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Sinkende Überschüsse und Ende der Exporte

Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und vor allem der Motori-sierung der Landwirtschaft stieg der Erdölverbrauch der Sowjetunion in den 1930er Jahren in erheblichem Maße, entgegen aller Absichten und Versuche, den flüssigen Brennstoff durch Alternativen zu substituieren. Allein der Ben-zinverbrauch vervielfachte sich innerhalb einer Dekade von 77.000 Tonnen zu Beginn des ersten Fünfjahresplanes auf mehr als drei Millionen Tonnen, trotz nach wie vor geringem Motorisierungsgrad und bestenfalls marginalem indivi-duellen Personenverkehr.47 Den größten Bedarf an flüssigem Brennstoff hatten die unzähligen neuen und in erster Linie mit Kerosin betriebenen Traktoren sowie andere landwirtschaftliche Maschinen, die im Fortschrittsparadigma der Bolschewiki als Lösung für die eklatante Nahrungsmittelknappheit fest verankert waren. Während der ersten Planjahrfünfte war die Gesamtleistung aller Agrar-fahrzeuge ganz im Sinne der Planer um mehr als das 45-Fache erhöht worden, wodurch diese knapp drei Viertel des zusätzlichen Verbrauchs verursachten.48

Immer wieder führte dieser rasante und das Produktionswachstum deutlich übertreffende Bedarfsanstieg an Brennstoffen seit den frühen 1930er Jahren zu Versorgungsengpässen. Betroffen war davon zunächst jedoch primär die

sow-45 Gregory/Harrison: Allocation under Dictatorship, S. 740 f.; dazu auch Manning: Soviet Economic Crisis.

46 Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 68 sowie S. 88 f.; Alekperov: Oil of Russia, S. 262.

47 RGAE, f. 4372, op. 36, d. 1390, ll. 1–4; Igolkin: Osobennosti razvitija, S. 107 f.

48 Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 158; Shimkin: Minerals, S. 211. Deutsche Militärs kalkulierten 1940 mit 7,5 Millionen Tonnen Treibstoffverbrauch durch sowjetische Trakto-ren, vgl. Eichholtz, Dietrich: Krieg um Öl. Ein Erdölimperium als deutsches Kriegsziel (1938–1943), Leipzig 2006, S. 86.

jetische Bevölkerung. Aller Elektrifizierungsrhetorik zum Trotz griffen selbst die meisten Stadtbewohner noch auf Petroleumlampen und -öfen zurück. Wie so häufig in der Sowjetunion unter Stalins Herrschaft wurden die Bedürfnisse des Einzelnen denen des Kollektivs untergeordnet; der Verbrauch von Land-wirtschaft, Streitkräften und sogar die Exporte als zentrale Devisenquelle wur-den schlicht als wichtiger erachtet.49 Langfristig war die Parteispitze sich jedoch bereits im Klaren darüber, dass der rasant steigende Inlandsbedarf sich auch auf die für den Außenhandel verfügbaren Überschüsse auswirken würde. Noch bevor die Förderung im Kaukasus Anfang der 1930er Jahre sichtbar einbrach, war Stalin bereits überzeugt, dass der verfügbare »Bestand an Exporterdöl sich verringern wird angesichts des kolossalen und fortwährend wachsenden Bedarfs an Erdölprodukten«.50

Die wachsende Diskrepanz zwischen Plan und Wirklichkeit im Erdölsektor verdeutlichte jedoch alsbald, dass dies schon wesentlich eher der Fall sein würde, als wohl auch von Stalin erwartet. Zusehends wurden nicht nur von Exper-tenseite Kritik an der politischen Prioritätensetzung und den unzureichenden Investitionen geäußert sowie Warnungen vor einem baldigen Treibstoffmangel ausgesprochen.51 Bereits 1930 konstatierte der unter Energiefachleuten äußerst einflussreiche Akademiker Ivan Gubkin, der gleichsam als Begründer der sow-jetischen Erdölgeologie gilt, man »könne sogar sagen, dass [die Erdölindustrie]

die entscheidende Rolle in der Epoche der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft« spiele und folglich das Erdöl »besondere ›politische‹ Bedeu-tung erlangt«. Durch eine einseitige Konzentration auf Metall- und Maschinen-bauindustrie ohne ausreichende Berücksichtigung der Treibstoffversorgung, so der leicht unterschwellige Grundtenor seines Apells, sei die geplante Industria-lisierung in der Landwirtschaft und darüber hinaus zum Scheitern verurteilt.52 Die erwünschten Konsequenzen hatten derartige Warnungen jedoch nicht.

