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Forschungsfrage 1.1: Determinanten aus der Literatur

4 Diskussion

4.1 Literaturbasierte Erkenntnisse

4.1.1 Forschungsfrage 1.1: Determinanten aus der Literatur

Einige Studien haben Determinanten zu sedentären Verhaltensweisen bei Minderjährigen untersucht. Die Ergebnisse der systematischen Literaturarbeit zeigen, dass Faktoren existieren, die mit subjektiv und objektiv erfassten sedentären Verhaltensweisen sowie mit der Bildschirmzeit von Kindern assoziiert sind. Die meisten Determinanten konnten auf individueller Ebene herausgestellt werden, gefolgt von den umweltbezogenen Einflüssen.

Weniger Determinanten resultierten auf interpersonaler und politischer Ebene. Die Mehrheit der Faktoren verstärkt eine sitzende Lebensweise und nur wenige haben das Potenzial die Sitzdauer der Kinder zu reduzieren. Für den Endpunkt der Bildschirmzeit konnten die meisten Studien gefunden werden. Es zeigten sich dabei je nach Endpunkt der sedentären Verhaltensweisen (subjektiv, objektiv, Bildschirmzeit) differierende Resultate der Assoziationen. Deshalb müssen die Assoziationen differenziert nach den verknüpften Endpunkten betrachtet und interpretiert werden.

4.1.1.1 Alter

Die einzige Determinante, welche mit allen drei untersuchten Endpunkten der sedentären Verhaltensweisen (objektiv: 12/14 Studien, subjektiv: 11/12 Studien, Bildschirmzeit 43/62 Studien) eine Assoziation zeigte, ist das Alter. Insbesondere aufgrund der hohen

82 Studienanzahl zum Faktor Alter, die eine positive Assoziation belegen, kann geschlussfolgert werden, dass das Alter einen relevanten Einfluss auf sedentäre Verhaltensweisen hat. Für eine zunehmende Sitzdauer mit steigendem Alter gibt es insgesamt ausreichend Evidenz (Jago et al., 2017, Arundell et al., 2016a, Arundell et al., 2016b, Stierlin et al., 2015, Lou, 2014, Leech et al., 2014). Gründe dafür könnten Interessensverschiebungen mit zunehmendem Alter zugunsten von sedentärem Verhalten sein. Jugendliche im Alter von zwölf bis 19 Jahren favorisieren eher weniger aktive Tätigkeiten wie Freunde treffen und oder selbst Musik machen (Feierabend et al., 2020).

Außerdem nimmt der Medienkonsum mit zunehmendem Alter eine bedeutendere Rolle ein (Lampert et al., 2007), was sie Sitzdauer ausweiten könnte. Aber auch die wöchentlichen Schulstunden nehmen mehr Zeit in Anspruch in den höheren Klassenstufen (Konferenz der Kultusminister, 2013), weshalb auch mehr Zeit für das Lernen benötigt wird, je älter Kinder und Jugendliche werden. Insgesamt decken schulbezogene Tätigkeiten wie Hausaufgaben, Lesen und Schreiben zwischen 13 und 42 Prozent der gesamten Sitzdauer ab (Arundell et al., 2016a, Bucksch u. Dreger, 2014).

Darüber hinaus reduziert sich mit zunehmendem Alter, besonders aber während der Jugend, auch die körperliche Aktivität der Kinder (Ferreira de Moraes et al., 2013). Während Kinder von sechs bis zehn Jahren durchschnittlich noch 75 Minuten am Tag moderat bis intensiv körperlich aktiv sind, sind es bei Jugendlichen (elf bis 17 Jahre) nur noch 56 Minuten (Sprengeler et al., 2017). Dass das Jugendalter eine besondere Phase für sedentäre Verhaltensweisen ist, wird durch die Assoziation der subjektiv erhobenen sedentären Verhaltensweisen mit der Pubertät untermauert. Der zunehmende Reifungsprozess verstärkt laut fünf von acht eingeschlossenen Forschungsarbeiten der systematischen Recherche sedentäre Verhaltensweisen (Stierlin et al., 2015). Daher sollten nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch Eltern und Lehrer dafür sensibilisiert werden, eine lange Sitzdauer von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen und diese zu minimieren. Vor allem die Unterstützung der Eltern hat neben der Vorbildfunktion einen bedeutenden Einfluss auf das Aktivitätsverhalten der Kinder (Erkelenz et al., 2014). Die soziale Unterstützung durch die Familie ist bei Jugendlichen auch positiv mit dem Erreichen der Aktivitätsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation assoziiert (Brown et al., 2017). Durch unterstützendes Verhalten von Lehrern und Eltern könnten Jugendliche im Reifungsprozess auch bezüglich ihrer Sitzdauer positiv beeinflusst werden, was zudem auf die gleichaltrigen Peers eine präventive Wirkung haben könnte.

