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Die Idee, nicht nur das Erdöl, sondern auch Benzin und andere flüssige Treib-stoffe durch regional verfügbare Alternativen zu ersetzen, entsprang in ihren

Grundzügen bereits den Hypothesen des GOĖLRO-Planes. Sie verfestigte sich jedoch erst mit dem Ende der NĖP in den planwirtschaftlichen Überlegungen der Parteiführung. Durch Erfolge deutscher Chemiker bei der Verflüssigung fester Brennstoffe in den 1920er Jahren motiviert, beschloss der Oberste Volks-wirtschaftsrat 1929 den Aufbau eigener Kapazitäten. Ein Jahr später wurde diese Linie vom XVI. Parteitag bestätigt und die Gewinnung von synthetischen Roh-stoffen jeglicher Form zur »wichtigen Aufgabe« für die industrielle Entwick-lung der Sowjetunion erklärt.1 Die Verantwortlichen bei Gosplan setzten fortan große Hoffnungen in die Technologie, welche als zukunfts weisende Lösung für die ungewollte Abhängigkeit vom ›schwarzen Gold‹ begriffen wurde. Interne Perspektivpläne aus dem Jahr 1930 sahen für das Ende der Dekade bereits die Deckung der Hälfte des Treibstoffverbrauches durch Kohleverflüssigung vor-aus.2 In der Folge bemühte sich das Narkomtjažprom intensiv um den Aufbau von Kapazitäten zur Erprobung der neuen Technologie. Erklärtes Ziel war es, langfristig die Erdölvorräte zu entlasten und zugleich die ungünstig empfundene

»geographische Verteilung unentbehrlicher Ressourcen« zu überwinden, wie der stellvertretende Volkskommissar Georgij Pjatakov Anfang 1934 darlegte.3

In den späten 1930er Jahren dominierten wie in zahllosen anderen Wirt-schaftssektoren strategische Überlegungen die weiteren Planungen. Hitlers Streben nach nationaler Autarkie und die unübersehbaren Fortschritte bei der Substitution von Erdölimporten wurden nicht ohne Bewunderung genauestens verfolgt.4 Im Rahmen des dritten Fünfjahresplanes hatte sich auch die Partei-führung zur Dringlichkeit der Produktion synthetischer Treibstoffe bekannt.

Aufgrund der »gewaltigen Entfernungen« und der gegenwärtigen Notwen-digkeit, »Erdöl und Erdölprodukte vom Süden her durch das ganze Land zu transportieren«, während es »Kohlenvorräte allerorts gebe«, habe Stalin ent-sprechende Anweisungen erteilt.5 Langfristig sollte jede der von Gosplan fest-gelegten Wirtschaftsregionen in der Sowjetunion den eigenen Verbrauch an

»Massenbedarfsgütern« selbst decken können, und dazu zählte auch die Treib-stoffversorgung. Um eine solche regionale Autarkie zu gewährleisten, sollten

1 Fachreev, Nail’ K.: Iz istorii otrasli iskusstvennogo židkogo topliva SSSR, in: Izvestija Rossijskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo universiteta im. A.I. Gercena (2008) 54, S. 231–236, hier S. 232; Rešenija po chozjajstvennym voprosam, Bd. 2, S. 219 f.

2 Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 21.

3 XVII s”ezd Vsesojuznoj Kommunističeskoj partii (b). 26 janvarja  – 10 fevralja 1934 g.

Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 460.

4 So etwa in RGAE, f. 4372, op. 92, d. 200, l. 41 und ll. 39–1.

5 So in der Rede Kaganovičs auf dem XVIII Parteitag: XVIII s”ezd VKP(b), S. 251 sowie S. 256.

»in Westsibirien und anderen Regionen, welche über kein eigenes Erdöl verfü-gen« – aufgezählt werden etwa das Baltikum, die zentralen und westlichen Lan-desteile oder Kasachstan –, entsprechende Kapazitäten auf gebaut werden.6 Die Einschätzung der heute für die Russländische Föderation wichtigsten, damals aber vollkommen unbekannten Förderregion östlich des Urals als erdölarmes Gebiet deutet gleichsam erneut darauf hin, dass die sowje tische Erdölgeologie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges im Osten des Landes erhebliche Lücken aufwies. Die sowjetischen Wirtschaftsplaner zogen es vor, anstelle der kost-spieligen Suche nach eventuell vorhandenen Ressourcen die verfügbaren Mit-tel in nachgewiesene, aber dafür weniger effiziente Alternativen zu investieren.

