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Die Sicherung der Treibstoffversorgung

Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 veränderte die Rahmenbedingungen der sowjetischen Energie- und Erdöl politik wortwörtlich über Nacht. Zahlreiche Warnungen von verschiedenen Seiten waren von Stalin und seinem engsten Zirkel als Provokationen abgetan und weitgehend ignoriert worden. Die sowjetische Wirtschaft und insbesondere die immobilen Ressourcen- und Energieindustriezweige waren aufgrund strategi-scher Fehleinschätzungen und einer verbreiteten »Selbstgefälligkeit auf höchster Ebene« völlig unzureichend auf einen Krieg vorbereitet.1 Auch die Treibstoff-versorgung der Roten Armee war nach wie vor nur rudimentär gewährleistet.

Eine konkrete Nachschubplanung bestand allenfalls in Ansätzen. Infolge des rasanten Vorstoßes der Wehrmacht waren die zurückweichenden Verteidiger

1 Harrison: Soviet Planning, S. 61 f.; umfassend auch Gorodetsky, Gabriel: Die große Täu-schung. Hitler, Stalin und das Unternehmen »Barbarossa«, Berlin 2001, besonders S. 236–293;

Gellately: Stalin’s Curse, S. 53–58. Zu Stalins persönlicher und folgenreicher Fehleinschät-zung, dass ein Krieg im Jahr 1941 ausgeschlossen sei: Khlevniuk: Stalin, S. 186–188; Acton (Hg.): Soviet Union, Bd. 2, S. 48–54.

teilweise gezwungen, motorisiertes Kriegsgerät mit leeren Tanks aufzugeben und in feindliche Hände fallen zu lassen.2

Zwar waren seit den späten 1930er Jahren Maßnahmen in die Wege geleitet worden, trotz knapper Bestände strategische Treibstoffreserven für den Kriegsfall zurückzuhalten. Im Sommer 1941 summierten sich diese auf beinahe 3 Millionen Tonnen, was den Bedarf für einige Monate hätte decken können. Diese Reserven waren jedoch über das gewaltige Territorium der Sowjetunion und zahlreiche Volkskommissariate verteilt, ohne dass zentrale Bestandslisten existierten. Erst Wochen nach Kriegsbeginn hatte die militärische Führung Zugriff auf sämt liche Vorratslager.3 Zusätzlich waren die Reserven der sowjetischen Streitkräfte, wie bereits im Vorjahr angemahnt, äußerst ungleichmäßig verteilt und befanden sich häufig fernab der Kriegsschauplätze. Ein Großteil der gefüllten Treibstofflager war im Raum Moskau und im Kaukasus verortet, während der Mangel an der Westfront zu der desaströsen militärischen Lage der sowjetischen Verbände in den ersten Kriegsmonaten beitrug und das rasche Vorrücken der Wehrmacht beförderte.4 Nicht das Fehlen von Reserven oder eine unzureichende Produktion, sondern die überlastete, unflexible und teils gar nicht vorhandene Infrastruk-tur wurden in den ersten Kriegsmonaten als eklatanteste Schwäche der sowjeti-schen Erdölpolitik offenbar.

Allerdings war auch die deutsche Treibstoffversorgung langfristig keineswegs gesichert. Die »Gründung eines Erdölimperiums am Kaukasus und im Nahen Osten« blieb lange Zeit ein Traum der militärischen Führung.5 Im Gegensatz zu den sowjetischen energiepolitischen Präferenzen war das Erdöl für Hitler »das Element des Fortschritts, die treibende Kraft des technischen Jahrhunderts«, über welches das Deutsche Reich und seine Verbündeten jedoch nur in marginalen Mengen verfügten.6 Dieser Umstand blieb auch den Strategen im Kreml nicht

2 Musial: Stalins Beutezug, S. 90.

3 Ebel: Communist Trade, S. 23 f.; Zolotarev, et al.: Neft’ i bezopasnost’, S. 85.

4 Nove: Economic History, S. 277; Zolotarev, et al.: Neft’ i bezopasnost’, S. 79–81. Zwar erwies sich die ungleiche Verteilung als Glück im Unglück, da es den Besatzern nicht gelang, mehr als eine halbe Million Tonnen Erdölprodukte zu erbeuten. Allerdings war das sowjetische Benzin für die deutschen Panzer aufgrund der niedrigen Qualität ohnehin kaum brauchbar.

