• Keine Ergebnisse gefunden

Das Zarenreich galt am Vorabend seines Niedergangs innerhalb Europas als rückständig und lag in seinen Industrialisierungsbemühungen deutlich hinter anderen Großmächten zurück. In mancher Perspektive markierte die Okto-berrevolution jedoch keineswegs eine solch umfassende Zäsur in der histori-schen und insbesondere industriellen Entwicklung des Landes, wie die späteren Führer und Denker des Sowjetstaates stets proklamierten. Mithilfe primär aus-ländischer Investitionen hatten die Reichen und Mächtigen des Landes bereits unentwegt an der Forcierung des wirtschaftlichen Aufschwungs gearbeitet.3 Die Trans sibirische Eisenbahn war als Großprojekt von für diese Zeit gewaltigem Ausmaß bereits zur Jahrhundertwende fertiggestellt, und zahlreiche weitere technologische Neuerungen, wie etwa die großflächige Elektrifizierung, die spä-ter zu einem wesentlichen Leitmotiv der bolschewistischen Herrschaft werden sollte, wurden rege diskutiert. Ein umfassendes Elektrifizierungsprogramm war letztlich zwar an mangelnden finanziellen Möglichkeiten oder entsprechenden Prioritäten vonseiten der zaristischen Regierung gescheitert. Wichtige

indus-3 Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren (Ordnungssysteme 11), München 2002, S. 57 f.; Haumann, Heiko: Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjet russlands 1917–1921 (Studien zur modernen Geschichte 15), Düsseldorf 1974, S. 13–21.

Zur vermeintlichen Rückständigkeit: Gregory, Paul R.: The Political Economy of Stalinism.

Evidence from the Soviet Secret Archives, Cambridge et al. 2004, S. 24–26.

trielle Zentren des Landes – in erster Linie Moskau, St. Petersburg und Baku – konnten jedoch bereits weitreichende Fortschritte aufweisen.4

In einigen Aspekten war die Energiewirtschaft des späten Zarenreiches in ihrer Struktur sogar einzigartig und, aus heutiger Perspektive betrachtet, ihrer Zeit sogar weit voraus: Wenngleich die russischen Städte auf dem Gebiet der Industrialisierung und Elektrifizierung mit vielen westlichen Metropolen nicht mithalten konnten, war das russische Imperium um die Jahrhundertwende nicht nur der größte Erdölproduzent der Welt, sondern gleichzeitig auch der größte Verbraucher.5 Nicht nur die Eisenbahn, auch die energieintensive Wirtschaft und zahlreiche Kraftwerke des Landes wurden mit Masut, einer Heizölart befeuert.

Aufgrund der oberflächennahen Beschaffenheit der kaukasischen Ölfelder und der fehlenden Effizienz im russischen Bergbau war dieses wesentlich günstiger als Kohle, die überdies mangels geeigneter Transportinfrastruktur oftmals aus England importiert werden musste.6 Selbst die russische Marine experimen-tierte früh mit dem flüssigen Brennstoff und stellte den Antrieb der Flotten im Kaspischen Meer und auf der Volga bereits in den 1870er Jahren auf Erdöl um.

Trotz positiver Erfahrungen verzichtete die Admiralität auf eine vollständige Umrüstung, weil der als fortschrittlicher wahrgenommene Westen damals wei-ter auf Kohlebriketts als Schiffstreibstoff setzte.7

Im ausgehenden 19. Jahrhundert, als alle anderen Großmächte fast aus-schließlich auf den auch in Westeuropa reichlich vorhandenen festen Brenn-stoff zurückgriffen, um die Industrialisierung anzuheizen, stand die entstehende moderne Wirtschaft des Zarenreiches zu weiten Teilen unter dem Primat des Erdöls: Über 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs des Landes wurden

4 Coopersmith, Jonathan: The Electrification of Russia, 1880–1926, Ithaca NY et al. 1992, S. 42–98.

5 Etemad, Bouda/Luciani, Jean (Hg.): World Energy Production, 1800–1985. Production mondiale d’énergie, 1800–1985 (Publications du Centre d’histoire économique internatio-nale de l’Université de Genève 7), Genève 1991, S. 205–207.