Anstatt die Investitionen und die Ressourcenzuweisung dem angemahnten tat-sächlichen Bedarf der Produktionsbetriebe anzupassen oder zumindest anzu-nähern, wurde lediglich beschlossen, die geplanten Exporte um die erwarteten

49 Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 90–97.

50 So in einem Brief an Kaganovič, RGASPI, f. 588, op. 11, d. 77, ll. 22–23, abgedruckt in Chlev-njuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 148.

51 RGASPI, f. 17, op. 2, d. 460, ll. 35–36; ebd., d. 514.1, ll. 43–44 und ll. 116–117, abgedruckt in: Chromov (Hg.): Industrializacija, Bd. 2, S. 67–75 bzw. S. 103–114; weiterführend auch Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 10–12.

52 Gubkin, Ivan M.: Neftjanaja promyšlennost’ v pjatiletnem i general’nom plane, in: Ivan M.

Gubkin/ A. N. Sachanov (Hg.): Neftjanaja promyšlennost’ SSSR i toplivnaja problema. K toplivnoj konferencii, sozyvaemoj Gosplanom SSSR, Moskva 1930, S. 3–46, Zitat S. 3 f.

Fehlmengen zu kürzen.53 Mitte der 1930er Jahre konnte schließlich auch die politische Führung die Augen nicht mehr davor verschließen, dass die Sowjet-union unter Beibehaltung der aktuellen Prioritäten selbst bei Beendigung jeg-lichen Erdölexports auf einen Treibstoffmangel zusteuerte. Auf dem XVII. Par-teitag 1934 zeigte der zum innersten Führungskreis gehörende Kujbyšev in seiner Funktion als Gosplan-Chef auf, dass die Förderung allein während des zweiten Fünfjahresplanes verdoppelt und die Raffineriekapazität sogar ver-dreifacht werden müsse, um den steigenden Verbrauch decken zu können.54 Selbst Stalin deutete in seiner Rede »das Fehlen der notwendigen Aufmerksam-keit« bei der Erschließung neuer Erdölregionen als ein wesentliches Manko der sowje tischen Wirtschaftsentwicklung, ohne dessen Bewältigung Industrie und Transport wesen »auf eine Sandbank festfahren könnten«. Seine zentralen Prio-ritäten lagen gleichwohl nach wie vor an anderer Stelle. Während der Maschi-nenbau an erster Stelle »seine jetzige führende Rolle im System der Industrie behalten« müsse, folgten in Stalins Rede der Ausbau der Eisen- wie Nichteisen-metallindustrie und auch des Kohlebergbaus als vorrangige Aufgaben noch vor dem Erdölsektor. Lediglich die von Beginn an vernachlässigte und in den 1930er Jahren zum Problem werdende Konsumgüterindustrie, so scheint es, war noch etwas weniger dringlich.55

Obwohl innerhalb der Parteiführung zumindest dahingehend Einigkeit bestand, dass ungeachtet der Priorität etwas geschehen müsse, gingen die Vor-stellungen weit auseinander, wie sich eine Verbesserung der Treibstoff versorgung am schnellsten erreichen lasse. Zwar waren schon in den 1920er Jahren einige sowjetische Geologen zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht nur im Kaukasus, sondern auch im Osten des Landes und insbesondere im Gebiet zwi-schen Volga und Ural erhebliche Mengen an Erdöl geben müsse. Tatsächlich sprachen einige Indizien dafür, und der einflussreiche Gubkin zählte zu den frü-hesten und stärksten Unterstützern intensivierter Explorations arbeiten in dieser

53 Davies/Wheatcroft: Crisis and Progress, S. 298 sowie S. 414 f.

54 Kuibyschew, Walerian: Der zweite Fünfjahrplan, in: Der Sozialismus siegt. Berichte und Reden auf dem 17. Parteitag der KPdSU(B). Januar/Februar 1934, Zürich 1935, S. 487–603, hier S. 499 sowie S. 515–516.

