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Amerikanische Technologie, sowjetisches Erdöl?

Anders als im zurückliegenden Krieg gegen das nationalsozialistische Deutsch-land war die Sowjetunion im Jahr 1947 im Angesicht der zunehmenden Span-nungen international weitgehend isoliert. Ihre Machtposition in Osteuropa war noch nicht vollends ausgebaut, während die sowjetische Wirtschaft sich mit Ausnahme einzelner Sektoren nach wie vor in einem desolaten Zustand befand. Auch die technologische und militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten war in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges in Hiroshima und Nagasaki erneut überdeutlich geworden, wenngleich das sowjetische Nuklear-programm erste Fortschritte vermelden konnte.103 Der aus Moskau als ameri-kanisches Diktat verdammte Marshall-Plan und die auf die Eindämmung des sowjetischen Einflusses ausgerichtete Truman-Doktrin ließen am Bruch der einstigen Alliierten keinen Zweifel mehr zu.104 Die politischen Differenzen über-schatteten auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, welche in den Kriegsjahren primär als Material- und Ausrüstungstransfer aus den Vereinigten Staaten nach Großbritannien und in die Sowjetunion etabliert worden war. Diese waren im Verlauf des Krieges zu einem wichtigen Standbein der sowjetischen Wirtschaft geworden.

101 GARF, f. R5446, op. 49a, d. 829, l. 169. Der Brief ist unterzeichnet von Berija, Bajbakov und Michail Evseenko, dem nach Bajbakov ranghöchsten Neftjanik in den späten 1940er und 1950er Jahren und zu dieser Zeit Minister für die Erdölindustrie in den östlichen Regionen der UdSSR.

102 So in Djilas, Milovan: Gespräche mit Stalin, Frankfurt am Main 1962, S. 230.

103 Zum langsamen Ausbau der sowjetischen Kontrolle in Osteuropa Naimark, Norman: The Sovietization of Eastern Europe, 1944–1953, in: Leffler/Westad (Hg.): Cambridge History of Cold War: Vol. I, S. 175–197; zum sowjetischen Atomprogramm umfassend Holloway, David: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy, 1939–1956, New Haven CT 1994; Josephson: Red Atom.

104 Mastny: Cold War and Soviet Insecurity, S. 25–29.

Bereits im Februar 1941 hatte der US-Kongress den amerikanischen Präsi-denten durch den Lend-Lease-Act bevollmächtigt, verbündete Staaten in ihrem Krieg gegen das Deutsche Reich zu unterstützen und somit auch »die Verteidi-gung der Vereinigten Staaten zu fördern«, ohne selbst militärisch in den Krieg eingreifen zu müssen.105 Primärer Nutznießer war in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges die britische Kriegswirtschaft. Der durch den deutschen Bruch des Nichtangriffspaktes herbeigeführte gemeinsame Feind beförderte im Sommer 1941 die Erweiterung der amerikanischen Unter stützung auf die Sow-jetunion. Nachdem sich die Regierungen in London und Washington davon überzeugt hatten, dass Rote Armee und Moskauer Führung nicht wie befürch-tet binnen weniger Wochen kapitulieren oder zusammen brechen würden, wur-den die Verhandlungen aufgenommen. Zugleich veranlassten die zuständigen Stellen bereits erste Lieferungen der besonders dringend benötigten Waren.106

Die insgesamt rund 17 Millionen Tonnen an Hilfsgütern für die Sowjet-union, von denen nur ein kleiner Teil Waffen und Munition umfasste, kumulier-ten sich während der Kriegsjahre auf einen Anteil von rund 10 Prozent an der sowjetischen Wirtschaftsleistung.107 Zweifellos entlasteten die Treibstoff- und Ressourcen lieferungen, die bereits wenige Wochen nach dem deutschen Angriff und noch vor der endgültigen Unterzeichnung des Lend-Lease-Abkommens im Oktober 1941 in die Sowjetunion geschickt wurden, die Versorgungslage der Roten Armee. Obwohl es den sowjetischen Streitkräften im ersten Kriegsjahr weniger an Ausrüstung und Material, sondern vielmehr an strategischer Führung

105 Das als Lend-Lease-Act bekanntgewordene Gesetz, offiziell An Act to Promote the Defense of the United States, trat am 11.03.1941 in Kraft. Es gestattete dem Präsidenten, jeder Regierung, deren Verteidigung er für den Schutz der USA als unabdingbar erachtete, rüstungsrelevante Ausrüstung zu leihen, vermieten, verkaufen oder zu überschreiben: Public Law 77–11, H.R.