4.1.1.2 Aktualität der Studien

Neben dem Alter der Kinder spielt für die Bildschirmzeit als Endpunkt auch das Alter der Studie im Sinne der Aktualität eine wesentliche Rolle. Basierend auf den Ergebnissen von zwölf Untersuchungen weisen in zehn Fällen jüngere Studien eine längere Bildschirmzeit auf als ältere. Mit dem Lauf der Zeit ist die Nutzungsdauer der Bildschirmmedien von Kindern und Jugendlichen angestiegen (Stierlin et al., 2015). Ein Zuwachs der Mediennutzung in den letzten Jahren wurde auch in diversen anderen Untersuchungen berichtet (Feierabend et al, 2020, Feierabend et al, 2019, Huber u. Köppel, 2017, Bucksch et al., 2014). Der Anstieg könnte vor allem durch die rapide Entwicklung der Digitalisierung bedingt sein. Besonders das vielseitige und wachsende Medienangebot wie Internet, Streaming Dienste, Tablets und Smartphones führte über die Jahre in den Haushalten zu mehr Nutzungsmöglichkeiten. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass der Fernsehkonsum insgesamt etwas abgenommen hat, wohingegen die Computer- und Internetnutzung in den

83 letzten Jahren deutlich angestiegen ist (Feierabend et al, 2020, Feierabend et al, 2019, Bucksch et al., 2014).

4.1.1.3 Depressive Symptome und Ausgrenzung

Mit der Mediennutzung geht allerdings auch eine Verstärkung von depressiven Symptomen einher, was besonders interessant ist. Wie die Ergebnisse zeigen, steht die Bildschirmzeit in drei von vier Untersuchungen mit depressiven Symptomen in einer verstärkenden Verbindung (Stierlin et al., 2015), womit diese Assoziation eine gute Evidenzgrundlage hat.

Eine aktuelle Studie konnten bereits eine Verbindung von Depressionen mit digitalen Medien zeigen (Hoge et al., 2017). Insbesondere die exzessive Nutzung von Mobiltelefonen, welche die persönlichen Kontakte vermehrt ersetzt, verursacht soziale Isolation und ist mit schwereren Depressionen bei Jugendlichen assoziiert (Hoge et al., 2017). Auch junge Erwachsene mit langer Nutzungsdauer von sozialen Medien wie You Tube und Facebook fühlen sich sozial isolierter (Primack et al., 2017). Soziale Isolation kann demnach mit sozialer Inkompetenz und Einsamkeit einhergehen und depressive Symptome fördern.