6 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 17; Tolf, Robert W.: The Russian Rocke-fellers. The Saga of the Nobel Family and the Russian Oil Industry (Hoover-Institution- Publication 158), Stanford CA 1976, S. 69–71. Zur weitgehenden erdölbefeuerten Eisenbahn des Zarenreichs D’jakonova, Irina A.: Neft’ i ugol’ v ėnergetike carskoj Rossii v meždunarodnych sopostavlenijach (Ėkonomičeskaja istorija Dokumenty, issledovanija, perevody), Moskva 1999, S. 106–109.

7 Tolf: Russian Rockefellers, S. 69; S. 120–123. Aufgrund dieser zögerlichen Haltung und der späteren Abkehr der Bolschewiki vom Erdöl als Brennstoff, auf die noch einzugehen sein wird, wird heute meist die britische Flotte als diejenige dargestellt, welche als erste auf Erdöl setzte, so etwa in Maugeri: Age of Oil, S. 19–32.

durch die weitaus effizientere Verbrennung von Masut gedeckt.8 Die Fokussie-rung auf flüssige Brennstoffe brachte jedoch nicht nur Vorteile: Während das günstige Erdöl einerseits als willkommene Alternative zur teureren Kohle gese-hen wurde, stand es andererseits der fortschreitenden Elektrifizierung deutlich im Wege. Selbst dort, wo elektrisches Licht möglich gewesen wäre, verzichte-ten die poverzichte-tentiellen Konsumenverzichte-ten und selbst die Stadtverwaltungen noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges weitgehend auf die Vorzüge der Elektrizität.

Die klassische Petroleumlampe war, solange der Nachschub an preiswertem Brennstoff nicht versiegte, nicht nur in ihrer Anschaffung wesentlich günstiger als ihr moderner Konkurrent.9

Den stetigen Zufluss verdankte die russische Führung in erster Linie den Erd-ölfeldern von Baku am Kaspischen Meer, wo schon im 16. Jahrhundert das erste

›schwarze Gold‹ gefördert wurde. Wenngleich zu hinterfragen ist, inwieweit der Erdölreichtum Bakus bereits ein Motiv des russischen Zaren für die Annexion Aserbaidschans während des Persisch-Russischen Krieges zu Beginn des 19. Jahr-hunderts war,10 so gilt Baku heute unter Fachleuten als »der Ort, an dem [1846]

das moderne Ölzeitalter begann«11 – beinahe 15 Jahre, bevor auch in den USA mittels industrieller Förder- und Verarbeitungsmethoden die großflächige Jagd auf das ›schwarze Gold‹ eingeleitet wurde. Nachdem in den 1870er Jahren wichtige Steuerreformen durchgeführt und zahlreiche Investitions anreize geschaffen wor-den waren, um ausländisches Kapital in die Region zu holen und wor-den zwischen-zeitlichen Rückstand gegenüber der amerikanischen Förderindustrie zu verringern, waren dem Aufstieg der Erdölwirtschaft in Baku kaum noch Grenzen gesetzt.12

Allen voran die aus Schweden stammenden Brüder Robert und Ludvig Nobel, aber auch andere vorwiegend westliche Investoren brachten Personal und

8 Mitchell, Timothy: Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London et al.

2013, S. 34. Umfassend zur Energiebilanz des Zarenreichs: D’jakonova: Neft’ i ugol’.

9 Coopersmith: Electrification, S. 44 f.

10 Diese These vertritt zumindest Gökay, Bülent: The Background: History and Political Change, in: Bülent Gökay (Hg.): The Politics of Caspian Oil, Houndmills et al. 2001, S. 1–19, hier S. 4.

Dagegen spricht etwa, dass der Zar erst nach der Eroberung Bakus seine Kommission dorthin entsandte, um die Eigenschaften des vorgefundenen Rohstoffs zu untersuchen, dazu Hohensee, Jens: Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (Histo rische Mitteilungen: Beiheft 17), Stuttgart 1996, S. 10 f.

11 Smil: Energy Transitions, S. 33 f.

12 Alekperov: Oil of Russia, S. 79 f., S. 94 f.; siehe auch Bachtizin, et al.: Neftjanoj Faktor, S. 15–

17. Die gesetzlichen Neuerungen betrafen zwar nicht alle ausschließlich die Erdölindustrie, sondern sollten in Teilen auch die Industrialisierung im ganzen Land forcieren, waren jedoch von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der kaukasischen Ölfelder.