1776, 55 Statute, S. 31–33.

106 Jones, Robert H.: The Roads to Russia. United States Lend-Lease to the Soviet Union, Norman 1969, S. 33–69; Gellately: Stalin’s Curse, S. 62 f.; zur Perspektive aus den russischen Archi-ven auch Mozochin, O. B./Naumenko, G. I./Šepelev, V. N.: »SSSR budet okazana vsjačeskaja pomošč’ v toj bor’be, kotoruju on vedet«. Dokumenty AP RF i RGASPI. Ijul’ – nojabr’ 1941 g., in: Istoričeskij archiv 21 (2013) 5, S. 4–40.

107 Die UdSSR hatte den Anteil der westlichen Hilfslieferungen an der Kriegswirtschaft der UdSSR mit 4 Prozent wiedergegeben, was von Mark Harrison nach Öffnung der sowjetischen Archi-ve wiederlegt werden konnte: Harrison: Accounting for War, S. 132–142. Andere kalkulie-ren aufgrund der höhekalkulie-ren Qualität der US-Produkte sogar mit einem deutlich höhekalkulie-ren An-teil, etwa Weeks, Albert L.: Russia’s Life-saver. Lend-lease Aid to the U.S.S.R. in World War II, Lanham MD 2004; Sokolov, Boris V.: The Role of Lend-Lease in Soviet Military Efforts, 1941–1945, in: The Journal of Slavic Military Studies 7 (1994) 3, S. 567–586.

und militärischer Organisation mangelte,108 offenbarten die Lieferungen die Defi-zite des sowjetischen Erdölsektors. Der militärische Bedarf an Flug benzin konnte bei Kriegsbeginn lediglich zu einem Viertel aus eigener Produktion gedeckt wer-den, insbesondere mangelte es an hochoktanigen Sorten, welche für modernere Kampfflugzeuge unabdingbar waren. Die sowjetische Luftwaffe war weitgehend von importierten Treibstoffen abhängig, wenngleich die Produktion im weiteren Kriegsverlauf deutlich gesteigert werden konnte. Mit mehr als 12 Prozent füll-ten Erdölprodukte so einen nicht unerheblichen Anteil der via Lend-Lease ver-schifften Gesamttonnage und deckten insgesamt bis 1945 selbst nach offiziellen Angaben ein Zehntel des militärischen Treibstoffverbrauches der Sowjetunion.109

Weitaus wichtiger im Kontext der sowjetischen Erdölindustrie und auch mit Hinblick auf den Wiederaufbau erwiesen sich jedoch jene Güter, welche pri-mär die Produktionsbasis in der Sowjetunion stärken und so die Lend-Lease- Infrastruktur entlasten sollten. Der entsprechende Ausrüstungs- und Tech-nologietransfer setzte Ende 1942 vollumfänglich ein. Zuvor hatte in den USA aufgrund bleibender Skepsis bezüglich des sowjetischen Durchhaltevermögens das Primat gegolten, dass lediglich Ausrüstung versendet werden durfte, welche nicht unmittelbar für die amerikanischen Kriegsanstrengungen benötigt wurde.

Diese Einstellung änderte sich mit der Schlacht um Stalingrad. Seit Beginn des Jahres 1943 waren die amerikanischen Alliierten, so meldete es im März 1944 die dafür zuständige Abteilung des Volkskommissariats für Außenhandel, deut-lich eher bereit, den sowjetischen Wünschen zu entsprechen.110

Vorrangiges Ziel der US-Administration wurde alsbald die materielle Unter-stützung der Gegenoffensive der Roten Armee. In dem Bewusstsein, dass einiges

108 So der weitgehend übereinstimmende Stand der Forschung, siehe etwa Khlevniuk: Stalin, S. 198–249; Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 601–606.