55 Stalin, Josef: Bericht über die Arbeit des ZK der KPdSU(B), in: Der Sozialismus siegt. Be-richte und Reden auf dem 17. Parteitag der KPdSU(B). Januar/Februar 1934, Zürich 1935, S. 7–105, hier S. 40–42. Verstärkt wird dieser Eindruck auch durch die Arbeiten des Heraus-gabekomitees: Ursprüngliches Protokoll und gedruckte Ausgabe unterscheiden sich an die-ser Stelle primär dadurch, dass die Teile der Rede mit Kohlebezug durch den Vermerk »An-haltender Beifall« nachträglich ergänzt wurden, die mit Bezug zum Erdöl jedoch nicht, vgl.

RGASPI f. 59, op. 2, d. 1, l. 48.

Region. Die Mehrheit seiner Kollegen blieb jedoch angesichts der geringen für den Erdölsektor zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel skeptisch.56 Auf-grund ihrer zögerlichen Haltung wurden zahlreiche Kritiker Gubkins schließ-lich während der Säuberungen der späten 1930er Jahre als ›Volksfeinde‹ und

›Verräter‹ an den Pranger gestellt. Die Bedenken hinsichtlich einer schnellen Erschließung der Region, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur wichtigsten Erdöl quelle der Sowjetunion werden sollte, waren allerdings durchaus berech-tigt: Nicht nur umfasste das skizzierte Gebiet in etwa die Größe Spaniens, auch war es nur dünn besiedelt, infrastrukturell kaum erschlossen, und – wohl am wichtigsten – es war in Anbetracht völlig unzureichender geologischer Erkun-dungsarbeiten weder bekannt, an welchen Stellen, noch wieviel Erdöl dort gefunden werden konnte.57

Zwar wurde bereits 1929 durch Zufall die erste Lagerstätte in der Region gefunden und so der Nachweis erbracht, dass Gubkins Annahme im Kern kor-rekt war. Die entdeckte Erdölmenge erwies sich jedoch im Vergleich zu den im Kaukasus bekannten Vorkommen als äußerst gering, und auch die wenigen im Verlauf der 1930er Jahre folgenden Funde waren nur bedingt überzeugend.

Die Region eignete sich, das wurde schnell klar, ohne vorherige großflächige Erkundungen und vor allem erhebliche finanzielle Mittel nicht im Geringsten dazu, die gewünschten kostengünstigen Förderungssteigerungen zu gewährleis-ten. Umfassende Investitionen waren zugleich aufgrund der grundsätzlichen wirtschaftlichen Prioritäten und der vorübergehend schneller zu erreichenden Erfolge in den bekannten Erdölgebieten des Kaukasus keineswegs konsens-fähig. Das Gebiet blieb so während der 1930er Jahre »wenig mehr als ein Spe-kulationsobjekt«.58

Der Abschlussbericht des XVII. Parteitags kam entsprechend trotz zahlrei-cher mündlizahlrei-cher Bekenntnisse zur intensivierten Erdölsuche zwischen Volga und

56 Owen, Edgar W.: Trek of the Oil Finders. A History of Exploration for Petroleum, Tulsa OK 1975, S. 1365 f., Rehschuh, Felix: From Crisis to Plenty: The Soviet »Oil Campaign« under Stalin, in: Perović (Hg.): Cold War Energy, S. 47–77, hier S. 49–54.