nisches Knowhow in die Region, schufen die notwendigen Infrastrukturen und beförderten durch zahlreiche Innovationen die Konkurrenzfähigkeit der dor-tigen Betriebe. Binnen zweier Jahrzehnte stieg das Zarenreich zum größten Erdöl produzenten der Welt auf; auf engstem Raum wurde aus den Erdöl feldern am Kaspischen Meer über die Hälfte der globalen Produktion extrahiert.13 Die einstige Provinzstadt Baku wuchs zu einer der größten und am rasantesten expandierenden Städte des späten Zarenreiches an, wurde ein primäres Ziel ausländischer Investitionen, zum Vorreiter in der industriellen Elektrifizierung und verantwortete knapp 10 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung – fast ausschließlich auf Basis der florierenden Erdölindustrie.14 Die Bedeutung des

›schwarzen Goldes‹ für das späte Zarenreich zeigte sich auch in zahlreichen offi-ziellen Besuchen hochrangiger Vertreter der Monarchie auf den Ölfeldern oder in den modernen Raffinerien insbesondere der Gebrüder Nobel, unter denen sich auch Zar Alexander III. befand.15

Das besondere Interesse der russischen Regierung am Erdöl resultierte dabei nicht allein aus der Bedeutung des Masuts für den Binnenmarkt. Selbst in dem für den russländischen Bedarf äußerst günstigen Mischverhältnis des kauka-sischen Erdöls ließen sich nicht mehr als 70 Prozent des begehrten Heizöls gewinnen. Insbesondere an den leichten Treibstofffraktionen, aus denen neben Lampenöl auch Schmiermittel und in den USA mit der Verbreitung des Auto-mobils zusehends Benzin und Diesel gewonnen wurden, herrschte im Zaren-reich mangels potentieller Nutzer kaum Bedarf.16 Das Erdöl oder zu dieser Zeit in erster Linie raffinierte Leichtbenzine wurden zu einem wesentlichen Bestand-teil russischer Exporte und sollten so zusätzliches Kapital ins Land bringen.

Bis dahin wurden die Industrialisierung des Landes und der dafür notwen-dige Ankauf von Technologie und Maschinen mit dem Export von Getreide und Holz finanziert, das ›schwarze Gold‹ sollte nun nach dem Willen des Zaren

13 Dazu umfassend Tolf: Russian Rockefellers; siehe auch Travin, Dmitry/Marganiya, Otar:

Resource Curse: Rethinking the Soviet Experience, in: Vladimir Gel’man/Otar Marganiya (Hg.): Resource Curse and post-Soviet Eurasia. Oil, Gas and Modernization, Lanham MD 2010, S. 23–47, hier S. 23–25.

14 Davies, Robert W.: Soviet Economic Development from Lenin to Khrushchev (New stud-ies in economic and social history 34), Cambridge 1998, S. 14 f.; Bachtizin, et al.: Neftjanoj Faktor, S. 40 f. Umfassend zur Entwicklung vor Ort: Ibragimov: Neftjanaja promyšlennost’;

zur Elektrifizierung siehe Coopersmith: Electrification, S. 58.

15 Tolf: Russian Rockefellers, S. 113. Die Gebrüder Nobel kontrollierten zu dieser Zeit nicht nur einen Großteil der russländischen Förderung, sondern dadurch insgesamt auch knapp 10 Prozent der globalen Erdölproduktion, vgl. Travin/Marganiya: Resource Curse, S. 25.

16 Bachtizin, et al.: Neftjanoj Faktor, S. 44 f. Zum russländischen Verbrauch vor dem Ersten Weltkrieg Lisičkin: Očerki razvitija, S. 200.

und seiner Regierung zusätzliche Mittel in Form von Lizenzgebühren akqui-rieren.17 Doch mit dem rasanten Wachstum des Wirtschaftszweiges und den steigenden Profiten mehrten sich um die Jahrhundertwende auch die Probleme, ähnlich wie in vielen anderen europäischen Industriegebieten zu dieser Zeit.