109 Igolkin: Sovetskaja ėnergetičeskaja strategija, S. 357–359; Zolotarev, et al.: Neft’ i bezopasnost’, S. 61 und S. 130–133; Butenina, Natalya V.: Lend-liz. Sdelka veka, Moskva 2004, S. 152;

Dies.: Lend-Lease: The Oil Factor, in: Oil of Russia 22 (2005) 1, online verfügbar unter: http://

www.oilru.com/or/22/360 [03.04.2012]; Budkov/Budkov: Gody ispytanij, S. 52. Zu den frü-hen Lieferungen vor Lend-Lease, welche zum Großteil (79 Prozent) aus Erdölprodukten be-standen, siehe Report on War Aid furnished by the United Staes to the U.S.S.R. June 22, 1941 – September 20, 1945, [Washington, D.C.] 1945, S. 1.

110 RGAE, f. 413, op. 12, d. 6799, ll. 3–18, abgedruckt in: »Narkomvneštorg sčitaet celesoobraz-nym organizovat’ zakupočnuju komissiju«. Istorija lend-liza v dokumentach RGAĖ. Fevral’

1942 ‒ mart 1945 g., in: Istoričeskij archiv 21 (2013) 5, S. 31–55, hier S. 35–44. Im Sommer 1942 hatten die zuständigen Stellen der US-Administration noch empfohlen, diverse Equip-mentwünsche »nicht zu erfüllen«, da die entsprechenden Maschinen in den USA benötigt würden: Soviet Supply Protocols. Wartime International Agreements, Washington, D.C. [1948], S. 29 f. Der rapide Anstieg des Anteils an technischer Ausrüstung ist in der Statistik deutlich sichtbar: Report on War Aid, S. 13.

bereits »ausschließlich der russischen Nachkriegsversorgung«111 dienen könnte, wurden unter anderem vier vollständige Raffineriekomplexe sowie zusätzliche kleinere Verarbeitungsanlagen in den USA demontiert und in die Sowjetunion transportiert. Mit einer jährlichen Verarbeitungskapazität von insgesamt rund 3 Millionen Tonnen Erdöl sollten diese dazu beitragen, den technologischen Rückstand primär beim Flugbenzin zu reduzieren. Obwohl die amerikanischen Behörden längst nicht allen diesbezüglichen Bestellungen aus Moskau nach-kamen und die endgültige Inbetriebnahme der Raffinerien sich bis Herbst 1945 verzögerte,112 waren die Anlagen mit Blick auf die Nachkriegszeit von großer Relevanz für die sowjetische Erdölwirtschaft. Das Narkomneft’ gelangte so durch die Unterstützung der US-Administration an patentgeschützte Verfahren, welche zu verkaufen sich die jeweiligen Unternehmen zuvor gesträubt hatten.

Selbst die in Rechnung gestellten Lizenzgebühren sollten nie bezahlt werden – obwohl diese Verweigerungshaltung der Moskauer Führung die zunehmenden Spannungen der späten 1940er Jahre weiter verschärfte.113

Die Bedeutung der Anlagen zeigte sich im Verlauf des ersten Nachkriegs-fünfjahresplanes. Noch Ende 1949 waren einzelne fortschrittliche Flugzeug-typen sowjetischer und amerikanischer Bauart im Einsatz auf die hochwer-tigen Benzin sorten dieser Raffinerien angewiesen. Eigene Kapazitäten, um Treibstoff von vergleichbarer Qualität herzustellen, existierten nach wie vor nicht.114 Die von einigen Neftjaniki nach dem Krieg präferierte Anpassung der Motoren produktion an die verfügbaren Benzinsorten war auf Anweisung Stalins untersagt. Die Raffinerieprozesse und die gewonnenen Treibstoffe soll-ten qualitativ dem Verbrauch der modernssoll-ten Motoren angepasst werden, nicht

111 So deutet es General Leslie Groves in einer späteren Anhörung an, mit dem Hinweis, dass dies durchaus bekannt gewesen sei, Hearings regarding Shipment of Atomic Material to the Soviet Union during World War II. Hearings Before the Committee on Un-American Activ-ities. House of Representatives. Eighty-First Congress. First and Second Sessions. December 5 and 7, 1949; January 23, 24, 25, and 26, and March 2, 3, and 7, 1950 (HUAC Hearings. 1950, Volume 1), Washington, D.C. 1950, S. 948. Ähnlich auch Weeks: Russia’s Life-saver, S. 121.

