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1 Hintergrund

1.5 Problemstellung

Die vorangegangenen Kapitel machen deutlich, dass sedentäre Verhaltensweisen gesundheitsschädlich sind und das bereits im frühen Kindesalter. Mit zunehmendem Alter steigt auch das Risiko für Folgeerkrankungen und eine längere Sitzdauer am Tag an.

Zudem ist die Sitzdauer weltweit schon bei Kindern und Jugendlichen täglich sehr weit ausgedehnt und das mit steigender Tendenz. Vor diesem Hintergrund ist eine Reduktion sedentärer Verhaltensweisen anzustreben, um die Gesundheitsgefährdung zu minimieren oder insofern möglich vorab zu verhindern.

Da sedentäre Verhaltensweisen einen eigenständigen Risikofaktor für die Gesundheit bereits im Kindes- und Jugendalter darstellen, existieren Richtlinien zur Reduktion der täglichen Sitzdauer und diverse Interventionen versuchten die empfohlene Minimierung umzusetzen. Eine Vielzahl der Interventionen konnte bisher eine Reduktion sedentärer Verhaltensweisen erzielen (Blackburn et al., 2020, King et al., 2019, Alfes et al., 2016, Biddle et al., 2014). Damit zeigt die aktuelle Studienlage, dass Interventionen das Potenzial haben, sedentäres Verhalten bei Kindern zu verringern und die Gesundheit zu stärken.

Jedoch variieren die Interventionsergebnisse bei Kindern und Jugendlichen sehr, was einige Defizite des jungen Forschungsgebietes offenbart. Bei genauerer Differenzierung der Ergebnisse zeigt sich, Interventionen führen je nach Methodik, Zielgruppe und Inhalt zu unterschiedlichen Erkenntnissen: Effekte bleiben in den meisten Studien klein, insofern sedentäre Verhaltensweisen durch Selbstbericht erfasst wurden (Biddle et al., 2014, Salmon et al., 2011) während für die mittels Bewegungssensoren erfasste Sitzdauer bisher keine signifikanten Interventionseffekte erreicht werden konnten (Fröberg et al., 2018, Verbestel et al., 2015, Vik et al., 2015, Van Lippevelde et al., 2014). Darüber hinaus wird sedentäres Verhalten hauptsächlich auf den Fernsehkonsum oder die Bildschirmzeit beschränkt untersucht (King et al., 2019, Alfes et al., 2016), obwohl die Definition nicht nur diese Tätigkeiten umfasst (SBRN, 2012). Diese Beschränkung auf die Bildschirmzeit bei der Operationalisierung von sedentären Verhaltensweisen kann ebenfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und es fehlen bisher eindeutige Erkenntnisse zur gesamten Sitzdauer von Kindern.

17 Darüber hinaus ist die Prävalenz einer langen täglichen Sitzdauer von Kindern und Jugendlichen trotz bestehender Bemühungen zur Minimierung sedentärer Verhaltensweisen (Empfehlungen zur Reduktion, Interventionen) weltweit mit steigender Tendenz hoch (Saunders et al., 2018, Verloigne et al., 2016, Arundell et al., 2016a, Katzmarzyk et al., 2015, Bucksch u. Dreger, 2014, Lou, 2014, Griffith et al., 2013, Nilsson et al., 2009, Matthews et al., 2008). Damit besteht nach wie vor Handlungsbedarf zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen, um deren Gesundheit zu fördern und verbundene Gesundheitsrisiken zu minimieren.

1.5.1 Handlungsbedarf in Deutschland

In Deutschland zeigen Kinder und Jugendliche ein unzureichendes Gesundheitsverhalten, was auf einen bestehenden Handlungsbedarf der Gesundheitsförderung hinweist. Von den drei- bis 17-Jährigen bewegen sich 77,6 Prozent der Mädchen und 71,6 Prozent der Jungen täglich weniger als 60 Minuten, obwohl diese Aktivitätsdauer von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird (Finger et al., 2018). Außerdem wird in dieser Altersklasse täglich ein halber Liter zuckerhaltiger Getränke konsumiert und nur 14 Prozent der Kinder nehmen täglich die empfohlenen fünf Portionen Obst und Gemüse zu sich (Finger et al., 2018). Darüber hinaus ist die Prävalenz der Kinder und Jugendlichen im deutschen Raum mit einer Sitzdauer von über sieben bis fast elf Stunden täglich im internationalen Vergleich hoch (Huber u. Köppel, 2017, Sprengeler et al., 2017, Ruiz et al., 2011). Somit besteht auch für Kinder in Deutschland das Risiko einer Gesundheitsgefährdung durch assoziierte Erkrankungen. Da sedentäre Verhaltensweisen nachweislich bei der Entstehung von Adipositas und einigen Folgeerkrankungen beteiligt sind, ist außerdem die bestehend hohe Adipositas-Prävalenz in Deutschland relevant. Über 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren sind übergewichtig und knapp 6 Prozent sind sogar adipös (Schienkiewitz et al., 2018). Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass in Deutschland Handlungsbedarf bezüglich der Reduktion sedentärer Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen besteht.

