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Niedergang der kaukasischen Erdölindustrie

Zu Beginn der 1930er Jahre steckte die kaukasische Erdölindustrie in einer ganz anderen Krise, die in erster Linie durch den rasanten Produktionsanstieg und dafür völlig unzureichende Transport- und Lagerkapazitäten bedingt war.

Bereits gefördertes und teils auch raffiniertes Erdöl wurde in eilends ausge-hobenen und vor Wind und Wetter ungeschützten Gruben verunreinigt und ver-sickerte langsam im Boden. Gleichzeitig mangelte es trotz hoher Fördermengen in vielen Gegenden des Landes immer wieder an Treibstoff.2 Die Situation war im Sommer 1931 derart problematisch, dass Teile der politischen Führung in Erwägung zogen, ausländische Unternehmen auch mit dem Abtransport der für den sowjetischen Markt bestimmten Erdölprodukte zu beauftragen.3 Vor dem Hintergrund der Bürgerkriegserfahrungen wurden in der Folge infrastruktu-relle Defizite als primäres Problem der sowjetischen Brennstoffversorgung aus dem Kaukasus erachtet. Als am Ende des ersten Fünfjahresplanes erstmals die Wachstumsraten einbrachen und die Produktionsmengen zwei Jahre in Folge sogar sanken, suchte Stalin die Schuld für den spürbaren Mangel erneut beim Transportsektor: »Der Grund für den Rückstand liegt angeblich darin, dass es in Baku kein Erdöl gebe. Aber das ist unglaubhaft […]. Was macht das Transport-komitee? […] Setzen Sie der Schlampigkeit ein Ende!«4

Die durch die hohen Investitionen während der NĖP angestoßenen Wachs-tums raten von weit über 10 Prozent waren angesichts der deutlich reduzierten Ausstattung des Industriezweiges allerdings nicht mehr zu erreichen. Bereits 1930 ergab eine Untersuchung, dass trotz der großen Erfolge die Exploration neuer Ölvorkommen und deren Erschließung wie auch der Ausbau der verarbei-tenden Industriezweige weitgehend vernachlässigt worden seien. Die extreme Rückständigkeit der Erdölausrüstung verhindere zudem weiteres Wachstum.5

2 Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 425 f.; Igolkin, Aleksandr A.: Neftjanaja promyšlennost’

v gody vtoroj pjatiletki: plany i real’nost’, in: Ėkonomičeskaja istorija. Obozrenie 10 (2005), S. 132–145, hier S. 139.

3 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 739, ll. 48–55, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 66.

4 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 741, l. 6, abgedruckt in Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 308.

Tatsächlich war Baku in geringerem Ausmaß betroffen als die anderen Förderregionen des Kaukasus; für Stalin scheint bezüglich der Erdölwirtschaft jedoch nur Baku relevant gewesen zu sein, siehe dazu die folgenden Seiten. Zu den exakten Förderraten in dieser Zeit: RGAE, f. 1562, op. 33, d. 2310, l. 45.

5 RGASPI, f. 17, op. 163, d. 855, ll. 17–26, abgedruckt in: Alekperov (Hg.): Neft’ strany Sovetov, S. 575–577.

Die Schluss folgerung, dass vorzeitige Planerfüllung trotz gesunkener Investitio-nen nur durch die Vernachlässigung aller perspektivischen Aufgaben möglich gewesen war, wurde in diesem Kontext jedoch nicht gezogen. Bohrungen waren schlichtweg der kostenintensivste Aspekt der Erdölproduktion, und gerade die häufig erfolglosen, aber notwendigen Erkundungsarbeiten stellten eine ver-lockende Einspargelegenheit dar.6

Tatsächlich standen die wesentlichen Kürzungen noch bevor, während das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei »vorschlug«, die Erdölför-derung binnen nur dreier Jahre auf mehr als das Doppelte zu steigern – ein-zig durch Mobilisierung der Arbeiterschaft »auf Basis des […] Sozialistischen Wettbewerbes und der Stoßarbeit«.7 Allgemein war innerhalb der Parteielite die Einschätzung verbreitet, dass die Produktion des flüssigen Brennstoffes recht kurzfristig und beliebig erhöht werden könne und keines großen Aufwandes bedürfe. In der landesweiten Hungersnot der frühen 1930er Jahre erhielten die Arbeiter in zahlreichen Produktionsregionen der Schwerindustrie, wie im Donbass, in Moskau oder Leningrad, unmittelbar erhöhte Lebensmittelratio-nen, während in Baku erst ein deutlicher Produktionsrückgang Ende 1933 die politische Führung von einem solchen Schritt überzeugen konnte.8

