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Maßnahmen zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen

1 Hintergrund

1.4 Maßnahmen zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen

Aufgrund der hohen Prävalenz und der bestehenden Gesundheitsgefährdung durch sedentäre Verhaltensweisen ist es notwendig, die Sitzdauer bereits im Kindesalter zu reduzieren. Vor dem Aspekt der Gesundheitsförderung und -erhaltung wurden neben den Empfehlungen der WHO zur körperlichen Aktivität (WHO, 2010) inzwischen auch national und international Richtlinien zu sedentären Verhaltensweisen veröffentlicht (Graf et al., 2017, Rütten u, Pfeifer et al., 2016, Tremblay et al., 2016). Durch solche Empfehlungen sollen der Entwicklung eines sitzenden Lebensstils frühzeitig entgegenwirken

Nach den internationalen Richtlinien der Kanadischen Gesellschaft für Trainingsphysiologie (Canadian Society for Exercise Physiology) sollten Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren täglich nicht mehr als zwei Stunden ihrer Freizeit mit Bildschirmmedien verbringen und Sitzen über längere Zeiträume weitestgehend limitieren (Tremblay et al., 2016). Erstellt wurden diese Richtlinien für das Sitzverhalten von Kindern auf der Basis eines strengen Verfahrens, welches in einer Publikation transparent dargestellt wurde (Tremblay et al., 2016). Am Entwicklungsprozess für die Richtlinien waren diverse Vertretern aus kanadischen Organisationen (Endnutzer, Interessensvertreter, Inhaltsexperten, Methodikern) beteiligt, wodurch eine große Spannbreite von Expertisen involviert werden konnte. Zur Generierung der Richtlinien wurden die eingeschlossenen Reviews anhand eines Bewertungsverfahrens beurteilt, womit den Richtlinien eine hohe Qualität zugrunde gelegt werden sollte. Diesem Bewertungsverfahren liegen wiederum Leitlinien für die Forschungsevaluation zugrunde (Appraisal of Guidelines for Research Evaluation = AGREE II). Anhand dieser Leitlinien für die Forschungsevaluation werden die verwendeten Reviews beurteilt, indem die Empfehlungsbewertung, Entwicklung und Evaluierung standardisiert anhand von Qualitätspunkten bewertet werden (Grading of Recommendations Assessment, Development, and Evaluation = GRADE). Komplementär dazu wurden Gemeinschaftsanalysen anhand der Daten einer kanadischen Gesundheitsumfrage erstellt, um Verknüpfungen mit aus der Literatur gewonnenen Gesundheitsindikatoren zu untersuchen. Für den ersten Entwurf der Empfehlungen wurden Rückmeldungen durch eine Umfrage sowie durch Gruppeninterviews mit den Interessensvertretern eingeholt. Schließlich wurden proaktiv Pläne zur Verbreitung, Umsetzung und Evaluation ausgearbeitet, um die neuen Richtlinien optimal nutzen und aktivieren zu können.

In Deutschland wurden nationale Empfehlungen zur Begrenzung der Bildschirmzeit altersgruppenspezifisch entwickelt (Graf et al., 2017, Rütten u. Pfeifer, 2016). Demnach sollten Säuglinge und Kleinkinder gar keine Bildschirmmedien nutzen, Kindergartenkinder maximal 30 Minuten und Grundschulkinder maximal 60 Minuten pro Tag. Im Jugendalter liegt das empfohlene Limit bei 120 Minuten täglich und entspricht erst dann der Dauer der kanadischen Empfehlungen. Auch für diese Entwicklung wurde systematisch recherchiert und die Qualität der Literatur anhand eines Verfahrens basierend auf der AGREE II- bzw.

der DELPHI-Methodik bewertet (Graf et al., 2017). Die ursprünglich 28 Items der beiden Methoden wurden auf vier Domänen anhand der DELPHI-Befragung reduziert. Aus den bewerteten und zusammengefassten Literaturergebnissen wurden schließlich die genannten Empfehlungen abgeleitet (Graf et al., 2017).

Insgesamt wird für eine Begrenzung der gesamten Sitzdauer ausschließlich eine Minimierung empfohlen, weshalb täglich so wenig Zeit wie möglich sedentär verbracht

13 werden sollte. Dieser Grundsatz gilt auch für den Medienkonsum, wobei für den Medienkonsum je nach Altersklasse eine Limitierung anhand von Maximalwerten empfohlen wird. Bisher geben die Richtlinien keine Maximalwerte zur Deckelung der gesamten täglichen Sitzdauer von Kindern und Jugendlichen an. Ab welcher Länge die tägliche Sitzdauer und somit ein (erhöhtes) Gesundheitsrisiko vorliegt ist noch nicht geklärt.