57 Peterson, James A./Clarke, James W.: Petroleum Geology and Resources of the Volga-Ural Province, U.S.S.R (Geological Survey circular 885), [Reston VA] 1983, S. 2–4; zur späteren Kritik an den Geologen siehe Bajbakov, Nikolaj K.: Vtoroe Baku, Moskva 1939, S. 22; XVIII s”ezd Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii (b). 10–21 marta 1939 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1939, S. 494–496. Angeheizt wurden die Vorwürfe, feindliche Absichten hätten die skeptische Haltung und allgemein den Misserfolg der Erdölindustrie herbeigeführt, auch von Gubkin selbst, vgl. Arutjunjan, Vladimir A.: V mire čërnogo zolota, 2. Aufl., Moskva 2002, S. 115 f.; Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 435 f.

58 Hodgkins: Soviet Power, S. 100. Dazu auch Grace: Russian Oil, S. 16; Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 149; Shimkin: Soviet Mineral-Fuels, S. 36.

Ural nur zu halbherzigen Beschlüssen. Zwar sollte mit der insgesamt geplanten Ostverschiebung der sowjetischen Wirtschaft auch die Erdölförderung in den Gebieten jenseits der Volga anvisiert werden, konkrete Ziele oder regionale Prä-ferenzen wurden jedoch nicht benannt.59 Eine Erklärung für die fehlende Ziel-strebigkeit kann darin gesehen werden, dass Ordžonikidze als einfluss reicher Leiter des Narkomtjažprom eine deutliche Präferenz für die Konzentration auf die alten Fördergebiete im Kaukasus vertrat, von denen »die Erhöhung der Erdöl gewinnung […] zu 99 Prozent« abhänge.60 In Ermangelung einer einver-nehmlichen und realisierbaren Lösung bezüglich des zu geringen Produktions-wachstums einigten sich Partei- und Fachkräfte in den 1930er Jahren auf ein bekanntes Schema: Technik und Wissenschaft sollten das Treibstoffproblem lösen. In erster Linie sollten die (letztlich wenig praktikable) Umrüstung von Traktoren auf biogene oder sogar fossile feste Brennstoffe, die Kohle verflüssigung und die Vergrößerung der als Benzin oder Kerosin nutzbaren Anteile des Erd-öls durch die Modernisierung und Intensivierung des Raffinerieprozesses dabei helfen, die verfügbaren Ressourcen effizienter einzuteilen.61

Insgesamt wurden nach dem XVII. Parteitag die Investitionen im Erdölsektor zu diesem Zweck deutlich erhöht. Selbst den Explorationsarbeiten in der Region zwischen Volga und Ural wurde nun größere Aufmerksamkeit zuteil, wenn auch nur vorrübergehend. Bereits zwei Jahre später kürzten die Moskauer Behörden nach einer kurzen Intensivierung der Erkundungsbohrungen in Baschkirien angesichts der nach wie vor geringen Erfolge die dafür zur Verfügung gestell-ten Mittel, obwohl in dem Gebiet zuvor die vielversprechendsgestell-ten Vorkommen entdeckt worden waren.62 In Anbetracht der trotz Erhöhungen nach wie vor knappen Ressourcen und des zunehmenden Drucks aus der Regierung, die Erdölförderung zu steigern, wurden Investitionen und Equipment in der

Hoff-59 KPSS v rezoljucijach i rešenijach, čast’ II, S. 7Hoff-59.

60 Ordshonikidse, Sergo: Die Vollendung der Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft, in: Der Sozialismus siegt. Berichte und Reden auf dem 17. Parteitag der KPdSU(B). Januar/

Februar 1934, Zürich 1935, S. 605–651, hier S. 632–634.

61 KPSS v rezoljucijach i rešenijach, čast’ II, S. 757; RGAE f. 4372, op. 36, d. 131, ll. 1–10. Weiter-führend auch Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 21; Davies: Soviet Economy in Turmoil, S. 195–197. Tatsächlich konnten auf Basis der vorhandenen Technologie in der Sowjet-union Anfang der 1930er Jahre weniger als 40 Prozent des Erdöls zu Flüssigtreib stoffen ver-arbeitet werden, während der überwiegende Teil als Masut/Heizöl übrigblieb, für das die Pla-ner nur geringe Verwendung hatten. Vgl. Lisičkin: Očerki razvitija, S. 203–205.

