditionellen Hierarchie zwischen begehrendem Subjekt und begehrtem Objekt. Wie Mülder-Bach ausführt, galt dem Dichter die tote Materialität der Statue aber nicht mehr als ein Hindernis seines Begehrens nach einer ästhetischen Verlebendigung, sondern im Gegenteil als die unhintergehbare Voraussetzung seines Präsenzerlebnisses: »Nicht der kalte Marmor hält die begehrende Hand auf Distanz und zwingt zur Imagination der Berührung. Vielmehr sagt die Statue umgekehrt, daß Distanz eine Bedingung des Begehrens ist und Präsenz als imaginativer Überschuß symbolisch vermittelt werden muß.« Dies., 76. Anders als es Gumbrecht im Sinn hat, sind skulptural evozierte Präsenzeffekte auch hier nicht einfach auf einen mehr oder weniger ontologischen

Buchstaben, die schwarz auf weiß vor unseren Augen stehen, vergessen müssen, um uns der halluzinatorischen Imagination anzuvertrauen89, so muss in der Betrachtung der Plastik, damit diese als lebendig erfahren werden kann, deren unbelebte Materiali-tät selbst transzendiert werden. Dadurch aber steht das Schreiben über Präsenzerfah-rungen im Medium der Schrift, wie wir es auch bei Rodins Kritikern beobachten können, in einem unlösbaren Widerspruch zum vermeintlichen Erlebnis von Gegenwärtigkeit selbst. Auch Gumbrechts Studie macht da keine Ausnahme: Denn erst die Beschrei-bung, die (Selbst-)Analyse oder die narrative Entfaltung von Präsenzerlebnissen ma-chen es möglich, dass diese in einen diskursiven Raum des Mitteilens und Verhandelns überführt werden können. Andernfalls wären wir in unserer Kunstbetrachtung mit solipsistischen Rezeptionsformen konfrontiert, die jegliche Debatte über ästhetische Effekte von vornherein ausschließen.

Wie weiter oben gezeigt wurde, artikulierten die Kunstkritiker in ihren Überle-gungen zum Ehernen Zeitalter eine höchst ambivalente Form der Wahrnehmung von Rodins Plastik: Als würde es sich bei dem Werk um eine Art Kippfigur handeln, in-szenieren diese Texte ein rezeptionsästhetisches Erleben, das unentschieden zwischen einem emphatischen Sich-Einlassen auf die Lebendigkeitseffekte der Plastik und einem schlagartigen Bewusstwerden ihrer bloßen Materialität pendelt. Präsenz und Absenz, halluzinatorische Einfühlung in die sinnlich dargestellte, ›lebendige‹ Körperlichkeit und nüchternes Wissen um die womöglich bloß durch einen Abguss geschaffene Illu-sion bilden so die Extrempole einer höchst zwiespältigen Betrachtersituation.90 Unter

Status der Skulptur als dinghaftem Objekt im Raum zurückführbar, sondern sie werden erst durch

Status der Skulptur als dinghaftem Objekt im Raum zurückführbar, sondern sie werden erst durch