1.4.1 Interventionen und ihre Wirksamkeit

Neben der Limitierung sedentärer Verhaltensweisen auf der Basis von Empfehlungen werden sedentäre Tätigkeiten in Interventionen teilweise als eigenständige Risikofaktoren adressiert (King et al., 2019, Biddle et al., 2014), um Kinder frühzeitig für einen gesunden Lebensstil zu sensibilisieren.

Anhand der Literatur bis 2016 zeigen sich zwar nur kleine, aber einheitliche Effekte bei der Reduktion sedentärer Verhaltensweisen bei Kindern (Biddle et al., 2014) und Jugendlichen (King et al., 2019, Biddle et al., 2014). Die meisten Interventionen adressierten die Bildschirmzeit oder den Medienkonsum, insbesondere durch den Endpunkt Fernsehen, um sedentäres Verhalten zu reduzieren (King et al., 2019, Alfes et al., 2016). Dabei werden die Interventionen meist über die Schule angeboten und für mindestens sechs Monate durchgeführt (King et al., 2019, Bucksch u. Dreger 2014). Laut der jüngsten Übersichtsarbeit konnte selbstberichtetes sedentäres Verhalten um etwa 20 Minuten pro Tag verringert werden unabhängig davon, ob die Intervention Strategien kombinierte oder nicht (King et al., 2019). Häufig kombinierte und effektive Strategien waren das Einbeziehen der Eltern, angepasste Rückmeldungen zu Bildschirmaktivitäten, schulische Beratung sowie die Begrenzung des Fernsehens und anderen Bildschirmmedien z.B. durch die Verwendung von Freigabegeräten (King et al., 2019, Alfes et al., 2016, Biddle et al., 2014).

Eine andere Übersichtsarbeit berichtet eine Reduktion von etwa 4,5 Stunden pro Woche durch Interventionen, die ausschließlich auf die Bildschirmzeit abzielen (Wu et al., 2016).

Dabei wurden 14 Studien mit 2.238 Teilnehmern im Alter von drei bis 54 Jahren analysiert.

Die meisten dieser Studien wurden in den USA durchgeführt. Effekte waren signifikant in Studien, welche länger als sieben Monate andauerten und die Edukation sowie Beratung zur Gesundheitsförderung beinhalteten (Wu et al., 2016).

Andererseits berichtet eine Längsschnittstudie auf der Basis von objektiven Messungen keine signifikante Veränderung des sedentären Verhaltens (Fröberg et al., 2018). Die 135 schwedischen Kinder erhielten zwei Jahre lang Maßnahmen vor allem in Form von Edukation zur Gesundheitsförderung in Seminaren. Außerdem gab es eine geschlossene Gruppe auf Facebook zum Austausch und zur Informationsbereitstellung von Veranstaltungen im Programm (Fröberg et al., 2018). Dabei bleibt offen, ob die Mediennutzung von Facebook die Interventionseffekte negativ beeinflusst haben könnte.

Ähnlich zeigen drei Studien mit europäischen Kindern keine Interventionseffekte auf die objektiv oder subjektiv gemessene Sitzdauer (Verbestel et al., 2015, Vik et al., 2015, Van Lippevelde et al., 2014): In die schul-randomisierte und kontrollierte UP4FUN Intervention waren Kinder aus Deutschland, Belgien, Griechenland, Ungarn und Norwegen inkludiert.

Die sechs-wöchige Intervention bestand aus ein bis zwei Schulstunden pro Woche mit Edukation zur Reduktion und Sensitivierung für sedentäre Verhaltensweisen sowie zugehörigen Hausaufgaben. Sedentäre Verhaltensweisen wurden via Bewegungssensor gemessen, während die Bildschirmzeit und Pausen der Sitzdauer anhand eines Fragebogens selbst dokumentiert wurden. In beiden Studien konnten keine signifikanten

14 Interventionseffekte zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen festgestellt werden (Vik et al., 2015, Van Lippevelde et al., 2014). In der nicht-randomisierten IDEFICS Studie war zwei Jahre nach der Intervention die tägliche Sitzdauer der zwei- bis zehnjährigen Jungen und Mädchen sogar signifikant um vier Prozentpunkte gestiegen. Dieses Ergebnis basiert auf Daten von 7.413 Kindern aus diversen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland. Die Module der Intervention wurden in der Schule, Familie und Gemeinschaft umgesetzt und adressierten unter anderem eine Reduktion der täglichen Fernsehzeit (Verbestel et al., 2015).

Eine aktuelle Übersichtsarbeit und Meta-Analyse von Blackburn und Kollegen (2020) fasst 84 Veröffentlichungen bis Mai 2019 zu Interventionseffekten bei Kindern bis 18 Jahren zusammen (Blackburn et al., 2020) und berichtet primär von kleinen Interventionseffekten.