Überall im Zarenreich kam es, befördert durch die beschleunigte Industrialisie-rung und die größer werdende Ungleichheit, zu sozialen Spannungen.18 In der kaukasischen Erdölindustrie und insbesondere in Baku konzentrierte sich eine wachsende und ethnisch bunt gemischte Arbeiterschaft nicht nur auf engstem Raum, sondern auch in Sichtnähe zu den Reichtümern, welche das ›schwarze Gold‹ mit sich brachte.19

Das 20. Jahrhundert begann in der Region, wie überall im Land, mit zahlrei-chen Streiks und Demonstrationen, die schließlich zu regelrechten Aufständen und ab 1903 zu landesweiten Generalstreiks führten. Die aufgebrachten Arbeiter hinterließen in Baku eine Spur der Verwüstung – zahlreiche Fördertürme wur-den beschädigt oder zerstört, Büros und Wohnungen geplündert und niederge-brannt, vereinzelt fielen Fachkräfte und Unternehmer der wütenden Arbeiter-schaft zum Opfer.20 Doch anders als in der sowjetischen Geschichtsschreibung hervorgehoben, hatten die Arbeiterbewegung und auch die Bolschewiki im Kaukasus allgemein einen schweren Stand. Die muslimische Bevölkerungs-mehrheit, wenngleich in der Arbeiterschaft im Erdölsektor unterdurchschnitt-lich vertreten, engagierte sich kaum in diesem Bereich und beteiligte sich nur in Ausnahmefällen an Streiks, um einzelne, ganz spezifische Forderungen wie

17 Bis zu 40 Prozent der Erdöleinnahmen flossen zur Jahrhundertwende in die Staatskasse, weit mehr als in anderen Ländern. Eine derart hohe Abgabe war in Russland notwendig, um das für die Industrialisierung dringend benötigte Kapital im Land zu halten. Zahlreiche westliche Investoren hatten in erster Linie eine schnelle Rendite im Sinn und so floss zu Beginn der rus-sischen Exporte ein überwiegender Teil der Gewinne unmittelbar wieder ins Ausland, dazu Goldman: Enigma of Soviet Petroleum, S. 20; Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 45. Zur Aussenhandelsbilanz des Zarenreiches und dem Export von Holz und Getreide im Austausch gegen moderne Technologie siehe Sanchez-Sibony, Oscar: Depression Stalinism.

The Great Break Reconsidered, in: Kritika 15 (2014) 1, S. 23–49, hier S. 28 f. Zur Jahrhundert-wende hatte das Erdöl einen Wertanteil von 7 Prozent an den russischen Gesamtausfuhren, vgl. Goldman: Petrostate, S. 24.

18 Davies: Soviet Economic Development, S. 14 f.

19 Grünewald, Jörn: Die Ethnisierung des Proletariats. Arbeiter in der Ölindustrie Bakus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Tanja Penter (Hg.): Sowjetische Bergleute und Indus-triearbeiter. Neue Forschungen (= Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen. For-schungen und Forschungsberichte 37 (2007) 1), Essen 2007, S. 31–50, hier S. 34.

20 Travin/Marganiya: Resource Curse, S. 26.

höhere Löhne zu unterstützen.21 Gleichzeitig zählten die Arbeiter in der Erdöl-industrie nicht nur im innerrussischen, sondern auch im internationalen Ver-gleich zu den Besserverdienern.22 Sie konnten ihre sozialen Forderungen auch aufgrund der hohen Profite in der Erdölbranche durch kurze Arbeitsnieder-legungen meist vergleichsweise schnell durchsetzen, weshalb die bestehende Ordnung an sich nicht umfassend in Frage gestellt wurde. Noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges hatten sich die meisten sozialrevolutionären Parteien im Kaukasus bereits aufgelöst und ihre Arbeit eingestellt.23

Mit den sozialen bis sozialrevolutionären Konflikten, die das ganze Land betrafen und in der Revolution von 1905 ihren vorübergehenden Höhepunkt fanden, zeigten sich in der Region am Kaspischen Meer jedoch zunehmend auch ethnisch-religiöse Differenzen innerhalb der Arbeiterschaft. So standen nicht nur die ungelernten und vorwiegend armenischen, aserbaidschanischen und persischen Hilfsarbeiter mit den größtenteils gut ausgebildeten russischen Facharbeitern im Konflikt, sondern zugleich die christlichen Armenier mit den heimischen oder zugewanderten Muslimen, die als besonders »rückständig« gal-ten.24 Während die Neftjaniki sich am Vorabend der ersten Russischen Revo-lution nach zahlreichen Streiks und zähen Verhandlungen mit den Unterneh-mern auf den ersten Tarifvertrag des Zarenreiches geeinigt hatten, der ihnen weitreichende Zugeständnisse und Lohnerhöhungen gewährte, waren es 1905 vorwiegend interethnische Konflikte, welche die Gewalt eskalieren ließen.25