Dazu Dies.: Neft’ i bezopasnost’, S. 140–142; Hayward: Hitler’s Quest for Oil, S. 101.

5 Eichholtz/Kockel: Deutsche Ölpolitik, S. 481.

6 Carell, Paul: Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Russland (Bibliothek der Zeit-geschichte), Frankfurt am Main 1985, S. 473 f. Für die Achsenmächte war der Zweite Weltkrieg auch ein Kampf um Ressourcen und Märkte, um ein höchstmögliches Mass an Autarkie. Aus der deutschen Perspektive verfügte die ressourcenreiche Sowjetunion über all jene Reich tümer, welche das angestrebte nationalsozialistische Imperium unangreifbar machen würden. So war der

»Erdölbedarf sicherlich ein primäres Motiv« für die Entscheidung zum Angriff auf die

Sowjet-verborgen. Während die Hauptstoßrichtung der deutschen Verbände in der ersten Phase der Offensive klar den wirtschaftlichen und politischen Zentren des Landes, Kiev, Leningrad und Moskau galt, erkannte die sowjetische Führung die lang-fristige Treibstoffversorgung folgerichtig als wesent liche Schwäche des deutschen Vorstoßes. Bereits im Frühjahr 1941 hatte Stalin gemäß den Erinnerun gen Georgij Žukovs konstatiert, dass Hitler einen etwaigen »langwierigen und umfassenden Krieg« gegen die Sowjetunion ohne das »ukrainische Getreide, die Donezker Kohle und das kaukasische Erdöl« nicht gewinnen könne.7 In den ersten Kriegs-wochen häuften sich ent sprechend die Auff orderungen an die Rote Armee und die sowjetische Bevölkerung, »unseren Boden, unser Getreide und unser Erdöl«

vor dem »nationalsozialistischen Scheusal« zu schützen – nicht zuletzt auch in der vielzitierten ersten Radio ansprache Stalins nach Kriegsbeginn vom 3. Juli 1941.8 In einem offenen Brief wandte sich die sowjetische Propaganda auch an deutsche Soldaten mit der Warnung, dass jeder, der »Getreide, Erdöl und andere Reichtümer« plündern wolle, »in Russland nur den sicheren Tod finden« werde.9

Nachdem die Rote Armee die Besetzung der Ukraine nicht verhindern konnte und zugleich katastrophale Verluste in den eigenen Reihen hinnehmen musste, wurde die Verteidigung der Erdölfelder im Kaukasus ein wesentlicher Faktor der sowjetischen Strategie. »Bei einem weiteren solchen Kriegstempo sollten die Treibstoffbestände des Deutschen Reiches in den nächsten drei Monaten erschöpft sein«, stellte im August 1941 etwa ein Gutachten des Volks kommissariats für Außenhandel über die Versorgungslage des vorrückenden Gegners fest:

[E]ine Fortsetzung des Krieges [wäre dann] nur durch erneute einschnei-dende Kürzungen des nichtmilitärischen Verbrauchs, einen beinahe

voll-union im Sommer 1941, wie Albert Speer in den Befragungen durch die Alliierten zu Protokoll gab. Die deutschen Generäle waren wie Hitler überzeugt, dass der vermeintliche ›Koloss mit tö-nernen Füßen‹ binnen weniger Monate zusammenbrechen werde, bevor den eigenen Panzern der Treibstoff ausgehe. Dazu Harrison: Accounting for War, S. 8; Snyder, Timothy: Blood-lands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010, S. 159; Clark: Political Economy, S. 52.

Das Zitat von Albert Speer ist abgedruckt in: The United States Strategic Bombing Survey. Vol. 5:

Oil Division Final Report, 2. Aufl., [Washington, D.C.] 1947, S. 36–39.

7 Žukov: Vospominanija, S. 220.