Von den inkludierten Studien waren 62 (Kluster-) randomisierte Studien, zwei Untersuchungen waren im Cross-Over Design und weitere 22 Studien wurden quasi experimentell durchgeführt. Wieder wurden sedentäre Verhaltensweisen primär mittels Selbstbericht erhoben. Deshalb wurden 49 Untersuchungen anhand des GRADE Systems mit hohem Risiko zur Verzerrung aufgrund der Messmethodik eingeordnet (fast 60 Prozent Erhebung via Selbstbericht). Die übrigen 35 Studien wurden mit geringem Verzerrungsrisiko bewertet, da sie für Messungen sedentärer Verhaltensweisen Geräte bzw. Bewegungssensoren einbezogen hatten. Die Kontrollgruppen erhielten entweder keine Intervention bzw. waren auf der Warteliste (inaktiv) oder sie erhielten eine alternative Intervention (aktiv). Anhand der Meta-Analyse konnten insgesamt moderate Reduktionen der täglichen Sitzdauer von 25 Minuten (-25,86 [-40,77, -10,96]) durch Interventionen von weniger als sechs Monaten im Vergleich zu einer inaktiven Kontrollgruppe gefunden werden, während es nur noch 14 Minuten (-14,02 [-19,49, -8,55]) weniger bei Interventionen von über sechs Monaten waren (Blackburn et al., 2020). Beim Vergleich mit einer aktiven Kontrollgruppe zeigte sich insgesamt eine Reduktion von fast einer Stunde (-59,90 [-102,16, -17,65]) durch Kurzzeitinterventionen, während für Interventionen über sechs Monate keine signifikanten Ergebnisse gefunden werden konnten. Demnach verlieren Interventionen mit längerer Dauer scheinbar an Effektivität. Eventuell ist das auf eine schwindende Motivation durch die Zeit zurückzuführen. Jedoch bleibt das bisher nur zu spekulieren.

Auch wenn wenige Ergebnisse eine Tendenz für kleine Effekte durch Interventionen aufzeigen, so existieren andererseits Studien, die keine signifikanten Interventionseffekte zeigen konnten. Deshalb bleiben die Erkenntnisse zu Interventionseffekten im Kindesalter noch unschlüssig. Zudem fehlen qualitativ hochwertige Studien und die Interventionen sind sehr heterogen in der Messmethodik, weshalb die Ergebnisse schwer vergleichbar sind (Blackburn et al., 2020).

1.4.2 Interventionen in Deutschland

Zu Maßnahmen, die sedentäre Verhaltensweisen bei Kindern in Deutschland adressieren, sind bisher nahezu keine Publikationen vorhanden (Alfes et al., 2016, Blackburn et al., 2020). In der aktuellen Liste mit 84 Studien aus der systematischen Arbeit von Blackburn und Kollegen (2020) konnte neben den zuvor genannten europäischen Studien (Verbestel et al., 2015, Vik et al., 2015, Van Lippevelde et al., 2014), die Kinder aus Deutschland zwar einbezogen, jedoch nicht einzeln ausgewertet hatten, keine weitere Untersuchung mit Daten von Kindern aus Deutschland gefunden werden. Laut Alfes und Kollegen (2016) existiert nur eine Untersuchung mit Kindern in Deutschland, welche auch eine Reduktion

15 sedentärer Verhaltensweisen anstrebt. Dabei handelt es sich um die Evaluation des Projektes URMEL-ICE (Brandstetter et al., 2012), welches den Zuckerkonsum durch gesüßte Getränke, die körperliche Aktivität sowie die Bildschirmzeit adressiert, um Übergewicht vorzubeugen. Das Projekt basiert methodisch auf der sozial-kognitiven Theorie, welche davon ausgeht, dass die Selbstwirksamkeit entscheidend für eine Verhaltensänderung ist. Somit werden im Projekt Alternativen aufgezeigt, wie beispielsweise Fernsehen durch Sport oder andere Aktivitäten ohne Fernsehen zu ersetzen. Auch eine realistische Zielsetzung der Alternativen wird für die angestrebte Verhaltensänderung berücksichtigt. Erhoben wurde der Fernsehkonsum mittels eines validierten Elternfragebogens. Nach einem Jahr Intervention zeigten mehr Kinder eine Verbesserung im Gesundheitsverhalten als eine Verschlechterung in allen Items, abgesehen von der Vereinszugehörigkeit. Beim Fernsehkonsum zeigte sich eine Verhaltensverbesserung bei ca. 25 Prozent (Wochenende) bzw. 27 Prozent (Wochentag) in der Interventionsgruppe und 22 Prozent (Wochenende) bzw. 25 Prozent (Wochentag) der Kontrollgruppe. Verschlechtertes Fernsehverhalten hatten etwa 13 Prozent (Wochentag und Wochenende) der Kinder in der Interventionsgruppe, wohingegen etwa 15 Prozent (Wochentag) bis 20 Prozent (Wochenende) der Kinder aus der Kontrollgruppe ihr Fernsehverhalten verschlechterten. Für das Hauptergebnis der Übergewichtsprävention konnte zumindest eine tendenziell positive Veränderung von Indikatoren der Fettmasse (Hüftumfang, subscapulare Hautfalte), jedoch nicht für den Body-Mass-Index (=BMI) erreicht werden (Brandstetter et al., 2012).

