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1 Hintergrund

2.2 Sedentäre Verhaltensweisen bei Grundschulkindern in Baden-Württemberg

2.2.2 Tägliche Sitzdauer

Die tägliche Sitzdauer ist der primäre Endpunkt dieser Arbeit. Für die Operationalisierung von sedentären Verhaltensweisen sollte die Erhebung per Fragebogen bei Kindern äußerst kritisch betrachtet werden, da die Validität und Reliabilität vor allem für Kinder unter zehn Jahren angezweifelt wird (Verbestel et al., 2015). Deshalb wurde bei den Grundschulkindern dieser Studie eine objektive Methodik verwendet. Die tägliche Sitzdauer wurde mittels validiertem Aktivitätssensor „Actiheart®“ (CamNtech, Cambridge, UK) erfasst (Corder et al., 2007, Corder et al., 2005). Das Aktivitätsniveau der Kinder kann mit diesem Gerät anhand des Energieverbrauchs ermittelt werden. Da sedentäre Verhaltensweisen standardgemäß über den Energieverbrauch von unter 1,5 MET definiert sind (SBRN, 2012), sollte die tägliche Sitzdauer ebenfalls in metabolischen Äquivalenten dargestellt und anhand dieses Grenzwertes berechnet werden. Für die Berechnung des Energieverbrauchs stehen diverse Modelle zur Verfügung. Vergleicht man Berechnungsmodelle die ausschließlich auf Bewegung basieren mit Berechnungsmodellen, welche Bewegung und Herzfrequenz kombinieren, so erzielen letztere genauere Ergebnisse (Corder et al., 2007). Der Aktivitätssensor „Actiheart®“ bietet diesen Vorteil und misst die Bewegung anhand eindimensionaler Beschleunigung (Ausschläge / Minute) kombiniert mit der Herzfrequenz (Schläge / Minute). Mit der integrierten Messung der Herzfrequenz in einem Gerät ist der Sensor den Geräten überlegen, die nur Bewegung bzw. Beschleunigungen messen können (Corder et al., 2007). Ein weiterer Vorteil des Sensors „Actiheart®“ ist, dass er sehr klein, leicht und wasserfest ist. Dadurch ist er im Alltag sehr praktikabel zu handhaben und weitläufig einsetzbar (Corder et al., 2005).

2.2.2.1 Erhebungsmethodik

Der Aktivitätssensor wurde nur von speziell ausgebildetem Fachpersonal in den Schulen vor Ort für die Messungen aktiviert und an der Brust der Kinder angebracht. Das Gerät selbst ist kompatibel mit standardisierten Elektroden, welche bei Elektrokardiogrammen (EKG) verwendet werden. Somit kann der Sensor mit zwei Elektroden einfach und sicher befestigt werden. Eine Elektrode wird mittig zwischen der Brust am Ende des Sternums angebracht, die andere Elektrode wird drei Finger breit links (aus Sicht des Kindes) davon aufgeklebt. Für ein störfreies und genaues Signal der Herzfrequenz wurde die Haut an den Stellen der Elektroden gereinigt, desinfiziert und getrocknet, bevor die Elektroden aufgeklebt wurden (Actiheart® User Manual 4.0.35, 2010). Letztlich wurde der gesamte Sensor mit einem speziellen Pflaster überklebt, um den Sitz des Gerätes unterstützend zu stabilisieren. Da der Sensor wasserdicht ist, konnte er von den Kindern eine Woche durchgehend 24 Stunden getragen werden. Für den Fall, dass sich das Gerät oder die Elektroden ablösen, wurden die Eltern instruiert den Sensor bzw. die Elektroden wieder

32 korrekt anzubringen. Entsprechend notwendiges Material wie Elektroden, Desinfektionsmittel, Tücher, spezielle Pflaster und eine beschreibende Skizze wurden den Kindern dazu in einer Mappe mitgegeben. Nach einer Woche kam das Studienpersonal erneut in die Schulen, um die Sensoren bei den Kindern wieder zu entfernen.

2.2.2.2 Datenaufbereitung und Berechnung

Zunächst erfolgte das Auslesen der Sensoren anhand der Actiheart® Software, wodurch die erhobenen Aktivitätsdaten auf einem gesicherten Server übertragen und gespeichert wurden. Danach wurde für die gemessenen Tage die Aktivität anhand des Energieverbrauchs in MET ebenfalls mit Hilfe der zugehörigen Actiheart® Software berechnetet und die Dauer der jeweiligen Aktivität in Minuten ausgewiesen.