Der Erklärungsansatz vermehrter Mediennutzung für depressive Symptome wird durch die identifizierte Determinante der sozialen Ausgrenzung für die objektiv gemessenen sedentären Verhaltensweisen gestützt. Dabei ist für diesen Einfluss mit vier von vier Studien (100 Prozent) eine fundierte Evidenzlage gegeben (Stierlin et al., 2015). Eine aktuelle Studie zeigt, dass soziale Ausgrenzung bei Jugendlichen mit einer langen Nutzung der sozialen Medien zusammenhängt (Ergun u. Alkan, 2020). Dabei wurden 492 Mädchen und 192 Jungen im Alter von 17 bis 18 Jahren im Querschnitt befragt. Die Beurteilung der sozialen Ausgrenzung erfolgte anhand der standardisierten Skala für soziale Ausgrenzung bei Jugendlichen (Ostracism Experience Scale for Adolescents = OES-A). Die Skala setzt sich aus elf Aspekten zusammen und reicht von neun bis 45 Punkte, wobei eine hohe Punktzahl größere Ausgrenzung bedeutet. Die durchschnittliche Punktezahl dieser Skala lag für die gemessene Stichprobe bei 17 Punkten. 54,7 Prozent der Jugendlichen nutzen soziale Medien mehr als drei Stunden pro Tag, womit auch ein höherer Score der OES-A einherging. Auch Faktoren wie kein Hobby haben oder akademische Misserfolge korrelieren mit vermehrter Nutzung der sozialen Medien (Ergun u. Alkan, 2020), was eine soziale Ausgrenzung weiterhin verstärken könnte. Zwar ist die Kausalität noch nicht belegt, jedoch scheint ein Zusammenhang von sozialer Isolation, Ausgrenzung, Misserfolg und anderen depressiven Symptomen besonders im Jugendalter mit der Mediennutzung und somit auch mit der Bildschirmzeit und der gesamten Sitzdauer einherzugehen.

4.1.1.4 Spielflächen

Neben der guten Evidenzlage der sozialen Ausgrenzung und neben dem Alter ist die Studienlage für eine positive Assoziation der objektiven Sitzdauer mit einem hohen Andrang auf Spielplätzen (7/10 Studien) am stärksten zu bewerten. Da ein hoher Andrang auf Spielplätzen positiv assoziiert ist, wird sedentäres Verhalten mit einem größeren Andrang verstärkt (Stierlin et al., 2015). Somit hat der steigenden Anzahl der Kinder, die auf einer Spielfläche zusammenkommt, eine beeinflussende Relevanz für die Förderung der Passivität von Kindern. Diese Annahme wird von der positiven Assoziation des Sportunterrichts gestärkt. Entgegen den Erwartungen fördern der Sportunterricht sowie Umkleidekabinen in den Einrichtungen auf der Basis einer Studie der Literaturarbeit

84 sedentäre Verhaltensweisen (Mantjes et al., 2012). Ähnlich könnte die (zu) große Anzahl der Kinder und auch eine daraus resultierende Wartezeit das sedentäre Verhalten steigern.

Immerhin verbringen Grundschulkinder in Deutschland nur 8,5 Minuten je Sportstunde (45 Min) im Bereich der moderaten bis intensive körperliche Aktivität (Kobel et al., 2015a). Eine Reizüberflutung durch zu viele Stationen stellt eine plausible Erläuterung dar. Zudem kann (zu) viel Spiel- und Sportequipment zu weniger körperlicher Aktivität und damit zu einer längeren Sitzdauer der Kinder beitragen (Stierlin et al., 2015). Eine Reizüberflutung könnte zu einer Überforderung der Kinder führen und dadurch sowohl im Sportunterricht als auch auf den Spielplätzen sedentäres Verhalten verstärken. Diese Annahme kann durch die Assoziationen der sozialen Ausgrenzung und depressiver Symptome mit sedentären Verhaltensweisen weiter gestützt werden. Kinder, die sich in der Gegenwart (vieler) anderer Kinder eher passiv verhalten, könnten leichter Ausgrenzung erfahren.

4.1.1.5 Umgebungsfaktoren

Neben der Reizgestaltung von Spielflächen kommt auch der Gestaltung der äußeren Umgebung eine besonders wichtige Rolle für die Länge der täglichen Sitzdauer zu. Das zeigt sich insbesondere durch die reduzierenden Einflüsse sedentärer Verhaltensweisen, welche anhand der Literaturarbeit nur für diesen Endpunkt gefunden werden konnten.