112 Jones: Roads to Russia, S. 222 f. Dazu auch die sowjetische Bestandaufnahme fünf Jahre spä-ter, in: GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1466, ll. 133–130. Zu diversen abgelehnten Bestellungen GARF, f. R5446, op. 46a, d. 1056, l. 115; Soviet Supply Protocols, S. 73 und S. 118.

113 Sutton: Western Technology, Bd. 2: 1930–1945, S. 90, Ders.: Western Technology, Bd. 3, S. 134 f. Der Streit über offene Rechnungen für Lend-Lease füllt zahllose Akten und wurde nie beigelegt. Allein die Erdöllizenzgebühren beliefen sich 1950 auf knapp 3,7 Millionen Dollar:

AVP RF, f. 07, op. 23a, papka (p.) 25, d. 324, ll. 149–159, abgedruckt in: Sevost’janov et al.

(Hg.): Sovetsko-amerikanskie otnošenija (1949–1952), S. 294–298.

114 GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1435, l. 74.

anders herum.115 Bestärkt durch die teilweise auf amerikanischer Hilfe basie-renden technologischen Errungenschaften der Kriegsjahre war für die sowjeti-sche Führung im Sinne des weiterhin vorherrsowjeti-schenden Fortschritts- und Mach-barkeitsglaubens selbst ein temporärer, aus Mangel resultierender Rückschritt nicht akzeptabel. Verschwendung und Ineffizienz beförderten so die Erosion der Motoren, die häufig infolge fehlender Alternativen einfach mit den verfügbaren statt den tatsächlich benötigten Treibstoffen betrieben wurden.116 Indes hatte das Narkomneft’ nach dem Krieg sogar Schwierigkeiten, die Produktion rein quantitativ auf dem erreichten Niveau zu halten. Es fehlten essentielle Kompo-nenten, deren Produktion aufgrund entsprechender Lend-Lease-Lieferungen vernachlässigt worden war. Nach Ende der Kampfhandlungen waren die USA jedoch immer weniger bereit, verschiedene global knappe Verbrauchsgüter zulasten der eigenen Wirtschaft zu exportieren.117

Weniger umfangreich als im verarbeitenden Sektor, aber gleichsam unver-zichtbar für die sowjetische Erdölindustrie war moderne Ausrüstung zur Explo-ration und Erschließung neuer Vorkommen und zum Ausbau der Transport-infrastruktur. Im Sommer 1943 wurden gleich mehrere ranghohe Neftjaniki aus dem Führungskader des Volkskommissariats in die Vereinigten Staaten gesandt. Wie in den 1920er Jahren sollten sie vor Ort die eingesetzte Techno-logie studieren und Kontakte zu Unternehmen herstellen, deren Equipment auch in der Sowjetunion eingesetzt werden könnte.118 Zahlreiche Bestellungen waren die Folge. Obschon nur ein Bruchteil des tatsächlichen Bedarfs gedeckt werden konnte, stellten die amerikanischen Lieferungen an Rohren, Pum-pen, Bohrern und Ähnlichem in den Kriegsjahren die grundlegende Material-basis des Narkomneft’ dar. Gleiches galt für andere Wirtschaftszweige, deren Versorgung durch den Krieg nicht mehr gewährleistet werden konnte. Der Technologietransfer erreichte durch Lend-Lease ein Ausmaß, welches bin-nen weniger Jahre das gesamte sowjetisch-amerikanische Handelsvolumen

115 RGAE, f. 8627, op. 9, d. 322, l. 449. Tatsächlich war ein Großteil der Flugzeuge sowjetischer Bauart nach wie vor in der Lage, auch mit minderwertigen Benzinsorten zu fliegen. Höchste Priorität galt jedoch der Nachvollziehung des US-Standards, was von führenden Erdölkadern kritisiert wurde, siehe GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1435, ll. 6–4.

116 RGAE, f. 4372, op. 47, d. 351, ll. 133–135.

117 GARF, f. R5446, op. 47a, d. 976, l. 102; ebd., op. 49a, d. 828, ll. 298–280. Zu den US-Einschränkun-gen durch Lend-Lease: Jones: Roads to Russia, S. 78 f.; Frey, John W./Ide, Chandler H. (Hg.):

A History of the Petroleum Administration for War. 1941–1945, Washington, D.C. 1946, S. 3–7.