8 Zolotarev, Vladimir A. (Hg.): Glavnye političeskie organy vooružennych sil SSSR v Velikoj Otečestvennoj vojne 1941–1945 gg. Dokumenty i materialy (Russkij archiv: Velikaja Otečestvennaja 17,6), Moskva 1996, S. 36 sowie S. 42, Zitat nach S. 36; Pravda, 155, 3.7.1941, S. 1; Rešin/Naumov (Hg.): 1941 god, Bd. 2, S. 446.

9 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 35, ll. 5–11, abgedruckt in Livšin, A. J. (Hg.): Sovetskaja propaganda v gody Velikoj Otečestvennoj vojny. »Kommunikacija ubeždenija« i mobilizacionnye mechanizmy (dokumenty sovetskoj istorii), Moskva 2007, S. 297–300, hier S. 299.

ständigen Abbruch der Versorgung der besetzten Länder und einen Pro-duktionsanstieg möglich […]. Die Herausforderung besteht nun darin, eine Ausweitung der [deutschen Treibstoff]Produktion zu verhindern, wo immer

es möglich ist.10

Ähnlich wird auch der Volkskommissar für Verteidigung Semën Timošenko zitiert, welcher Ende 1941 vor dem Staatlichen Verteidigungskomitee (Gosudarstvennyj komitet oborony, GKO) erklärte, dass der mögliche Verlust Moskaus zwar eine Enttäuschung, aber nicht kriegsentscheidend sein werde. »Das Einzige, was wirk-lich zählt, ist Erdöl«, weshalb alles getan werden müsse, den deutschen Verbrauch zu erhöhen und den Kaukasus zu halten.11 Um einen möglichen deutschen Vor-stoß in diese Richtung zu verhindern, ließ Stalin entgegen der Warnungen seiner militärischen Berater bereits im Herbst 1941 zahlreiche Divisionen von der West-front nach Süden verlegen. Es birgt eine gewisse Ironie, dass der Treibstoff mangel letzten Endes dazu beitrug, den deutschen Vorstoß gen Moskau zu verlang-samen, während Teile der sowjetischen Streitkräfte stattdessen abkommandiert waren, um das von Stalin prognostizierte Primärziel zu schützen, die Ölfelder des Kaukasus.12

Hitler hatte in seiner Überzeugung von der militärischen Überlegenheit der Wehrmacht allerdings nur ein langfristiges Interesse an der Region. Im erwar-teten Blitzkrieg im Herbst 1941 brauchte er den Kaukasus noch nicht. Für die Sowjet union hingegen wurde die Region unverzichtbarer denn je. In Aserbai-dschan konnte die Erdölförderung noch nach Kriegsbeginn deutlich gesteigert werden, und selbst bei Grozneft’ gelang es den Neftjaniki im Jahr 1941 nach bei-nahe einer Dekade des Niedergangs erstmals wieder, die Produktion zu erhö-hen.13 Der Verlust des Donbass und damit eines bedeutenden Anteils der sowjeti-schen Kohleproduktion erhöhte zugleich den Erdölanteil in der Brennstoffbilanz der UdSSR, die insgesamt mit deutlich weniger Brennstoff auskommen musste.

Im verheerenden ersten Kriegsjahr, in welchem nach Ansicht einiger Histori-ker für Stalin selbst territoriale Zugeständnisse im Austausch für einen Frieden mit Deutschland annehmbar schienen, war der Erdölsektor der einzige

kriegs-10 RGAE, f. 413, op. 12, d. 52kriegs-10, l. 1.

11 Zitiert nach Hayward: Hitler’s Quest for Oil, S. 108 f.

12 Volkogonov: Autopsy, S. 114; Yergin: Prize, S. 318 f.; Napuch: Sowjetunion, S. 73–77.

13 GARF, f. R5446, op. 51a, d. 1226, l. 2.

relevante Wirtschaftszweig, welcher nur geringfügige Produktionseinbrüche zu verkraften hatte.14