2.2.2.3 Das Berechnungsmodell

Anhand der zugehörigen Actiheart® Software konnte der Energieverbrauch in metabolischen Äquivalenten (MET) prognostiziert werden. Zur Berechnung verfolgt die Software den Ansatz des verzweigten Modells (Branched Model Approach), welcher in einer Studie von Corder und Kollegen (2007) neben sieben anderen Modellen zur Berechnung des Energieumsatzes mit tatsächlich gemessenem Energieverbrauch verglichen wurde (Corder et al., 2007). Insgesamt zeigte sich in der Untersuchung eine sehr hohe Korrelation aller Berechnungsmodelle mit dem gemessenen Energieverbrauch bei Kindern. Die Varianz des Energieumsatzes konnte zu einem bedeutenden Anteil durch das verzweigte Modell erklärt werden (R² = 0,90) mit einer durchschnittlichen Verzerrung von - 43,4 J/kg-1/min-1 (Corder et al., 2007). Ein besonderer Vorteil des Ansatzes liegt darin, dass die Genauigkeit der Berechnung des Energieverbrauchs gegenüber Modellen ohne Herzfrequenz höher ist. Außerdem kann mit dem verzweigten Ansatz eine größere Bandbreite an Aktivitäten bei geringerer Fehlerquote abgedeckt werden. Nachdem die Messungen dieser Arbeit eine Woche am Stück erfolgten, ist die Messgenauigkeit für alltägliche Aktivitäten eines der entscheidenden Vorteile dieses Ansatzes. Darüber hinaus verbessert der Einschluss der Herzfrequenz die Genauigkeit der Berechnung für intensivere Aktivitäten (Corder et al., 2007). Insgesamt zeigte sich der Berechnungsansatz des verzweigten Models als geeignet und akkurat, um den Energieaufwand für die Aktivitäten Liegen, Sitzen, langsames und zügiges Gehen, ein Hüpfspiel und Rennen bei zwölfjährigen Kindern zu prognostizieren (Corder et al., 2007). Für die Berechnung des Energieverbrauchs wird neben dem Energieumsatz während der Aktivität auch der Energieumsatz in Ruhe addiert. Dabei basiert die Berechnung des Energieumsatz in Ruhe auf der Schofield-Gleichung, welche das Geschlecht, die Größe und das Gewicht in der Berechnung berücksichtigt (Actiheart® User Manual 4.0.35, 2010). Die Inklusion dieser Variablen in der Kalkulation des Energieumsatzes in Ruhe ermöglicht eine Anwendung der Berechnung auf diverse Zielgruppen. Darüber hinaus kann das Modell für bestimmte Altersgruppen ausgewählt werden, wodurch der Energieumsatz unter Berücksichtigung des Alters spezifisch berechnet wird (Actiheart® User Manual 4.0.35, 2010). Die Formel zur Berechnung des Energieverbrauchs der Aktivität in metabolischen Äquivalenten (MET) ergibt sich schließlich wie folgt: MET = (Energieumsatz Ruhe + Energieumsatz Aktivität) / Energieumsatz Ruhe.

33 2.2.2.4 Einteilung der Intensitäten der Aktivität

Auf der Basis des berechneten Energieverbrauchs wurden die Minuten jeden Tages nach der Intensität der Aktivität summiert. Die Aktivitätsgruppen wurden anhand ihrer etablierten Definitionen standardgemäß klassifiziert. Als Schwellenwert für sedentäre Verhaltensweisen legt die Definition einen Energieverbrauch von bis zu 1,5 MET fest (SBRN, 2012). Für den Energieverbrauch von mehr als 1,5 MET wurde die Definition für körperliche Aktivität herangezogen (Pate et al., 2008). Ein Energieverbrauch von über 1,5 MET bis zu 3 MET entspricht leichter körperlicher Aktivität (light physical activity = LPA), während der Energieverbrauch von über 3 MET als moderate bis intensive körperliche Aktivität (moderate to vigorous physical activity = MVPA) zusammengefasst werden kann (Pate et al., 2008). Auf diese drei Gruppen wurden die Minuten jedes gemessenen Tages anhand des berechneten Energiebedarfs verteilt. Dadurch konnte auch die gesamte Dauer der Aufnahme jedes gemessenen Tages ermittelt werden, was für die Identifikation valider Datensätze nötig war. Um die validen Datensätze für die Analyse herauszufiltern, wurde anhand der Aufnahmedauer (mind. zehn Stunden pro Tag) der Ein- bzw. Ausschluss der einzelnen Aufnahme und anschließend die Mindestanzahl der Tage (mind. ein Wochenendtag, mind. zwei Wochentage) überprüft. Nach der Plausibilitätskontrolle im letzten Schritt resultierte aus den Aufnahmen ein Datensatz mit 318 Kindern, für die valide Aktivitätsdaten der drei Kategorien vorlagen (sedentär, leicht körperlich aktiv, moderat bis intensiv aktiv).

2.2.2.5 Berechnung der individuellen Sitzdauer

Die ausgegebene Sitzdauer aus der Software entstand auf der Basis des zuvor beschriebenen Berechnungsmodells, welches alle Messwerte von unter 1,5 MET zu einer Dauer für jeden einzelnen Messtag aufsummierte. Da der Aktivitätssensor „Actiheart®“ von den Kindern durchgehend 24 Stunden getragen wurde, inkludierte die Aufzeichnung auch den Schlaf der Kinder. Während des Schlafens verbrauchen Kinder etwa ein metabolisches Äquivalent an Energie (Kinder im Alter von fünf Jahren: 0,85–1,13 MET, Puyau et al., 2016).