118 Es handelte sich größtenteils um die Leiter einzelner Ministeriumsabteilungen oder deren Stellvertreter, dazu die Erinnerungen eines Teilnehmers: Lavruško, P. N.: O rekonstrukcii neftjanoj industrii posle Velikoj Otečestvennoj Vojny, in: Veterany 3 (1992), S. 39–52.

der Zwischen kriegszeit in den Schatten stellte. Obwohl es mangels vollständi-ger Statistiken für die 1920er Jahre allenfalls Indizien dafür gibt, galt dies ver-mutlich auch für den Erdölsektor.119 Von der florierenden und letztlich durch amerika nische Steuerzahler subventionierten Wirtschaftskooperation profitier-ten zahllose US-Unternehmen ebenso wie die sowjetische Industrie. Während in Washington darauf spekuliert wurde, dass die »großzügige Hilfe sich in der Nachkriegswelt in lukrativen Handel« wandeln und entsprechend auszahlen würde, hofften auch die Wirtschaftsplaner in Moskau im Frühjahr 1945 auf die Fortsetzung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nach dem absehbaren Sieg über die Achsen mächte.120

Ende der Partnerschaft

Politische Differenzen, gegenseitiges Misstrauen und diplomatische Fauxpas auf beiden Seiten trübten die Hoffnungen schon kurze Zeit später.121 Der zwar 1941 vertraglich vereinbarte, aber ohne Vorwarnung abrupt durchgeführte Abbruch der amerikanischen Lend-Lease-Lieferungen kurz nach Kriegsende irritierte die sowjetische Führung ebenso wie die britische, die ebenfalls über Nacht keine Unterstützung mehr erhielt.122 Besonders die von der US-Administration ange-ordnete Rückbeorderung sämtlicher bereits auf dem Weg befindlicher Schiffe traf in Moskau auf Unverständnis. Im Gespräch mit Vertretern der westlichen Alliierten im Kreml äußerte Stalin im Sommer 1945 persönlich seinen Unmut

119 Die offizielle Auflistung der gelieferten Güter findet sich in: Report on War Aid, S. 19–28;

detaillierter in Jordan, George R./Stokes, Richard L.: From Major Jordan’s Diaries, New York 1952, S. 142–191; mit Schwerpunkt auf Equipment: Sutton: Western Technology, Bd, 3, S. 3–14. Zur Relevanz für die sowjetische Wirtschaft: Harrison: Accounting for War, S. 149 f.

Eindeutig dem Erdölsektor zuzuordnende Posten finden sich bei Matvejčuk, Aleksandr A.:

Neftjanaja sostavljajuščaja lend-liza, in: Alekperov (Hg.): Neft’ strany Sovetov, S. 415–455, hier S. 440 und S. 449 f. Das via Lend-Lease gelieferte Erdölequipment hatte einen Gesamt-wert von fast 180 Millionen US-Dollar: Frey/Ide (Hg.): Petroleum Administration for War, S. 270 f. Zum Handelsvolumen der Zwischenkriegszeit: RGAE, f. 413, op. 13, d. 2877, ll. 175–

180, abgedruckt in: Bachturina (Hg.): Rossija i SŠA, S. 429–434; dazu auch Weeks: Russia’s Life-saver, S. 84.

120 RGAE, f. 4372, op. 45, d. 470, l. 19. Zitat zur US-Wahrnehmung in: Jentleson, Bruce W.:

From Consensus to Conflict. The Domestic Political Economy of East-West Energy Trade Policy, in: International Organization 38 (1984) 4, S. 625–660, hier S. 361 f.

121 Dazu etwa Gaddis: We Now Know, S. 189–194.

122 RGAE, f. 413, op. 12, d. 9870, ll. 3–10, abgedruckt in: Istorija lend-liza v dokumentach RGAĖ (Istoričeskij archiv 21 (2013) 5), S. 45–53, hier S. 46 f. Zur britischen Verstimmung Paterson, Thomas G.: Soviet-American Confrontation. Postwar Reconstruction and the Origins of the Cold War, Baltimore 1973, S. 159.