Mit Molotov, Kaganovič, Voznesenskij und dem damaligen NKVD-Chef Nikolaj Ežov befassten sich gleich mehrere hochrangige Mitglieder der Partei-führung mit den Möglichkeiten zur Erdölsubstitution und suchten gemeinsam nach Möglichkeiten, vor allem die im Deutschen Reich verwendeten Technolo-gien für die sowjetische Wirtschaft zu beschaffen.7 Die dem synthetischen Treib-stoff zugemessene strategische Bedeutung zeigt sich auch daran, dass nahezu alle Dokumente mit diesbezüglichem Kontext als streng geheim klassifiziert wurden, ein Status, der im Erdölsektor zu dieser Zeit lediglich in Ausnahmefällen und nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit Flugbenzin vergeben wurde.8 Ende Mai 1939 wurde schließlich der Bau von acht Anlagen zur Gewinnung von Flüs-sigtreibstoffen aus Kohle und anderen festen Energieträgern mit einer Gesamt-kapazität von 230.000 Tonnen jährlich beschlossen, drei Jahre später sollten diese bereits den Betrieb aufnehmen. Obwohl auch die konventionellen Raffinerien am Vorabend des Krieges an ihre Kapazitätsgrenzen stießen und das Budget im Angesicht der steigenden Rüstungsausgaben angespannt war, wurden erhebliche Investitionen zur Umsetzung der Pläne bereitgestellt – beinahe doppelt so viel wie 1939 zur Finanzierung von erdölbasierten Verarbeitungsbetrieben.9 Während

6 RGAE, f. 4372, op. 43, d. 125b, l. 22 sowie l. 115; ebd., d. 125v, l. 8. Allgemein zu den Bemühun-gen um regionale Autarkie in dieser Zeit Mieczkowski: Economic Regionalization, S. 114–120.

7 Zahlreiche Dokumente und Briefe, welche die tiefgreifende Involvierung der genannten Akteure belegen, sind abgedruckt in Melija, Aleksej A.: Mobilizacionnaja podgotovka narodnogo chozjajstva SSSR, Moskva 2004, S. 236–297. Dazu ferner auch Zolotarev, et al.:

Neft’ i bezopasnost’, S. 68.

8 Auffällig ist, dass selbst die Probleme in Groznyj und Baku in den späten 1930er Jahren ohne gesonderte Geheimhaltung diskutiert wurden, etwa in: GARF, f. R5446, op. 24, d. 1090; ebd., d. 1095.

9 RGAE, f. 4372, op. 92, d. 293, l. 110–111; ebd., f. 8627, op. 10, d. 7, l. 12; Izvestija ČK KPSS (1990) 1, S. 173; Melija: Mobilizacionnaja podgotovka, S. 222 f.; Sokolov: Sovetskoe neftjanoe chozjajstvo, S. 209 f.