Befördert durch eine fehlgeleitete Nationalitätenpolitik der Regionalbehör-den kam es über das Jahr verteilt zu zahlreichen bewaffneten Pogromen zwi-schen Muslimen und armenizwi-schen Christen, die nicht nur unzähligen Beteilig-ten wie UnbeteiligBeteilig-ten das Leben kosteBeteilig-ten, sondern auch gewaltige Zerstörungen und die massenhafte Flucht armenischer und russischer Arbeitskräfte zur Folge hatten.26 Während der Staatsapparat passiv blieb in der Hoffnung, die ethnischen Konflikte würden die gut organisierte armenische Arbeiterschaft von weiteren

21 Grünewald: Ethnisierung, S. 38 f. Zur sowjetischen Interpretation, die sämtliche Konflikte in Baku als Ausdruck revolutionärer Auflehnung deutet und im Kaukasus gemeinhin eine Keimzelle des Bolschewismus verortet, siehe unter anderem Safranov: Stanovlenie.

22 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 23.

23 Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 94–96.

24 Grünewald: Ethnisierung, S. 37.

25 Zu diesem Schluss kommt relativ übereinstimmend die neuere Forschung, unter anderem Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 20; umfassend auch Baberowski: Stali-nismus im Kaukasus, S. 57–83. Zu den Errungenschaften des Tarifvertrages Alekperov: Oil of Russia, S. 134 f.

26 Baberowski: Stalinismus im Kaukasus, S. 77–83.

Streiks und Aufständen abhalten, versank die aserbaidschanische Wirtschaft vollends im Chaos. Nationalistische wie revolutionäre Kräfte bemühten sich, die aufgebrachten Massen für ihre Zwecke einzuspannen und heizten die Situation weiter auf, bis schließlich die Ölfelder brannten.27 Als die zaristische Regierung eingriff und die Ordnung gewaltsam wiederherstellte, waren infolge der Feuer knapp 60 Prozent der Bohrlöcher außer Betrieb oder weitgehend unbrauchbar, zahlreiche Förderanlagen waren irreparabel beschädigt.28

Obwohl sich die Situation in der Folgezeit wieder beruhigte und sich Unter-nehmen wie Arbeiter dem Wiederaufbau widmeten, gestaltete sich die Regene-ration der Erdölwirtschaft äußerst mühsam. Auch unabhängig der Zerstörungen ergab sich eine Vielzahl an Problemen, welche die Situation weiter verschärf-ten. Der Druck, mit dem zuvor das Erdöl in Baku nahezu mühelos an die Erd-oberfläche gesprudelt war, ließ in zahlreichen Bohrlöchern nach und verkom-plizierte die Förderung. Die Erschließung zusätzlicher Lagerstätten scheiterte zugleich, nicht zuletzt weil sich Regierung und Erdölwirtschaft über die Kon-ditionen und die Höhe der Lizenzgebühren nicht einigen konnten.29 Lediglich mithilfe umfangreicher neuer Funde bei Groznyj und Majkop im Nordkaukasus, mit deren Förderung bereits um die Jahrhundertwende begonnen worden war, konnte zumindest das alte Produktionsniveau wieder erreicht werden. Den-noch waren die Kosten für das Erdöl am Vorabend des Ersten Weltkrieges deut-lich gestiegen. Immer höhere Löhne, die im internationalen Vergleich hohen Lizenzgebühren und Abgaben, der Wiederaufbau und nicht zuletzt die teurer werdende Förderung selbst ließen die zuvor noch hohen Gewinnmargen ein-brechen. Gleichzeitig nutzte insbesondere die amerikanische Konkurrenz die temporäre Schwäche der russischen Unternehmen, um deren lukrative Export-märkte in Europa und Asien zu übernehmen – was die Umsätze weiter schmä-lerte.30 Kurzfristige Preiserhöhungen auf Masut, welche die Verluste kompen-sieren sollten, hatten jedoch nur den Umstieg einzelner Großverbraucher vom Erdöl auf die nun konkurrenzfähigere Kohle zur Folge.31

Der daraus resultierende Versuch, Kosten bei der Produktion zu sparen, hatte gravierende Konsequenzen. Die großen Unternehmen und insbesondere die Brüder Nobel bemühten sich, ihre Marktanteile im Land zu vergrößern und kauften Konkurrenten auf, reduzierten gleichzeitig aber ihre Investitionen in

27 Yergin: Prize, S. 114 f.; Mitchell: Carbon Democracy, S. 35.

28 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 22.