62 GARF, f. R5446, op. 24a, d. 1623, ll. 73–64. Ferner auch Kurjatnikov: Stanovlenie neftjanogo kompleksa, Bd. 2, S. 330. Zu den Gesamtinvestitionen während des Zweiten Fünfjahresplanes:

Davies: Years of Progress, S. 388. Auch intern wurde das Gebiet als (einziger) Hoffnungs träger der Region diskutiert, RGAE f. 8627, op. 9, d. 1, l. 146ob.

nung auf einen Durchbruch stets dorthin verschoben, wo auch nur die kleinsten Erfolge vermeldet wurden. Einzig die verarbeitende Industrie genoss angesichts der unsicheren Perspektive einzelner Förderregionen kontinuierlich Priorität und etablierte sich ungeachtet der begrenzt vorhandenen Rohstoffgrundlage in allen Landesteilen. 63

Ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges erhoben die sowjetischen Wirt-schaftsplaner die Verbesserung der Brennstoffversorgung insgesamt schließlich zu einem Kernanliegen des dritten Fünfjahresplanes. Auch der »Rückstand der Erdölindustrie vom allgemeinen Niveau und Entwicklungstempo der gesam-ten Volkswirtschaft« wurde als primäres Problem betont. An den grundsätzli-chen Prioritäten änderte sich jedoch nichts. Die Gosplan-Experten stellten wie zuvor nicht die Erhöhung der Erdölförderung in den Fokus der Problemlösung:

Festgehalten wurden als primäre Ziele des Planjahrfünfts der Ausbau der Kohle, Torf- und Schieferförderung, der regionalen Brennstoffindustrien und sogar der bisher vernachlässigten Erdgasindustrie, zuzüglich der Raffineriekapazität und der Herstellung synthetischer Flüssigtreibstoffe.64 Insgesamt beförderten der Mangel an Erdöl und die Konzentration auf die Verbesserung der Raffine-rieprozesse zur Überwindung der Treibstoffkrise auf diese Weise während der späten 1930er Jahre die Dominanz der Kohle in der sowjetischen Wirtschaft.

Obwohl sich auch der Kohlebergbau während der ersten Fünfjahrespläne in der Dauerkrise befand, konnte die Produktion dort im Vergleich zum Erdöl-sektor ganz im Sinne der geltenden »politischen und ideologischen Imperative«

wesentlich schneller und vergleichsweise kostengünstig gesteigert werden.65 Gleichzeitig wurde das ›schwarze Gold‹ immer teurer. Infolge der kapital-intensiven Entscheidung, die Raffineriekapazität deutlich auszubauen und dazu auf westliches Equipment zurückzugreifen, wurden bereits 1934 mehr Mittel für den Erdölsektor bereitgestellt als für den Kohlebergbau, zwei Jahre später überstiegen diese sogar die für Eisen und Stahl.66 In Bezug auf die Inves titionen bedeutete dies eine klare Aufwertung und einen Spitzenplatz innerhalb des Volkskommissariats für Schwerindustrie. Allerdings folgte daraus keineswegs,

63 Selbst die Parteiführung kritisierte diese Praxis 1939 als »schweres Versäumnis in unserer Wirtschaftsplanung«, vgl. XVIII s”ezd VKP(b), S. 495. Dazu auch Considine/Kerr: Russian Oil Economy, S. 36 f.

64 RGAE, f. 4372, op. 36, d. 131, ll. 1–10, Zitat ll. 3–4; noch deutlicher mit Bezug auf die Priori-täten im Erdölsektor zugunsten der verarbeitenden Industrie ebd., d. 178, l. 79.

65 Bachtizin, et al.: Bitva za neft’, S. 97; Penter: Kohle für Stalin, S. 35; Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 17, Zitat S. 231.