die deutsche Führung die mehr als zehnmal teurere und wesentlich aufwändigere Technologie – zur Herstellung von 1 Tonne Flugbenzin wurden bis zu 70 Ton-nen Kohle benötigt, auf konventionellem Wege jedoch lediglich rund 3 Ton70 Ton-nen Erdöl – als temporäre Notlösung bis zur Eroberung des Kaukasus betrachtete, sahen Stalin und seine Mitstreiter darin eine gleichwertige und strategisch loh-nenswerte Alternative.10 Die Kosten spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Durch den Krieg und den Niedergang der Erdölförderung im Kaukasus sah sich die Kremlführung in ihren Annahmen und der daraus resultierenden Suche nach Möglichkeiten zur Erdölsubstitution bestätigt. Alles, was der Reduktion des Verbrauchs dienen konnte, wurde in Erwägung gezogen; wo immer mög-lich sollten Erdölprodukte durch andere Brennstoffe ersetzt werden. Mobile Gas generatoren zur Nutzung von Braunkohle, Torf oder Feuerholz in Fahrzeu-gen, mit denen bereits vor dem Krieg experimentiert worden war, wurden in zahlreiche zivil genutzte Lastwagen und Traktoren eingebaut. Insbesondere die Landwirtschaft wurde zunehmend auf Verzicht getrimmt.11 Der Fokus der sowje-tischen Erdölstrategie auf die Vertiefung der Verarbeitungsprozesse und die dar-aus resultierende Reduzierung der zur Verfügung stehenden Heizölmenge erfor-derte gleichsam einen Ersatz für die nach wie vor großen Masutmengen, welche von der Industrie verbraucht wurden. Die präferierte Kohle stand aufgrund der deutschen Besetzung des Donbass jedoch nicht als Alternative zur Verfügung.

Erdgas als Notlösung

Unter den vernachlässigten Projekten der Zwischenkriegszeit fand sich rasch eine mögliche Lösung für den Energieträgermangel: Bereits 1937 hatten Brenn-stoffexperten innerhalb Gosplans darüber spekuliert, dass sich die sinkende Erdöl förderung am besten durch den Aufbau einer Gasindustrie zur Versorgung großer Städte und einzelner energieintensiver Betriebe kompensieren lasse.12

10 Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 22; US Strategic Bombing Survey, Vol. 5, S. 15.

Die Kostenprobleme in den 1930er Jahren waren der sowjetischen Führung durchaus be-kannt, siehe Matvejčuk, Aleksandr A./Evdošenko, Jurij V.: Istoki gazovoi otrasli Rossii.

1811–1945 gg. Istoricheskie ocherki, Moskva 2011, S. 428 f. Zu den deutschen Einschätzungen:

Eichholtz/Kockel: Deutsche Ölpolitik, S. 509–511.

11 GARF, f. R5446, op. 1, d. 206, ll. 194–242; ebd., d. 208, ll. 78–84; Čadaev: Ėkonomika SSSR, S. 273 f. Weiterführend auch: Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 22 f.; Ders.: Neft-janaja politika (1940–1950), S. 244; Shimkin: Minerals, S. 212 f.; Sokolov: V godinu tjažkich ispytanij.

12 RGAE, f. 4372, op. 36, d. 958, ll. 29–30 sowie ll. 85–86. Dazu auch Matvejčuk/Evdošenko:

Istoki gazovoi otrasli, S. 418–420.

Wenig später entdeckte auch die Parteiführung die zuvor bewusst »vergessene Industrie«.13 Auf dem XVIII. Parteitag 1939 bezeichnete Kaganovič den Gas-sektor als »Industrie der kommunistischen Gesellschaft«, welcher »eine große Zukunft bevorsteht«. Die einer Gasifizierung zugrunde liegenden Paradigmen sollten jedoch wie im übrigen Energiesektor dem Regionalitätsprinzip unterge-ordnet werden: Zwar schloss er die Nutzung von in einzelnen Gebieten reich-lich vorhandenem Erdgas in seiner Rede nicht ausdrückreich-lich aus. Der Fokus sollte jedoch auf der Gasifizierung lokal verfügbarer fester Brennstoffe liegen.14 Besondere Priorität genoss die unterirdische Kohlevergasung, an welcher bereits Lenin großes Interesse gezeigt hatte. Das Verfahren war Anfang des 20. Jahrhun-derts in England entwickelt und im Frühjahr 1913 von Lenin in einem öffentli-chen Brief als »gigantische technische Revolution« bezeichnet worden, mit dem Potential, nahezu grenzenlose Energie ohne den Einsatz von Arbeitskraft pro-duzieren zu können.15 Kurzum sah er in den entsprechenden Verfahren eine Technologie, mit der das sozialistische Ideal einen Schritt näher rücken würde.