Ende September 1941 vermeldete auch die Pravda endsprechend, man »habe viel Erdöl« und mit jedem Tag werde es mehr, während das Deutsche Reich zunehmend an den Reserven zehre. Es sei lediglich »ein schweres Verbrechen, nun selbstzufrieden zu sein«.15 Wenngleich sicherlich propagandistische Ele-mente in eine derartige Berichterstattung hineinspielten, stand der Sowjetunion quantitativ betrachtet wesentlich mehr Erdöl zur Verfügung als dem deutschen Widersacher. Das Deutsche Reich konnte selbst mittels Kohlesynthese und umfangreichen Importen zu keinem Zeitpunkt während des Zweiten Welt krieges diejenigen Treibstoffmengen übertreffen, welche allein die kaukasischen Trusts für die Front produzierten.16

Entsprechend befasste sich die sowjetische Führung aufgrund der zahl-losen Krisenherde überall im Land und besonders im Westen nicht mit der Inten sivierung der Erdölförderung, sondern primär mit Verarbeitungs- und Verteilungs problemen.17 Zwar wurde bereits im Juli 1941 ein Dekret erlassen, die Erdölproduktion im Osten zu forcieren und dazu erforderliches Equipment aus dem Kaukasus nach Turkmenistan und in andere Fördergebiete zu ver legen.

Ziel war es, doch noch die Fördermengen zu erreichen, welche im dritten Fünf-jahresplan in den östlichen Gebieten vorgesehen waren. Berija stellte jedoch in einem Brief an Stalin klar, dass keine Ausrüstung verlagert werde, welche am Kas-pischen Meer für den weiteren Betrieb und die Planerfüllung benötigt werde.18

Anders sah es bei der Einberufung des Personals und der Übereignung der industriellen Basis des Erdölsektors zur Verstärkung der Front aus. Wie bereits im Ersten Weltkrieg wurden zehntausende Neftjaniki jeglichen Ausbildungsgrades

14 Narodnoe chozjajstvo SSSR v Velikoj Otečestvennoj vojne. 1941–1945 gg. Statističeskij sbornik, Moskva 1990, S. 5.; Kravčenko, Grigorij S.: Ėkonomika SSSR v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny. (1941–1945gg.), 2. Aufl., Moskva 1970, S. 140 sowie S. 169. Zu den Spekulationen über die sowjetische Versuche, Kontakt mit Hitler aufzunehmen, siehe umfassend Gellately: Stalin’s Curse, S. 62; Volkogonov, Dmitrij A.: Triumf i tragedija. Političeskij portret I. V. Stalina.

2 Bde., Moskva 1989, Bd. 2.1, S. 172–174; Zu Zweifeln an der These etwaiger Kapitulations-absichten Stalins vgl. Bellamy, Chris: Absolute War. Soviet Russia in the Second World War, New York 2008, S. 221–223.

15 Pravda 271, 30.09.1941, S. 1.

16 Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Welt-krieg (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte). 10 Bde., Stuttgart 1979–2008, hier Bd. 5.2:

Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942 bis 1944/45, S. 439 f.

17 Harrison: Accounting for War, S. 175 f.

18 RGASPI, f. 644, op. 2, d. 9, l. 94. Zu dem entsprechenden Dekret ebd., ll. 85–90.

zum Militärdienst eingezogen, um dem nationalsozialistischen Vernichtungs-feldzug Einhalt zu gebieten.19 Nahezu die gesamte Industrie kapazität wurde dem militärischen Bedarf untergeordnet, sodass die Produktion von Erdöl-equipment und Ersatzteilen weitgehend eingestellt wurde. Fahrzeuge und andere zur Versorgung der Front nutzbare Ausrüstung musste dem Militär überstellt werden, wodurch sich die ohnehin seit Jahren unzureichende Ausstattung des Erdöl sektors weiter verschlechterte. Besonders im Kaukasus wurde es so immer schwieriger, die hohen Förderquoten aufrechtzuerhalten.20

Gleichzeitig steckte die sowjetische Führung in einem strategischen Dilemma:

Eine gesicherte eigene Treibstoffversorgung ließ sich zwar am ehesten im Kau-kasus bewerkstelligen. Darüber hinaus galt es jedoch auch, dem deutschen Besatzer keine funktionstüchtige Erdölindustrie zu überlassen, sollte dieser die Linien der Verteidiger überwinden können. Das Resultat war ein regelrechtes Tau ziehen zwischen geostrategischer und quantitativer Versorgungssicherheit:

Im Juli 1941 ordneten die Behörden angesichts der Erfolge der Wehrmacht vor-sorglich eine Teilevakuierung der industriellen Anlagen aus den nördlichen Förderregionen Groznyj und Majkop an. Nach dem Scheitern der deutschen Offensive vor Moskau revidierten sie ihre Anweisung jedoch. Noch im Dezem-ber wurden alle laufenden Demontagearbeiten eingestellt, evakuierte Ausrüs-tung zurückgeführt und mit dem Wiederaufbau begonnen.21

Die Entscheidung kam zu früh. Die Ölgebiete des Kaukasus wurden ange-sichts der knapper werdenden Benzinreserven und des gescheiterten Blitzkrieges im Frühjahr 1942 zum vorrangingen Ziel der deutschen Wehrmacht. Der eigene Treibstoffbedarf und das Unvermögen, diesen aus eigenen Quellen decken zu können, wurden zum Leitmotiv, dem britischen Historiker Joel Hayward zufolge sogar zu einer Art Besessenheit der deutschen Führung im Feldzug gegen die Sowjetunion.22 Obwohl es den deutschen Truppen nie gelang, bis Groznyj oder

19 GARF, f. R5446, op. 48, d. 325, l. 131.

20 Agarunov: Geroičeskie sveršenija, S. 12–14; Bajbakov: Ot Stalina do El’cina, S. 58–62, siehe auch Kravčenko: Ėkonomika SSSR, S. 142; Budkov, A. D./Budkov, L. A.: Gody ispytanij (1941–

1945 gg.), in: Dinkov et al. (Hg.): Neft’ SSSR, S. 31–59, hier S. 32–42; Schwarz, Solomon M.:

Labor in the Soviet Union, New York 1952, S. 74; Shimkin: Minerals, S. 38–45; Igolkin: Neft-janaja promyšlennost’ (1928–1950), S. 285.

21 Igolkin, Aleksandr A.: Ėvakuacija predprijatij neftjanoj promyšlennosti v period Velikoj Otečestvennoj vojny, in: Veterany 20 (2007), S. 18–28, insbesondere S. 20 f.

22 Hayward: Hitler’s Quest for Oil. Siehe auch Hürter, Johannes/Uhl, Matthias: Hitler in Vinnica. Ein neues Dokument zur Krise im September 1942, in: Vierteljahrshefte für Zeit-geschichte 63 (2015) 4, S. 581–639, hier S. 591; Roberts, Geoffrey: Stalins Kriege. Vom zwei-ten Weltkrieg bis zum Kalzwei-ten Krieg, Düsseldorf 2008, S. 140.

gar bis Baku vorzudringen, hatte die veränderte Hauptstoßrichtung erhebliche Konsequenzen für den sowjetischen Erdölsektor. Im Sommer 1942 zeigte sich die Moskauer Führung keinesfalls sicher, ob die Rote Armee den Kaukasus würde halten können, wie Molotov Ende Mai in Washington bei einem Tref-fen mit Roosevelt betonte.23

Da in dem Gespräch die Notwendigkeit einer zweiten Front verdeutlicht werden sollte, ist unklar, wie wahrscheinlich die sowjetische Führung ein sol-ches Szenario tatsächlich erachtete. Zumindest aber wurden Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen. Investitionen in den entsprechenden Gebieten wurden vollständig eingestellt. Gegenüber dem britischen Botschafter machte Stalin deutlich, dass er »eher die Zerstörung der kaukasischen Erdölindustrie anord-nen würde, als zuzulassen, dass diese unversehrt in die Hände der Deutschen falle.«24 Bajbakov, zu dieser Zeit stellvertretender Erdölkommissar, wurde im Juli 1942 in den Kreml beordert, um entsprechende Maßnahmen zu ergrei-fen. Er müsse »alles unternehmen, damit die Deutschen keinen Tropfen Erdöl bekommen«, habe Stalin ihm aufgetragen. Ausführlich berichtete der Neftjanik in seinen Erinnerungen über die unmissverständliche Warnung des Parteichefs, keine Fehler zu machen: Sollte er scheitern oder der Treibstoffproduktion im Kaukasus verfrüht und ohne eine militärische Notwendigkeit Schaden zufügen, werde er erschossen.25