29 Alekperov: Oil of Russia, S. 144–149.

30 Tolf: Russian Rockefellers, S. 182 f.

31 Coopersmith: Electrification, S. 63 f.

die Forschung und die Erschließung neuer Vorkommen.32 Die russische Erdöl-wirtschaft, die zur Jahrhundertwende noch ein innovativer technologischer Vorreiter und von der Konkurrenz vielfach kopiertes Vorbild gewesen war, ver-fiel zusehends in eine vollumfängliche Stagnation.33 Nachdem die Förderung sich zunächst wieder auf dem Niveau der Jahrhundertwende stabilisiert hatte, sank sie in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wieder ab. Der Anteil des russischen Erdöls an der globalen Produktion schrumpfte so zusehends in sich zusammen, von über der Hälfte um die Jahrhundertwende auf nur noch knapp über 15 Prozent.34

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs machte sich bereits ein umfassender Brennstoffmangel im Land bemerkbar, der zwar auch die Kohle betraf, primär aber die flüssigen Brennstoffe Masut und Lampenöl. Die Preise für Energie träger stiegen infolge der Verknappung deutlich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Kohle wurde im Verhältnis zum auch global rarer werdenden Erdöl immer günstiger und verdrängte schrittweise gemeinsam mit anderen festen Brennstoffen das Masut im russländischen Energiemix.35 Ohnehin begannen zu dieser Zeit zahlreiche Vordenker, die vorherrschende Nutzung des Rohstoffes angesichts neuer Optionen und vor allem der voranschreitenden Entwicklun-gen von motorisierten FahrzeuEntwicklun-gen zu hinterfraEntwicklun-gen. Verschiedene Regierungs-mitglieder kamen zu der Überzeugung, dass das Erdöl zu wertvoll sei, um es als Brennstoff zu verfeuern, und protegierten stattdessen die Intensivierung der Kohlenutzung. Ein solcher Paradigmenwechsel der staatlichen Politik, dessen Behörden und Betriebe in dieser Zeit mit Abstand den größten Verbrauch ver-antworteten, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Brennstoffindustrie. Während die westlichen Großmächte begannen, die Vorzüge des energieintensiven Heizöls zu erkennen, und etwa Großbritannien seine Flotte auf den Flüssigtreibstoff umrüstete, sinnierten führende Vertreter des Zarenreiches über eine Abkehr vom ebendiesem.36

Der Krieg verkomplizierte die ohnehin angespannte Brennstoffversor-gung im Zarenreich weiter. Zwar wurden die Erdölexporte nun vollends ein-gestellt und die kaukasische Erdölindustrie gänzlich in den Dienst des Staa-tes gestellt. Doch angesichts der geringen Vorkriegsexporte und des Mangels

32 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 26; Tolf: Russian Rockefellers, S. 192.

33 Tolf: Russian Rockefellers, S. 193.

34 Mautner, Wilhelm: Der Kampf um und gegen das russische Erdöl, Wien et al. 1929, S. 4 f.

35 Coopersmith: Electrification, S. 79 f.

36 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1917–1920), S. 35–37; Bachtizin, et al.: Neftjanoj Faktor, S. 36 f.

insbesondere an Masut, welches nie ausgeführt worden war, konnte dieser Entscheid die prekäre Situation kaum verbessern.37 Der Entschluss der Regie-rung, einen Großteil der Kohle- und Erdölarbeiter für die Front zu rekrutie-ren, beförderte die Schwierigkeiten zusätzlich. Im dominierenden Kohlerevier, dem Donbass, wurden etwa zwei Drittel der Bergleute an die Front beordert, im Kaukasus verpflichtete der Staat rund 30 Prozent der Neftjaniki zum Mili-tärdienst. Primär waren es die russischen Fachkräfte und die Armenier, die eingezogen und durch ungelernte, meist muslimische Arbeitskräfte aus der Region ersetzt wurden.38

Der Fachkräfte- und Materialmangel wirkte sich rasch auf den laufenden Betrieb aus. Wenngleich die Erdölförderung in den ersten beiden Kriegs jahren unter dem Druck der Regierung noch leicht gesteigert werden konnte, so geschah

Der Fachkräfte- und Materialmangel wirkte sich rasch auf den laufenden Betrieb aus. Wenngleich die Erdölförderung in den ersten beiden Kriegs jahren unter dem Druck der Regierung noch leicht gesteigert werden konnte, so geschah