Unter der Führung Stalins, für den die Schriften Lenins dem Historiker Oleg Chlevnjuk zufolge als Lehrwerk nahezu biblischen Charakter hatten, erhielt die derart gepriesene Technologie im Verlauf der 1930er Jahre erhebliche Auf-merksamkeit der politischen Führung und gewann so eine »große ideologische Bedeutung«.16 Bemühungen von Erdölkommissar Sedin und anderen, Anfang 1940 die Investitionen auch im Erdgassektor zu erhöhen und endlich eine nen-nenswerte und eigenständige Erdgasindustrie aufzubauen, wie sie in den USA und anderen Ländern bereits existierte, waren in Anbetracht der zahllosen Konkurrenzprojekte wenig erfolgreich.17 Knappe Mittel, fehlendes Equipment und die begrenzte Nutzbarkeit des Energieträgers ohne großflächige infrastruk-turelle Baumaßnahmen reduzierten mit den Möglichkeiten auch das Interesse der sowjetischen Wirtschaftslenker. Im Sommer 1941 spielte der Energiet räger nahezu keine Rolle. Eine Ausnahme stellte lediglich die Region um Baku dar, in der rund 90 Prozent des in der Sowjetunion gewonnenen Erdgases als Neben-produkt der Erdölförderung produziert und größtenteils zur

Elektrizitätsgewin-13 Gurfinkel’, Iosif M.: Zabytaja promyšlennost’. (Gazovoe delo v SSSR i sovremennoe sostoja-nie ego na Zapade), in: Planovoe chozjajstvo (1928) 5, S. 223–237; Ramsin: Power Resources, S. 1270.

14 XVIII s”ezd VKP(b), S. 253. Der auf dem Parteitag verabschiedete dritte Fünfjahresplan spie-gelte diese Prioritätensetzung klar wider: KPSS v rezoljucijach i rešenijach, čast’ II, S. 889.

15 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 23, S. 93.

16 Matvejčuk/Evdošenko: Istoki gazovoi otrasli, S. 430–440; Khlevniuk: Stalin, S. 93 f.

17 RGAE, f. 4372, op. 92, d. 292, ll. 289–197; ebd., op. 38, d. 993, ll. 107–108.

nung genutzt wurde.18 Mit der angespannten Brennstoffversorgung während des Krieges und der Evakuierung rüstungsrelevanter und gleichsam energiein-tensiver Industriebetriebe in Gebiete jenseits der Volga, die zuvor aus dem nun besetzten Donbass mit Kohle und aus Baku mit Masut versorgt worden waren, änderte sich die Ausgangssituation jedoch grundlegend.

Mit Berijas Unterstützung legte Sedin im April 1942 dem Parteichef erneut ein Teilprojekt dessen vor, was er bereits zwei Jahre zuvor gefordert hatte. Die Intensivierung der Erdgasförderung und der Bau entsprechender Pipelines hätten das Potential, das Brennstoffdefizit in den entsprechenden Regionen zu reduzieren und folglich das Eisenbahnnetz entlasten. Die Volgametropole Kujbyšev – das heutige Samara –, die während der ersten Kriegsmonate zum wichtigen Zentrum der Rüstungsindustrie geworden war, sollte als Erste versorgt werden.19 In Anbetracht des Mangels gelang es, Stalin von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. Bereits im Folgejahr konnten einzelne wichtige Erdgaspipelines in Betrieb genommen werden.20 Befördert durch die ersten Erfolge wurden im April 1943 trotz gravierenden Mangels an Stahlrohren und anderem Equip-ment die intensivierte Nutzung des Energieträgers und der weitere Ausbau der Transportinfrastruktur im Osten des Landes beschlossen. Allein die Förderung sollte binnen Jahresfrist vervierfacht werden. Die Suche nach neuen Gasvor-kommen, zuvor eher zufälliger Beifang der Erdölexploration, wurde zur expli-ziten Aufgabe des Narkomneft’.21 Parallel wurden auch die Bemühungen inten-siviert, aus Erdgas Benzin und andere petrochemische Produkte zu gewinnen.