1.4.2.1 Das Programm „Komm mit in das gesunde Boot“

Das Projekt URMEL-ICE wurde anschließend weiterentwickelt, woraus das Gesundheitsförderprogramm „Komm mit in das gesunde Boot“ entstanden ist. Das Interventionsprogramm zielt auf die Entwicklung eines gesunden Lebensstils ab und wird im Methodenteil (Kapitel 2.2.1) genauer erläutert. Die Wirksamkeit dieses Interventionsprogramms wurde mit der „Baden-Württemberg Studie“ für das Setting Grundschule im Durchschnittsalter von sieben Jahren evaluiert (Kobel et al., 2014). Es konnten diverse positive Interventionseffekte gezeigt werden (Kobel et al. 2017, Kesztyüs et al. 2017, Lämmle et al., 2017, Lämmle et al., 2016, Kobel et al., 2014), jedoch nicht in Bezug auf sedentäre Verhaltensweisen.

Der Medienkonsum wurde bei 1.736 Grundschulkindern mittels eines validierten Elternfragebogens erfasst. Dargestellt wurde der Anteil der Kinder, welcher die Empfehlung des Medienkonsums pro Tag von einer Stunde überschreitet (Kobel et al., 2014). Dieser Prozentanteil lag zum Beginn des Programms (Basismessung) nur bei 15,4 Prozent für Jungen, 11,2 Prozent für Mädchen und bei 13,4 Prozent für die Gesamtstichprobe (Kobel et al., 2014). Nach der einjährigen Intervention war dieser Anteil fast unverändert und lag für die Gesamtstichprobe bei 13,6 Prozent (Follow-up). Es ergab sich keine signifikante Veränderung dieses Anteils, weder im Vergleich der Messzeitpunkte noch im Vergleich der beiden untersuchten Gruppen (Wartekontrollgruppe vs. Interventionsgruppe). Allerdings zeigten Subanalysen im Vergleich mit der Wartekontrollgruppe, dass Mädchen (OR = 0,58, p = 0,04, 95 % KI [0,35; 0,96]), Kinder ohne Migrationshintergrund (OR = 0,61, p = 0,04, 95 % KI [0,38; 0,98] und Kinder aus Familien mit geringerem Bildungsniveau (OR = 0,64, p = 0,03, 95 % KI [0,43; 0,96] signifikant weniger fernsehen. Aufgrund dieser Ergebnisse schlussfolgerten die Autoren, dass von dem Programm vor allem schwer erreichbare Gruppen profitieren (Kobel et al., 2014). Die gesamte Sitzdauer pro Tag wurde bei einer

16 Teilstichprobe von 154 Grundschulkindern objektiv anhand eines Bewegungssensors im Längsschnitt erfasst, um Interventionseffekte zu messen (Kobel et al., 2020). Allerdings konnte selbst der Vergleich von objektiv erhobener Sitzdauer zwischen der Wartekontrollgruppe und der Interventionsgruppe keine signifikanten Unterschiede hervorbringen (Kobel et al., 2020). Die tägliche Sitzdauer konnte außerdem im Laufe der Intervention von einem Jahr in keiner der Gruppen reduziert werden, sondern stieg in der Wartekontrollgruppe um 35 Minuten und in der Interventionsgruppe sogar um 57 Minuten an (Kobel et al., 2020). Für das Setting Kindergarten liegen ebenfalls positive Interventionsergebnisse vor (Kobel et al., 2019). Allerdings zeigten sich auch hier für die Bildschirmzeit keine signifikanten Effekte zwischen den beiden Messzeitpunkten (Basismessung vs. Follow-up) und den beiden untersuchten Gruppen (Intervention vs.

Wartekontrollgruppe). Schlussendlich konnte auch die Intervention „Komm mit in das gesundes Boot“, weder bei Grundschulkindern noch bei Kindergartenkindern, die Mediennutzung oder die Sitzdauer signifikant reduzieren (Kobel et al., 2020, Kobel et al., 2019, Kobel et al., 2014).