Trotz des Handlungsbedarfs konnten bisher nur von zwei Interventionen publizierte Ergebnisse zu sedentären Verhaltensweisen gefunden werden (URMEL-ICE, Komm mit in das gesunde Boot, s. Kapitel 1.4.2.1). Jedoch zielten diese Interventionen primär auf die Prävention von Übergewicht und Adipositas ab, während die Reduktion von sedentärem Verhalten nur sekundär adressiert wurde. Sedentäre Verhaltensweisen waren in beiden Interventionen als Mediennutzung und Fernsehzeit definiert, wobei signifikante Effekte zwar für bestimmte Untergruppen, jedoch nicht für die Gesamtstichprobe gefunden wurden (Kobel et al., 2014, Brandstetter et al., 2012). Die Ergebnisse basieren jeweils auf subjektiven Daten, welche anhand eines validierten Elternfragebogens erhoben wurden.

Somit konnte bisher keine Publikation zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen im deutschen Raum gefunden werden, die sedentäres Verhalten von Kindern über die Bildschirmzeit hinaus adressiert und die Sitzdauer objektiv erfasst hat.

1.5.2 Forschungsstand

Der Forschungsstand zu sedentären Verhaltensweisen im deutschen Raum ist jedoch nicht nur bezüglich der Interventionsstudien sehr stark limitiert. Auch für die Prävalenz in Deutschland konnten nur drei Studien herangezogen werden, die ausschließlich Daten von deutschen Kindern analysierten (Huber u. Köppel, 2017, Sprengeler et al., 2017, Ruiz et

18 al., 2011). Neben den drei Untersuchungen mit Kindern aus Deutschland existieren noch vier europäische Studien, welche in Deutschland erhobene Daten inkludiert. Jedoch sind die Ergebnisse länderübergreifend analysiert und für Europa kombiniert dargestellt, weshalb diese Ergebnisse keine länderspezifischen Aussagen ermöglichen (Verbestel et al., 2015, Vik et al., 2015, Van Lippevelde et al., 2014, Ruiz et al., 2011). Spezifizierte Gruppenanalysen sind jedoch nötig, da unterschiedliche Rahmenbedingungen in den Ländern zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die Sitzdauer je nach Geschlecht, sozioökonomischem Status oder auch Migrationshintergrund variieren kann (Atkin et al., 2016, Kobel et al., 2014). Beispielsweise zeigt die Evaluation des Programms „Komm mit in das Gesunde Boot“ positive Ergebnisse der Bildschirmzeit gruppenspezifisch für Mädchen, Kinder ohne Migrationshintergrund und für Kinder von Eltern mit geringerem Bildungsniveau (Kobel et al., 2014). Zudem wurde eine unterschiedliche Dauer subjektiv erfasster sedentärer Verhaltensweisen anhand der Ethnizität und des Einkommens bei Jugendlichen gefunden (Lou, 2014). Dieser Unterschied konnte allerdings in Studien mit objektiv gemessener Sitzdauer nicht gezeigt werden (Lou, 2014). Darüber hinaus berichteten diverse Studien von einem Anstieg der Sitzdauer mit zunehmendem Alter (Arundell et al., 2016b, Leech et al., 2014, Lou et al., 2014), weshalb eine feine Abstufung des Alters für die Analyse sedentärer Verhaltensweisen anzuraten ist. Der Altersrange ist jedoch in zwei der drei deutschen Untersuchungen (Huber u. Köppel, 2017, Sprengeler et al., 2017) mit Teilnehmern von vier bis 20 Jahren und von sechs bis 17 Jahren sehr weitläufig und unspezifisch.

Diese Studienergebnisse deuten darauf hin, dass es Unterschiede von sedentärem Verhalten bei Kindern anhand diverser Gruppenmerkmale, Einflüsse und Messmethoden gibt. Somit ist eine separierte Analyse nach diversen Gruppen, Alter und auch unter Berücksichtigung der Erhebungsmethode nötig, um aussagekräftige Ergebnisse zur Sitzdauer für besonders gefährdete Kinder anhand von spezifischen Merkmalen zu erhalten. Letztlich ist noch zu erwähnen, dass alle gefundenen Studien erst nach dem Jahr 2010 veröffentlicht wurden. Zusammengefasst ist das Forschungsfeld zu sedentären Verhaltensweisen bei Kindern in Deutschland deshalb nicht nur stark limitiert, sondern auch noch besonders jung.