Die entsprechenden Prozesse waren in Baku bereits seit den 1920er Jahren in einzelnen Raffinerien zur Treibstoffbeimischung angewandt worden. Mit dem unabhängigen Ausbau des Brennstoffes verbanden die Akteure so nicht zuletzt auch Hoffnungen, langfristig sogar über die Industrie hinaus zur Substitution des Erdöls beizutragen.22 Was als auf einzelne Betriebe limitiertes Brennstoff-notversorgungsprojekt begonnen hatte, entwickelte sich zum Plan für den Auf-bau einer regionalen Erdgasindustrie.

18 Dienes/Shabad: Soviet Energy System, S. 69–75.

19 RGASPI, f. 644, op. 2, d. 48, l. 152. Im ursprünglichen Vorschlag Sedins waren größtenteils Regio-nen im Westen der Sowjetunion fokussiert. Aufgrund der militärischen Situation waren diese Teil-projekte nicht umsetzbar. Die Versorgung von Kujbyšev stellte wohl den erfolg versprechendsten Beginn dar: RGAE, f. 4372, op. 92, d. 292, ll. 209–204a.

20 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 36; Elliot: Soviet Energy Balance, S. 14–16; Shabad: Basic In-dustrial Resources, S. 19; Kurjatnikov: Stanovlenie neftjanogo kompleksa, Bd. 1, S. 254.

21 RGASPI, f. 644, op. 2, d. 147, ll. 33–51. Dazu auch Čadaev: Ėkonomika SSSR, S. 181.

22 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 54; Sokolov: Sovetskoe neftjanoe chozjajstvo, S. 256;

Matvejčuk/Evdošenko: Istoki gazovoi otrasli, S. 255–281.

Um die Bemühungen zur Substitution des Erdöls zu intensivieren und gleich-sam unter einem Dach zu vereinen, bewilligte die sowjetische Regierung schon im Juni 1943 die Gründung einer Hauptverwaltung für synthetische Flüssig-brennstoffe und Gase (Glavgaztopprom). Die zuvor den jeweiligen Narkom für Kohle und Erdöl zugeordneten Einzelprojekte wurden auf diese Weise der direkten Aufsicht des Rates der Volkskommissare unterstellt. Die neue Abteilung, deren primäre Aufgabe angesichts der »großen volkswirtschaftlichen und mili-tärischen Bedeutung« der schnellstmögliche Ausbau der synthetischen Treib-stoffgewinnung und der Erdgasförderung sein sollte, war bereits nach kurzer Zeit vom Status her gleichberechtigt mit einem Volkskommissariat und verlieh dem Ausbau der jeweiligen Sektoren neue Impulse.23 In die Erdgasnutzung wur-den große Hoffnungen gesetzt. Planungen für die Energieversorgung der einzel-nen Regioeinzel-nen innerhalb der Sowjetunion, die Ende 1943 von Gosplan gestartet wurden, sahen für das kommende Jahrfünft eine deutliche Steigerung des zuvor marginalen Erdgasanteils in der Brennstoffbilanz vor. Bis 1947 sollte dieser auf über 10 Prozent erhöht werden und besonders den Erdölverbrauch deutlich reduzieren.24 Mit Unterstützung der politischen Führung stieg die Erdgasför-derung in den Kriegsjahren rasant an, wenngleich der Produktionszuwachs in den Statistiken zunächst durch den Niedergang der kaukasischen Erdölindus-trie und der dortigen Beigasgewinnung verschleiert wurde.25

Mit Krieg und Brennstoffmangel als Argumentationshilfen gelang es Sedin als einem der intensivsten Fürsprecher für den Ausbau der Erdgasindustrie zuneh-mend, Stalin von weiteren Projekten zu überzeugen. Eine zuvor noch abgelehnte, 800 Kilometer lange Pipeline zur Anbindung Moskaus wurde im September 1944

»angesichts der besonders wichtigen defensiven und volkswirtschaftlichen Bedeu-tung der Versorgung […] industrieller und ziviler Verbraucher« abgesegnet, auch Saratov sollte zusätzliches Erdgas erhalten. Wenig später folgte der Beschluss zum

23 Postanovlenie SNK SSSR Nr. 670 ot 19.6.1943. Ob organizacii Glavnogo Upravlenija iskusstvennogo židkogo topliva i gaza pri Sovnarkome SSSR, online verfügbar unter: http://www.consultant.ru/

cons/cgi/online.cgi?req=doc;base=ESU;n=35341 [06.04.2017]; CIA FOIA ERR ORE 24–49: The USSR Petroleum Industry, S. 16.