66 RGAE, f. 1562, op. 10, d. 582a, l. 7, ein Auszug ist abgedruckt in Davies: Years of Progress, S. 388.

dass dem Erdölsektor auch auf höchster politischer Ebene eine konstante erst-rangige Bedeutung zugewiesen wurde. Aufgrund der zunehmend von Span-nungen und Kriegsangst geprägten weltpolitischen Lage der ausgehenden 1930er Jahre belastete der Verteidigungsetat durch forcierte Aufrüstung zuse-hends das Staatsbudget der Sowjetunion und forderte die volle Aufmerksam-keit der politischen Elite.67

Auch innerhalb des Narkomtjažprom waren unter der Leitung Ordžonikidzes die Abteilungen für Kohle und Stahl die wichtigsten und größten geblieben, denen gleichsam die höchste Priorität zuteil wurde.68 Stalin befasste sich in seiner De-facto-Position als übergeordnete Instanz währenddessen nur einge-schränkt und temporär mit dem Erdöl oder störte sich zumindest nicht an der Amtsführung seines Wirtschaftslenkers. Zwar hatte er 1933 infolge des Produk-tionsrückgangs im Kaukasus intern die Untätigkeit Ordžonikidzes und seiner Mitarbeiter als Hauptgründe für die auftretenden Probleme kritisiert. Anders als im ebenfalls schwächelnden Kohlesektor griffen der Parteichef oder das Politbüro diesbezüglich jedoch nicht ein.69 Auch hatte Stalin trotz eines all-gemeinen Faibles für Kaderfragen in dieser Zeit anscheinend nichts gegen die Berufung Barinovs zum obersten Neftjanik einzuwenden, wenngleich er die-sen als »Hemmschuh und nicht als Motor der Erdölförderung«70 betrachtete.

Dabei hatte der Parteichef bereits im August 1929, keine zwei Monate nach der Entdeckung von Erdöl im westlichen Ural gefordert, Molotov solle sich

»ernsthaft« damit befassen, dass der Region die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werde, jegliche Vernachlässigung sei »Unfug und ein Ver brechen«.71 Mitte 1932 ordnete er sogar eine umfassende Pressekampagne an, um die

Erschlie-67 Dazu umfassend auch Harrison, Mark: Accounting for War. Soviet Production, Employ-ment, and the Defence Burden, 1940–1945 (Cambridge Russian, Soviet and post-Soviet Stud-ies 99), New York 1996; Ders.: Soviet Planning in Peace and War, 1938–1945 (Soviet and East European Studies), Cambridge 2002.

68 Khlevniuk: Stalin’s Shadow, S. 78–80. Igolkin vermutet als Ursache der weiterhin kohle-zentrischen Energiepolitik eine starke »Kohlelobby« innerhalb der Parteiführung, dazu Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 19 f.

69 RGASPI, f. 81, op. 3, d. 100, ll. 37–42, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 395 f. Zur umfassenden Einmischung in die Kohlepolitik vonseiten Stalins und des Polit-büros: Kuromiya: Commander.

70 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 741, ll. 117–118, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 408. Zu Barinov auch Kapitel 3.1. Zu Stalins Vorliebe bezüglich Kaderfragen vgl. Lih, Lars T./

Koschelewa, L. (Hg.): Stalin – Briefe an Molotow. 1925–1936, Berlin 1996, S. 29–31. Dazu auch Service, Robert W.: Stalin. A Biography, London 2004, S. 371–373.

71 Der entsprechende Brief ist abgedruckt in Lih/Koschelewa (Hg.): Stalin, S. 184 (Hervor-hebung des Wortes »ernsthaft« durch Stalin). Wenig später betonte er erneut die Wichtigkeit der Ölförderung im Ural, vgl. ebd., S. 193.

ßung der östlichen Gebiete zu beschleunigen. Diese diente Stalin zufolge aller-dings weniger als Botschaft an das eigene Volk, sondern sollte vielmehr die

»anglo-amerikanischen Neftjaniki« dazu »zwingen«, bei der Erschließung erneut mit der Sowjetunion zu kooperieren und im Außenhandel Zugeständnisse zu machen. Denn »bei solch reichen Perspektiven« könne ein großer Teil des kaukasischen Erdöls wieder exportiert werden.72 In Anbetracht des globalen Überangebots an Erdöl und der nach wie vor nicht überwundenen Weltwirt-schaftskrise waren solche Verheißungen für die westlichen Ölkonzerne jedoch nur begrenzt verlockend.