1.5.3 Einflussfaktoren sedentärer Verhaltensweisen

Aufgrund des bestehenden Handlungsbedarfs und der primär kleinen Interventionseffekte ergibt sich die Frage, warum sedentäre Verhaltensweisen durch Interventionen noch nicht sehr erfolgreich reduziert werden konnten. Der Erfolg von Interventionen hängt vor allem davon ab, bedeutende Einflüsse und Risiken sedentärer Verhaltensweisen gezielt zu adressieren und für eine lange Sitzdauer prädestinierte Kinder speziell berücksichtigen zu können. Nur auf dieser Basis können sedentäre Verhaltensweisen beeinflusst werden.

Somit ist es eine elementare Voraussetzung, Faktoren mit bedeutendem Einfluss sowie Risikogruppen zu kennen, um verstärkende Einflüsse reduzieren und vermindernde Faktoren fördern zu können. Welche Faktoren sich bedeutend positiv oder negativ auf die tägliche Sitzdauer bei Kindern auswirken und, ob sie sich nach bestimmten Gruppen oder Merkmalen unterscheiden, ist jedoch noch unzureichend geklärt, da die Mehrheit von Studien ergebnislos bleibt.

Beispielsweise zeigte eine Übersichtsarbeit bei Vorschulkindern von Hinkley und Kollegen (2010), dass diverse Korrelationen mit sedentärem Verhalten zwar bereits untersucht

19 wurden, jedoch konnte nur für sechs von 63 potenziellen Korrelationen mit Einflussfaktoren ein Ergebnis geschlussfolgert werden (Hinkley et al., 2010). Eindeutig war, dass das Geschlecht und die Spielzeit im Freien nicht mit der Fernsehzeit assoziiert waren, während für das Alter, die Körperzusammensetzung (Body-Mass-Index = BMI), die elterliche Bildung, und die Ethnizität jeweils nur eine vage Verknüpfung mit dem Fernsehen gefunden wurde. Ebenso wurde eine vage Korrelation von sedentären Verhaltensweisen mit dem Geschlecht gefunden, die via Bewegungssensor gemessen wurden. Ein relevanter Aspekt bezüglich der Vielzahl an ungeklärten Korrelationen mit sedentären Verhaltensweisen ist sicherlich, dass von den 29 eingeschlossenen Studien die Mehrheit den Fokus auf die Bildschirmzeit legte (Hinkley et al., 2010). Ähnlich unklare Ergebnisse berichtet eine erst kürzlich publizierte systematische Übersichtsarbeit mit unter Sechsjährigen. Aus 16 Studien konnten nur zwei von fünf verstärkenden bzw. drei von 21 reduzierenden Determinanten identifiziert werden (Azevedo et al., 2019). Diese Arbeiten zeigen, dass die Einflüsse sedentärer Verhaltensweisen bei dieser Altersgruppe noch nicht etabliert sind. Ähnliche Unklarheit liegt bei den fünf- bis 18-jährigen Kindern vor. Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2016 zu dieser Altersgruppe summierte, dass unzureichend Evidenz besteht, um für mehr als zwei der 58 potenziellen Korrelationen eine eindeutige Aussage treffen zu können (Arundell et al., 2016b). Sedentäre Verhaltensweisen außerhalb der Schulzeit sind positiv mit dem Alter assoziiert und es besteht keine Verbindung zwischen außerschulischer Fernsehzeit und dem Geschlecht. Somit wurden nur zwei Korrelationen in dieser Altersgruppe für die außerschulischen sedentären Tätigkeiten identifiziert und beide Faktoren (Alter, Geschlecht) sind nicht modifizierbar (Arundell et al., 2016b).

Diese zum Teil erst jüngst veröffentlichten Arbeiten zeigen deutlich, wie limitiert die Forschung zu Einflussfaktoren von sedentären Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen noch ist. Es können kaum eindeutige Schlüsse zur Reduktion der Sitzdauer gezogen werden, da die Ergebnisse sehr variieren. Zudem bestehen nur wenig Untersuchungen und Erkenntnisse zur täglichen Sitzdauer von Kindern über das Fernsehen hinaus.

Die erläuterte Problematik lässt sich in zwei Hauptprobleme zusammenfassen. Zum einen bewirken Interventionen bzw. Maßnahmen zur Reduktion sedentärer Verhaltensweisen generell noch keine großen Effekte, während die Einflussfaktoren stark variieren und unzureichend untersucht sind. Zum anderen liegen über sedentäre Verhaltensweisen der Kinder in Deutschland nur sehr wenige Studien und Erkenntnisse vor. Aufgrund des unzureichenden Forschungsstandes sedentärer Verhaltensweisen bezüglich der Einflussfaktoren, der Erkenntnisse in Deutschland, sowie der bisher geringen Interventionseffekte zur Reduktion sedentären Verhaltens ist insgesamt eine Ausweitung der Forschung zur täglichen Sitzdauer und deren Assoziationen vor allem bei Kindern in Deutschland nötig.