24 RGAE, f. 4372, op. 44, d. 154, insbesondere ll. 1–2.

25 Etwa in Elliot: Soviet Energy Balance, S. 38. Ohne die Beigasgewinnung im Kaukasus sank die Erdgasproduktion im ersten Kriegsjahr zwar ebenfalls. Grund dafür war jedoch der Verlust der westukrainischen und ehemals ostpolnischen Gasindustrie. Im Osten stieg die Produktion hingegen massiv an. Vgl. GARF, f. R5446, op. 50a, d. 5011, ll. 29–27; ebd., op. 46a, d. 1057, l. 96;

Lyndolph/Shabad: Oil and Gas Industries, S. 470.

Bau einer entsprechenden Anbindung von Kiev.26 Besonders den Bauabschnitt zwischen Saratov und Moskau verfolgte Stalin detailliert und kritisierte die lang-samen Fortschritte des Prestigeprojektes, nachdem »über diese Gasleitung viel Lärm in der ganzen Welt gemacht« worden sei. Wenngleich mangelnde Erfah-rung im Erdgassegment und fehlende Ausrüstung wohl einen wesentlichen Anteil an den Schwierigkeiten beim Bau hatten, erhielt Berija im Dezember 1945 den Auftrag, die Inbetriebnahme zu beschleunigen.27 Ein gutes Jahr später erfolgte schließlich die Fertigstellung der ersten großen Gaspipeline der Sowjetunion.28

Rückkehr zu alten Präferenzen

Das Kriegsende bedeutete ein vorläufiges Ende der Erdgaseuphorie. Die Erho-lung des Kohlebergbaus ermöglichte die Rückbesinnung auf alte technologi-sche Vorlieben. Wenngleich das Erdgas nicht völlig vernachlässigt wurde, sollte bereits im ersten Nachkriegsfünfjahresplan ein Drittel der zusätzlichen Produk-tion durch die Gasifizierung fester Brennstoffe hinzugewonnen werden, obwohl die Kosten – ähnlich wie bei synthetischen Treibstoffen – wesentlich höher waren. Das Regionalitätsprinzip wurde auch hier zum entscheidenden Faktor.

Lange Pipelines sollten die Ausnahme bleiben. Für Minsk, Leningrad, Novosi-birsk und andere Städte war bis 1950 eine Gasifizierung auf Basis von lokalen Braunkohle- und Torfvorkommen eingeplant und auch der zusätzliche Bedarf Moskaus sollte auf diese Art gedeckt werden.29 Ende 1948 wurden die entspre-chenden Produktionsstätten wieder dem Erdölministerium zugesprochen, die Zeit des unabhängigen Glavgastopprom war vorüber. Der unmittelbare zeitli-che Kontext der erneuten Eingliederung und Unterordnung des Erdgassektors mit dem groben Abschluss des Wiederaufbaus in zahlreichen Industriezweigen hebt gleichsam die nur vorrübergehende Priorität des Energieträgers hervor.30

26 Rešenija po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, S. 207–213, Zitat S. 207. Das besondere Enga-gement Sedins für die Erdgasindustrie zeigt sich insbesondere auch darin, dass er selbst, nach-dem er 1944 in Ungnade gefallen war, weiter auf den Ausbau drängte, siehe dazu Högselius:

Red Gas, S. 13 f.

27 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 68 f. Zu den Defiziten im Erdgassektor, welche durch Lend-Lease- Lieferungen nicht ausgeglichen werden konnten: Shimkin: Minerals, S. 203; Owen: Trek of the Oil Finders, S. 1366 f.

28 GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1466, l. 19.

29 GARF, f. R5446, op. 50a, d. 5011, ll. 5–3. Siehe auch die vergleichsweise frühen Vermutungen diesbezüglich von Robert Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 197 f.