Stalins Interesse währte ohnehin in der Regel ähnlich wie die Investitions-zuweisungen, die Gosplan vornahm, nicht sonderlich lang. Im Sommer 1932 betrachtete er zunächst den sowjetischen Norden, Kasachstan und das westli-che Baschkirien als wichtigste Zukunftsregionen, wenige Tage später war Jaku-tien ihm zufolge »geradezu eine Wohltat, eine kostbare Entdeckung«, die alle Aufmerksamkeit erfordere.73 Während ein Teil seiner Mitstreiter überzeugt war, dass Stalin aufgrund seiner Arbeit in Baku die Angelegenheiten der Erdölindus-trie verstehen müsse, war den wenigen von ihm favorisierten Projekten in den frühen 1930er Jahren nur eingeschränkter Erfolg beschieden.74 In der Folgezeit, so scheint es, verlor er zusehends das Interesse.

Die Besucherlisten für das Büro des Kremlchefs, welches zunehmend zur inoffiziellen Kommandozentrale der sowjetischen Regierung avancierte, zeich-nen ein ähnliches Bild. In den Jahren zwischen 1934 und 1938 ist darin nur ein einziges Treffen mit Vertretern des Erdölsektors vermerkt, im Sommer 1936.

Anwesend waren allerdings außer dem Geologen Ivan Gubkin auch der Chef des NKVD, sein für das inzwischen etablierte Lagersystem (GULag) zustän diger Stellvertreter und der Leiter der Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg, die Mitte der 1930er Jahre auf der Suche nach Ressourcen zahlreiche Expeditionen in der Arktis durchführte.75 Stalins Interesse galt folglich eher einem anderen, bereits

72 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 77, l. 31, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 151.

Im Westen wurde die Kampagne durchaus rezipiert, vgl. etwa Ebel: Communist Trade, S. 17 f.

73 RGASPI, f. 81, op. 3, d. 99, ll. 62–63, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 169. In Jakutien wurde erst Jahrzehnte später Erdöl entdeckt.

74 Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 424, hier auch Fußnote 42. Zumindest Kaganovič äu-ßerte 1938, dass Stalin die Angelegenheiten der Erdölindustrie gut kenne, weil er in Baku ge-arbeitet habe: Igolkin: Neftjanaja politika (1928–1940), S. 116 f.

75 Černobaev, Anatolij A. (Hg.): Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatych I. V. Stalinym. 1924–1953 gg, Moskva 2008, S. 187; Josephson, Paul R.: The Conquest of the Russian Arctic, Cambridge et al. 2014, S. 84. Zur zunehmenden Bedeutung von Stalins Kreml-büro bezüglich der Entscheidungsfindung auch Chlevnjuk: Politbjuro, insb. S. 65.

zu Beginn der Planwirtschaft etablierten Unternehmen mit Bezug zum ›schwar-zen Gold‹: den im Rahmen des GULag am nördlichen Polarkreis errichteten Förder anlagen bei Uchta in der Region Komi. In diesem unwirtlichen Gebiet sollten bereits ab den frühen 1930er Jahren durch Zwangsarbeit verschiedene schon seit Zarenzeiten bekannte fossile Energieträger nutzbar gemacht werden.76

zu Beginn der Planwirtschaft etablierten Unternehmen mit Bezug zum ›schwar-zen Gold‹: den im Rahmen des GULag am nördlichen Polarkreis errichteten Förder anlagen bei Uchta in der Region Komi. In diesem unwirtlichen Gebiet sollten bereits ab den frühen 1930er Jahren durch Zwangsarbeit verschiedene schon seit Zarenzeiten bekannte fossile Energieträger nutzbar gemacht werden.76