Aufgrund dieser beiden Fakten, dass a) der Aktivitätssensor durchgängig getragen wurde und b) der Schlaf der Kinder etwa bei einem Energieverbrauch von einen MET liegt, beinhaltete die von der Software berechnete Sitzdauer anhand der Verwendung von 1,5 MET als Schwellenwert auch die Schlafenszeit der Kinder. Jedoch schließt die Definition sedentärer Verhaltensweisen den Schlaf aus und bezieht sich nur auf Tätigkeiten in der Wachzeit (Tremblay et al., 2017, SBRN, 2012). Deshalb musste für die individuelle Berechnung der definitionsgemäßen Sitzdauer pro Tag abschließend noch die Schlafdauer bestimmt und von der bereits berechneten Dauer der sedentären Verhaltensweisen (Energieverbrauch von <1,5 MET) subtrahiert werden.

Um die individuelle Schlafzeit von der täglichen Sitzdauer trennen zu können, wurde der Zeitpunkt des Aufwachens und der Zeitpunkt des Einschlafens anhand der Herzfrequenz der Daten an jedem Tag einzeln herausgearbeitet. Die Herzfrequenz ist im Schlaf insgesamt niedriger und fällt im Übergang vom Wachzustand zur ersten Schlafphase zwischen 10 und 20 Prozent ab (Maurer et al., 2009, S.11). Somit kann anhand der physiologischen Vorgänge, repräsentativ durch die Herzfrequenz, der Zeitpunkt des Einschlafens und des Aufwachens eindeutig identifiziert werden. Durch ein deutliches Abflachen der Herzfrequenz auf ein offensichtlich verbleibend niedrigeres Niveau wurde

34 der Zeitpunkt des Einschlafens und anhand eines deutlichen Anstiegs der Herzfrequenz auf ein höher verbleibendes Niveau wurde der Zeitpunkt des Aufwachens bestimmt.

Anhand dieser physiologischen Kriterien durchsuchten zwei unabhängige Wissenschaftler die Aufnahmen aller Kinder und markierten jeweils beide Zeitpunkte (Einschlafen und Aufwachen) an allen inkludierten Messtagen. Jedoch konnten nicht für alle Aufnahmen beide Zeitpunkte (genau) identifiziert werden. Gründe waren kurze Aufzeichnungslücken der Herzfrequenz sowie zwei oder mehr plötzliche Anstiege der Herzfrequenz, zumeist am Vormittag. Womöglich sind die Kinder am Morgen mehrfach aufgewacht, jedoch nicht sofort aufgestanden, was solche Verläufe generieren könnte. Insofern ein Zweifel vorlag und sich die beiden Wissenschaftler bei einem Zeitpunkt nicht einig waren, wurde dieser bis zur Einigung diskutiert. Konnte selbst dadurch keine Übereinstimmung gefunden werden, so wurde ein weiterer interner Experte hinzugezogen. Da keine weitere Möglichkeit zur Kontrolle der Schlafenszeit vorlag (z.B. via Tagebuch), wurden Aufnahmen ohne Einigung und beibleibendem Zweifel von den Analysen ausgeschlossen. Insgesamt lagen dadurch für 87 der 318 validen Datensätze zu wenige Aufnahmetage vor, da nicht mehr mindestens ein Wochenendtag und mindestens zwei Wochentagen zur Verfügung standen. Letztlich konnte für 231 Kinder die individuelle Sitzdauer berechnet werden, wie bereits in Abbildung 2 dargestellt wurde.

Um die tatsächliche Sitzdauer des Tages ohne die individuelle Schlafenszeit zu berechnen, wurde die Zeit von Mitternacht bis zum Aufwachen, sowie die Zeit vom Einschlafen bis Mitternacht von der gemessenen Sitzdauer des jeweiligen Tages subtrahiert. Schließlich konnte der Durchschnitt für die tägliche Sitzdauer, gewichtet nach Wochentag und Wochenende, wie folgt errechnet werden:

Mittelwert tägliche

Sitzdauer =

Mittelwert tägliche Sitzdauer pro Wochentag × 5

+

Mittelwert tägliche Sitzdauer pro Wochenendtag × 2

/7

Tabelle 4: Kategorisierung der Sitzdauer in Stunden zur vereinfachten Visualisierung der Abbildung 9

Minuten der Sitzdauer Stundenkategorien der Sitzdauer

< 59,99 < 1

60 - 119,99 1 - 2

120 - 179,99 2 - 3

180 - 239,99 3 - 4

240 - 299,99 4 - 5

300 - 359,99 5 - 6

360 - 419,99 6 - 7

> 420 ≥ 7

Abbildung 3: Berechnungsformel der täglichen Sitzdauer

35 Zur Vereinfachung der grafischen Darstellung der Sitzdauer am Wochenende und unter der Woche werden für die Abbildung 9 Stundenkategorien erstellt. Zur oberen Begrenzung der Stundenkategorien wird die letzte Minute zur nächsten vollen Stunde herangezogen, währen die volle Stunde die Untergrenze darstellt. Die genaue Einteilung ist in Tabelle 4 aufgelistet.