Zwar waren zahlreiche Raffinerien schon bei Kriegsbeginn ins sichere Hinter-land evakuiert worden, ohne das Erdöl des Kaukasus waren diese jedoch nach wie vor nutzlos. Um die im Osten errichteten Anlagen auszulasten, so stellte ein Gutachten im Dezember 1941 fest, müsse mehr als die Hälfte der benötig-ten Rohstoffe aus Baku geliefert werden, rund 6 Millionen Tonnen Rohöl. Das Erdöl des Zweiten Baku und besonders aus Baschkirien, wo inzwischen fast die Hälfte aller außerhalb des Kaukasus verorteten Produktionskapazitäten zu

23 Foreign Relations of the United States, Diplomatic Papers (= FRUS), Washington, D.C. 1932–, hier Jahrgang 1942, Bd. 3: Europe, S. 575–578, hier S. 576; ohne Quellenangabe im Wortlaut auch bei Čuev, Feliks I.: Soldaty imperii. Besedy, vospominanija, dokumenty, Moskva 1998, S. 294.

24 Zitiert nach Napuch: Sowjetunion, S. 90.

25 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 12 f. sowie S. 20; siehe auch Ders.: Ot Stalina do El’cina, S. 64 f.

Diese Drohung betrachtete Bajbakov laut eigener Aussage noch bis zu seinem Tod als der Situ-ation angemessen: Chimič, Oksana: Narkom Stalina. Nikolaj Bajbakov: »Nikto iz nynešnich ministrov Iosifu Vissarionoviču ne ponravilsja by«, in: Moskovskij komsomolec 1628, 13.5.2005, online verfügbar unter: http://www.mk.ru/editions/daily/article/2005/05/13/196364-narkom- stalina.html [06.03.2017]. Kurz darauf wurde vom GKO veranlasst, »anlässlich der entstan-denen Kriegslage« alle Anlagen in Baku mit »der erforderlichen Menge an Sprengstoff« auszu-statten, damit jederzeit binnen 48 Stunden die Sprengung veranlasst werden könne: RGASPI, f. 644, op. 1, d. 52, l. 20.

finden war, eigne sich qualitativ nur eingeschränkt, um den eklatanten Man-gel an hochoktanigen Benzinen zu reduzieren, weshalb es »rationaler« sei, den Ausbau der Förderung in anderen Regionen zu forcieren.26

Flucht ins Ungewisse

Der Vorstoß deutscher Verbände an das Volgaufer im Sommer 1942 verkom-plizierte die Lieferungen aus dem Kaukasus jedoch massiv. Der aufgrund sei-ner ökonomischen Bedeutung als ›Lebensader Russlands‹ mystifizierte Fluss war seit den Anfängen der zaristischen Erdölindustrie die wichtigste Trans-portroute für den flüssigen Brennstoff auf dem Weg zu den nördlich gelege-nen Industrie zentren des Landes. Die sowjetische Niederlage bei Rostov am Don, dem ›Tor zum Kaukasus‹, hatte bereits im Juli die Haupteisenbahnver-bindung unterbrochen. Die Schlacht um Stalingrad, den zentralen Knoten-punkt für die Rohstoffversorgung aus dem Süden, beendete jedoch – durch-aus von Hitler beabsichtigt – die weit wichtigeren Volgatransporte: Zu groß war das Risiko, den leicht entzündlichen Treibstoff in Schussweite der Wehr-macht zu verschiffen.27

Gedankenspiele, im Frühjahr 1942 eine mehr als 1000 Kilometer lange Pipeline vom Ostufer des Kaspischen Meeres durch sicheres Hinterland in die Verbrauchsregionen zu verlegen, erwiesen sich angesichts des gravierenden Ressourcenmangels und der gänzlich unzureichenden Vorarbeiten zur Tras-senführung schnell als »unzweckmäßig« und »unrealistisch«.28 Die einzige verbleibende sichere Transportroute war eine nur einspurig ausgebaute Neben-strecke über Taschkent im Osten der Usbekischen Unionsrepublik. Diese erfor-derte allerdings knapp 2000 Kilometer Umweg und konnte nicht annähernd die benötigten Kapazitäten abfertigen. Im Spätsommer 1942 lagerten so rund 6 Millionen Tonnen fertige Erdölprodukte in Baku und Umgebung, die aufgrund der militärischen Lage nicht abtransportiert werden konnten.29 Die überlastete