30 GARF, f. R5446, op. 50a, d. 1053, ll. 22–18. Zum Stand des Wiederaufbaus etwa Gorlizki/

Khlevniuk: Cold Peace, S. 69 f.

Die institutionelle Bündelung des Erdgassektors mit dem Ausbau der Kapa-zitäten zur Produktion synthetischen Benzins hatte bereits angedeutet, welche Rolle die sowjetische Führung dem Industriezweig zugedacht hatte: Im Erd-gas wurde vor allem eine vielversprechende Möglichkeit gesehen, den zivilen Erdöl- und Brennholzverbrauch zu reduzieren. Wie Mikojan in seinen Memoi-ren berichtet, setzte sich primär Stalin dafür ein, dass natürliches wie syntheti-sches Gas in den Städten nahezu ausschließlich für Haushaltszwecke eingesetzt wurde, nur in ausgewählten Ausnahmefällen ließ er sich von anderen Nutzungs-möglichkeiten überzeugen. In der Industrie und vor allem in den Kraftwerken des Landes, die während des Zweiten Weltkrieges temporär auf Erdgas umge-rüstet worden waren, sollten die festen Brennstoffe langfristig auf keinen Fall von der flüchtigen Konkurrenz verdrängt werden.31

Die regionalen Partei- und Wirtschaftskader hatten allerdings andere Priori-täten. Der Ausbau der städtischen Gasnetze und die Gasifizierung der Haushalte machten nur langsam Fortschritte, den Wiederaufbau der restlichen Wirtschaft und die Stabilisierung der Stromversorgung erachteten die Verantwortlichen vor Ort als wichtiger. Das vorhandene – und mangels ziviler Abnehmer über-schüssige – Erdgas setzten sie ein, um die Defizite, welche sich häufig durch regionalen Brennstoffmangel verschärften, in den Griff zu bekommen. Ende der 1940er Jahre standen besonders Saratov und Kiev in der Kritik, das Gas »falsch«

zu verwenden. Kontrollen wurden durchgeführt, um den von Stalin präferierten Verwendungszweck zu gewährleisten. Die Pläne zur Gasversorgung der Städte wurden dem ›richtigen‹ Verbrauch angepasst und nach unten korrigiert. Im Frühjahr 1949 beauftragte der Ministerrat (Sovet Ministrov, Sovmin) schließ-lich Kaganovič, sich der Sache anzunehmen. Sein Fazit, dass die sowjetischen Städte »nicht vorbereitet sind auf eine größere Abnahme von Gas für den Haus-haltsbedarf« und an einer Steigerung der Zufuhr entsprechend »kein Bedarf«

herrsche, dämpfte die Hoffnung der Erdgasbefürworter wohl zusätzlich.32 Das im Spätstalinismus weiterhin geltende Primat der Schwerindustrie und die gleichzeitige Unterordnung ziviler Belange zugunsten des Wiederaufbaus und der militärischen Aufrüstung standen im deutlichen Konflikt zu Stalins Vision von einem eingeschränkt einsetzbaren Haushaltsbrennstoff. Neben der dominanten Kohle, der imposanten Wasserkraft und dem schwer verzichtbaren

31 Mikojan: Tak bylo, S. 525 f.; zur Umsetzung dieser Vorstellungen auch GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1234, l. 150.

32 GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1247, ll. 37–36 sowie 15–14. Dennoch gelang es der sowjetischen Führung auf diese Weise, den zivilen Erdölverbrauch nach dem Krieg niedrig zu halten, vgl.

Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 159.

Erdöl blieb unter diesen Paradigmen kein Platz für eine zusätzliche Energie-quelle von nationaler Bedeutung. Die Produktionssteigerung geriet Ende der 1940er Jahre ins Stocken und erhielt bis zu Stalins Tod keine neuen Impulse.

Erdöl blieb unter diesen Paradigmen kein Platz für eine zusätzliche Energie-quelle von nationaler Bedeutung. Die Produktionssteigerung geriet Ende der 1940er Jahre ins Stocken und erhielt bis zu Stalins Tod keine neuen Impulse.