über diese »brutale« und sogar »verächtliche« Art und Weise, mit welcher der sowjetischen Wirtschaft fest eingeplante Ressourcen unangekündigt entzogen worden seien.123 Wenngleich binnen kurzer Zeit nach entsprechenden Abspra-chen die Lieferungen wieder aufgenommen wurden und im Oktober ein Folge-abkommen auf Basis umfangreicher Kredite ausgehandelt werden konnte, war das Vertrauen in die amerikanischen Wirtschaftspartner beschädigt. Deutlich wird dies auch im indirekten Vorwurf Stalins, der Abbruch von Lend-Lease solle womöglich Druck auf die Sowjetunion ausüben, damit diese eine weni-ger harte Haltung annehme – was »ein fundamentaler Fehler« sei und »genau den gegensätzlichen Effekt« zur Folge haben könne.124

Gleichsam war die sowjetische Führung sich der Abhängigkeit von einem Vertrauensvorschuss aus Washington bewusst, da zumindest temporär die ver-fügbare Palette an Handelsgütern äußerst eingeschränkt war. Dem Mangel an exportierbaren Ressourcen im Austausch für das gelieferte Equipment und der eingeschränkten Bereitschaft der sowjetischen Führung zu außenpoliti-schen Konzessionen standen jedoch immer häufiger Mahnungen aus den USA gegenüber, dass dort zunehmend an der Rückzahlungsfähigkeit oder sogar absicht des Handelspartners gezweifelt werde.125 Ein im Oktober 1945 von der amerikanischen Regierung gewährter Kredit entsprach schließlich nur einem Bruchteil der 6 Milliarden Dollar, die Stalin einige Monate zuvor ursprünglich erbeten hatte.126

Die Ungewissheit über die Zukunft der Zusammenarbeit und die daraus resultierende Absicht Stalins, »das Maximum aus der Kriegsallianz […] her-auszuholen«,127 führte schließlich zu einem Umdenken in Moskau. Die sowje-tische Einkaufskommission in den USA erhielt Anfang Oktober 1945 den Auf-trag, »besondere Aufmerksamkeit« fortan auf die Beschaffung von »Ausrüstung für die wichtigsten volkswirtschaftlichen Vorhaben« zu legen. Primär sollte der Fokus auf Equipment zum Ausbau der Infrastruktur und des Energiesek-tors gelegt werden. Gleichsam müsse der schnellstmögliche Abtransport aller beschafften Güter gewährleistet werden.128 Was einmal an Bord eines

sowje-123 FRUS 1945, Bd. 1, S. 31–41, Zitate S. 33 sowie S. 35.

124 FRUS 1945, Bd. 1, S. 33.

125 AVP RF, f. 6, op. 7, p. 4, d. 4, ll. 23–25, ediert in: Sevost’janov et al. (Hg.): Sovetsko-amerikanskie otnošenija (1945–1948), S. 35 f.

126 Sanchez-Sibony: Red Globalization, S. 62–64.

127 Service: Stalin, S. 494–502, Zitat S. 494.

128 RGAE, f. 413, op. 12, d. 9870, ll. 3–10, abgedruckt in: Istorija lend-liza v dokumentach RGAĖ (Istoričeskij archiv 21 (2013) 5), S. 45–53, hier S. 45. Das für die Fortsetzung der Lend-Lease- Lieferungen grundlegende Abkommen TIAS 3662: »Disposition of Lend-Lease Supplies in

In-tischen Frachters und auf hoher See sei, so das unterschwellige Kalkül, werde nicht mehr zurückbeordert werden können. In den ersten beiden Nachkriegs-jahren wurde auf diese Weise der Technologietransfer, trotz sinkender Gesamt-volumina, in einzelnen als besonders wichtig – oder besonders rückständig – erachteten Wirtschaftszweigen fortgesetzt. Insbesondere das in der Sowjetunion chronisch verknappte Erdölequipment machte einen bedeutenden Anteil an den zunächst weiterhin florierenden transatlantischen Geschäften aus und erreichte vom Wert her nahezu das Niveau der späteren Kriegsjahre.129