26 RGAE f. 4372, op. 42, d. 495, ll. 1–12.

27 Service: Stalin, S. 425; Eichholtz: Krieg um Öl, S. 121 f. Zwar hatte es bereits Anläufe gege-ben, den Pipelineanteil von nur knapp über 7 Prozent am Gesamttransport zu erhöhen. Auf-grund von Rohrmangel waren diese allerdings selten von Erfolg gekrönt. Dazu RGAE, f. 4372, op. 38, d. 993, ll. 104–105.

28 RGAE, f. 4372, op. 42, d. 491, ll. 7–8, ll. 15–16, ll. 20–21, ll. 23–24.

29 Čadaev, Jakov E.: Ėkonomika SSSR v gody Velikoj Otečestvennoj vojny. 1941–1945 gg., 2. Aufl., Moskva 1985, S. 162; Sokolov, Andrej K.: V godinu tjažkich ispytanij. Vklad otečestvennoj neftjanoj promyšlennosti v pobedu nad fašizmom v Velikoj Otečestvennoj vojne, in: Neft’

Rossii (2005) 5, online verfügbar unter: http://www.oilru.com/nr/144/3002 [10.04.2012].

Ver-Infra struktur zwang die Betreiber der Raffinerien wie Förderbetriebe, die Pro-duktion aufgrund voller Tanks zu drosseln oder ganz einzustellen. In verschie-denen Regionen gingen die Trusts sogar dazu über, weniger dringend benötigte Erdölprodukte wie Masut zurück in die Erde zu pumpen, um Platz für Flug-benzin und andere militärisch benötigte Treibstoffe zu schaffen.30 Mit Wehr-machtsverbänden am ›Tor zum Kaukasus‹ und der Blockade der Haupttrans-portrouten wurde Gewissheit, was zuvor nur zu Befürchtungen veranlasst hatte:

Das Erdöl aus Baku und Groznyj war nicht sicher genug, um die Versorgung der sowjetischen Wirtschaft und der Roten Armee im Kriegsfall zu gewährleisten.

Hatte die sowjetische Führung sich während des bisherigen Kriegs verlaufes nur sporadisch mit konkreter Erdölpolitik befasst, änderte sich das nun. Schon im August war die Evakuierung des nördlichen Kaukasus beschlossen wor-den, zu nah war die Front herangerückt. Am 22. September 1942 folgte die Entscheidung des GKO, künftig primär auf die östlichen Fördergebiete zu set-zen. Die »größtmögliche Forcierung der Steigerung der Erdölförderung […]

in den Regionen der Volga, des Urals, Kasachstans und Zentralasiens« wurde zur »kardinalen kriegswirtschaftlichen und politischen Aufgabe«. Wenngleich ein »Ausgleich für den temporär eingestellten Betrieb« in Majkop und Groznyj als primäres Ziel aufgeführt wird, sollte auch Azneft’ einen erheblichen Teil des Bakuer Equipments und Personals zur Verfügung stellen.31 Nicht nur soll-ten die Führungskader persönlich für die Gewährleistung des »fristgerechsoll-ten Abtransportes in die östlichen Erdölregionen« haften, sondern auch sicherstellen,

in den Regionen der Volga, des Urals, Kasachstans und Zentralasiens« wurde zur »kardinalen kriegswirtschaftlichen und politischen Aufgabe«. Wenngleich ein »Ausgleich für den temporär eingestellten Betrieb« in Majkop und Groznyj als primäres Ziel aufgeführt wird, sollte auch Azneft’ einen erheblichen Teil des Bakuer Equipments und Personals zur Verfügung stellen.31 Nicht nur soll-ten die Führungskader persönlich für die Gewährleistung des »fristgerechsoll-ten Abtransportes in die östlichen Erdölregionen« haften, sondern auch sicherstellen,