Sicherheit im Straßenverkehr durch Überquerungsmöglichkeiten, Verkehrshelfer und eine für die körperliche Aktivität förderliche Fahrradinfrastruktur stellen Determinanten zur Reduktion der Sitzdauer dar (Mantjes et al., 2012). Bereits bei Kindern von unter fünf Jahren konnte eine Übersichtsarbeit zeigen, dass die äußere Umgebung mit sedentären Verhaltensweisen stark assoziiert ist (Tonge et al., 2016). Andererseits verstärkt Fußgängertraining die objektiv gemessene Sitzdauer, obwohl dabei die Sicherheit adressiert wird. Denkbar wäre, dass durch solche Veranstaltungen Sicherheitslücken in der Umgebung aufgedeckt werden, anstatt diese zu umgehen. Eine längere Sitzdauer könnte aus der Konsequenz resultieren, dass Eltern ihre Kinder aus Sicherheitsgründen lieber zur Schule oder zum Kindergarten fahren. Zur Umgebung der Schule sind anhand der widersprüchlichen Forschungsarbeiten noch kaum eindeutige Schlüsse möglich. Deshalb sollten Interventionen auch Umgebungsbedingungen als Kontrollvariablen erfassen, um diese offenen Fragen in weiteren Studien klären zu können. Tendenziell zeigt sich jedoch auf der Basis der bestehenden Evidenz eine Relevanz der Sicherheit und der Reizregulation bezüglich der Umgebungsgestaltung zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen.

4.1.1.6 Teilfazit zu den Literaturergebnissen

Einige der gefunden Einflüsse (Alter, Pubertät, Alter der Studie) lassen nur darauf schließen, dass ältere Kinder und vor allem Jugendliche einen besonderen Bedarf haben, ihre Sitzdauer zu minimieren. Deshalb sollten Interventionen schon im Kindesalter, möglichst im Kindergarten begonnen und durchgeführt werden. Außerdem sollten besonders Jugendliche für sedentäre Verhaltensweisen sensibilisiert werden, indem speziell auf Jugendliche zugeschnittene Maßnahmen durch Interventionen angeboten werden. Nachdem die soziale Ausgrenzung bei Jugendlichen im Zusammenhang mit der Mediennutzung steht, scheint die Mediennutzung und -kompetenz im Jugendalter ein relevanter Ansatz zu sein und sollte nicht unterschätzt werden. Interventionen für Jugendliche sollten dem psychischen und sozialen Aspekt mehr Aufmerksamkeit gewähren. Denn sowohl soziale Ausgrenzung als auch depressive Symptome sind im

85 Gegensatz zum Alter modifizierbare Faktoren, welche für künftige Interventionen einen veränderbaren Ansatzpunkt bieten. So kann der Entwicklung eines sitzenden Lebensstils frühestmöglich und in einer kritischen Altersphase entgegengewirkt werden. Eine lange Sitzdauer trotz des Fortschritts der Digitalisierung zu minimieren, wird eine stetig wachsende Herausforderung bleiben. Besonders unter den aktuellen Umständen der Covid-19 Pandemie steigt der Bedarf der Mediennutzung durch Homeschooling und Homeoffice. Dies spiegelt die Aktualität, die Relevanz und den steigenden Forschungsbedarf des Themas der sitzenden Verhaltensweisen und des damit zusammenhängenden Medienkonsums bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen wider.

Festzuhalten bleibt außerdem, dass insbesondere die objektiv erhobene Sitzdauer für reduzierende Einflüsse bezüglich der Umgebung und der Schulzeit empfänglich ist, da für alle anderen Endpunkte keine reduzierenden Faktoren gefunden werden konnten. Vor allem mehr Spielfläche, eine Umgebungsgestaltung welche Sicherheit und körperliche Aktivität der Kinder fördert und die Integration von sozial ausgegrenzten Kindern erleichtern könnte, bieten ebenfalls Potenzial für Interventionen. Zu überprüfen wäre vor diesem Hintergrund, ob beispielsweise der Andrang auf den Spielflächen der Schulen durch verschobene oder längere Pausenzeiten verringert werden könnte. Unterstützend könnten auch Partner wie Kommunen, die sich für mehr Spielflächen und Verkehrssicherheit in der Umgebung engagieren, involviert werden. Daher sollten künftige Studien solche Einflussfaktoren fokussieren und deren Potenzial anhand von Interventionen genauer überprüfen.