Dem wachsenden Misstrauen zum Trotz zeigte sich die sowjetische Führung zunächst bemüht, den stetigen Zufluss an moderner Ausrüstung auch über den Kreditrahmen hinaus zu gewährleisten. Wie in der Zwischenkriegszeit wurden selbst knappe Güter exportiert. Ende 1947 erhielten britische Handelspartner sogar große Mengen Getreide, obwohl in zahlreichen Landesteilen nach wie vor Hunger vorherrschte. Das Exportvolumen aus der Sowjetunion stieg ent-sprechend nach Kriegsende an, um die benötigte Ausrüstung zu finanzieren.130 Der US-Kongress setzte der technischen Unterstützung des sowjetischen Erdöl-sektors jedoch ab dem Sommer 1947 immer engere Grenzen. Wenngleich noch zahlreiche Lieferungen im Verlauf des Jahres zustande kamen, untersagten die amerikanischen Abgeordneten etwa einen im April ausgehandelten größeren Verkauf von Raffinerieequipment.131 Nahezu zeitgleich mit der Feststellung, dass die Nachkriegsanstrengungen zur Produktionssteigerung nicht mit dem steigenden Verbrauch korrelierten, drohte die wichtige externe Materialbasis des Erdölsektors durch für die sowjetische Seite unkalkulierbare Verzögerun-gen und ausbleibende Export Verzögerun-genehmigunVerzögerun-gen zu versieVerzögerun-gen.132

ventory or Procurement in the United States« vom 15.10.1945 ist abgedruckt in: United States Treaties and Other International Agreements. Volume 7 in three Parts, Part 3, Washington, D.C. 1957, S. 2819–2828.

129 CIA FOIA ERR ORE 24–49: The USSR Petroleum Industry, 05.01.1950, S. 1; ferner auch Matvejčuk: Neftjanaja sostavljajuščaja lend-liza, S. 451; Jentleson, Bruce W.: Pipeline Pol-itics. The Complex Political Economy of East-West Energy Trade, Ithaca NY 1986, S. 53. Zum hohen Anteil erdölrelevanten Equipments auch FRUS 1947, Bd. 4, S. 708, Fußnote 1.

130 RGAE, f. 413, op. 25, d. 3630, l. 79, abgedruckt in Sevost’janov et al. (Hg.): Sovetsko- amerikanskie otnošenija (1949–1952), S. 514 f.; zu den Getreideexporten Adler-Karlsson, Gunnar: Western Economic Warfare 1947–1967. A Case Study in Foreign Economic Policy (Stockholm Economic Studies, New Series 9), Stockholm 1968, S. 164.

131 RGAE, f. 4372, op. 46, d. 186, ll. 219–220. Dazu auch Igolkin: Neftjanaja politika (1940–1950), S. 153 sowie S. 271. Dokumentationen zu zahlreichen erfolgreichen Kaufverhandlungen fin-den sich in GARF, f. R5446, op. 49a, d. 3778.

132 Im Juli 1947 lassen sich etwa Vermerke in sowjetischen Dokumenten finden, dass es »bisher«

nicht gelungen sei, das eingeplante Equipment in den USA zu beschaffen, GARF, f. R5446, op. 49a, d. 829, l. 165.

Ähnliche Probleme traten auch bei den Lieferungen hochwertiger Erdölpro-dukte aus den Vereinigten Staaten auf. Trotz sinkender Tendenz trugen diese weiterhin zum Ausgleich der sowjetischen Produktionsdefizite bei und umfass-ten 1946 wie in der ersumfass-ten Hälfte des Folgejahres noch mehrere hunderttausend Tonnen Treibstoff. Primär entlasteten die Importe die sowjetische Transport-infrastruktur, indem sie die Gebiete im Osten des Landes versorgten. Im August

Ähnliche Probleme traten auch bei den Lieferungen hochwertiger Erdölpro-dukte aus den Vereinigten Staaten auf. Trotz sinkender Tendenz trugen diese weiterhin zum Ausgleich der sowjetischen Produktionsdefizite bei und umfass-ten 1946 wie in der ersumfass-ten Hälfte des Folgejahres noch mehrere hunderttausend Tonnen Treibstoff. Primär entlasteten die Importe die sowjetische Transport-infrastruktur, indem sie die Gebiete im Osten des Landes versorgten. Im August