Unzufrieden mit den wirtschaftlichen Entwicklungen im Kaukasus schrieb Stalin einen Brief an seinen engen Vertrauten und damaligen Stellvertreter in Moskau, Lazar’ Kaganovič, man müsse schnellstens mehr Bohrungen durchfüh-ren, den Abtransport verbessern »und so weiter«, um im Folgejahr die Erdöl-produktion allein in Baku von 15 Millionen Tonnen auf 21 bis 22 Millionen Tonnen zu erhöhen.9 Allerdings war schon in den Vorjahren die große Stei-gerung entgegen zahlreicher Expertenwarnungen im Planerfüllungseifer mit-hilfe der einfachsten und kostengünstigsten Möglichkeit herbeigeführt

wor-6 Smil, Vaclav: Oil. A Beginner’s Guide (Oneworld Beginner’s Guides), Oxford 2008, S. 82–

120. Mehr als die Hälfte aller Kosten im Erdölsektor entstand in der Zwischenkriegszeit durch Bohrarbeiten, der Anteil der Erkundungsbohrungen sank in den 1930er Jahren jedoch deut-lich, vgl. Lisičkin: Očerki razvitija, S. 46.

7 Rešenija po chozjajstvennym voprosam, Bd. 2, S. 246–249. Zur Prioritätenverschiebung zu-lasten perspektivischer Arbeiten auch Joesten: Öl regiert die Welt, S. 437; Bachtizin, et al.:

Bitva za neft’, S. 96 f.

8 Ohnehin war die Versorgung der Erdölarbeiter Ende der 1920er Jahre deutlich reduziert wor-den und auf einem niedrigen Niveau. Dazu Gregory: Political Economy, S. 93; speziell zu den Arbeitern der Erdölindustrie: Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 399 sowie S. 430 f.;

allgemein auch Davies: Soviet Economy in Turmoil, S. 356.

9 In seiner Einschätzung verließ er sich dabei auf Materialien, die ihm Berija aus dem Kauka-sus zukommen ließ: RGASPI, f. 81, op. 3, d. 100, ll. 37–42, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.):

Stalin i Kaganovič, S. 395.

den. Ein wachsender Anteil des sowjetischen Erdöls basierte lediglich auf dem anfänglichen natürlichen Druck (Eruptivförderung) der am wenigsten tiefen Lagerstätten, während mangels finanzieller und technischer Mittel nur selten Vorkehrungen getroffen wurden, die Förderung im Anschluss fortzusetzen.10

Während die Suche nach neuen Ressourcen vernachlässigt wurde, war der zukünftige Erfolg dieser Vorgehensweise zugleich von stetigen neuen Funden abhängig. Mehr noch als in anderen Wirtschaftszweigen richtete diese von der Stoßarbeiterbewegung geprägte »kommunistische Methode des sozialistischen Aufbaus«11 in der kaukasischen Erdölindustrie erheblichen Schaden an. Sicht-bar wurde die Langzeitwirkung der Arbeitsweise der Udarniki (Stoßarbeiter) besonders in Groznyj, wo zunächst die größten Erfolge erreicht werden konnten:

Binnen weniger Jahre wurde vom dortigen Erdöltrust Grozneft’ zwecks Plan-erfüllung die Förderung deutlich erhöht, ohne die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, die Produktion langfristig aufrechtzuerhalten. 1932 war der Anteil des Nordkaukasus an der gesamten sowjetischen Erdölausbeute auf knapp 40 Prozent angestiegen, doch schon im Folgejahr halbierte sich dieser nahezu.12 Folgenreicher war allerdings die daraus resultierende Gewissheit der poli-tischen Führung, dass trotz Warnungen von Fachleuten kurzfristige Erfolge möglich waren. Mangels technischen Equipments und bedingt durch die Über-zeugung von der Überlegenheit der Stoßarbeit, ob sie nun von Udarniki oder später den Stachanovcy ausgeführt wurde, avancierte das Grundproblem zur bevorzugten Lösung: Immer neue Vorkommen wurden angebohrt und inner-halb kürzester Zeit wieder aufgegeben, sobald weniger Erdöl an die Oberfläche sprudelte. In der Folge war der Niedergang der regionalen Erdölindustrie in den 1930er Jahren nicht aufzuhalten. Am Ende der Dekade konnte in Groznyj nur noch knapp ein Viertel der Höchstmenge von 1931 produziert werden.13 Obschon die Trusts aus Baku noch kleinere Erfolge vermeldeten, waren die-selben Probleme auch dort klar erkennbar. Zahlreiche zunächst aussichtsreiche Bohrlöcher blieben trotz erheblicher Erdölvorkommen schon nach wenigen Jahren weitgehend außer Betrieb, unterlassene Wartungsarbeiten und

nach-10 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ (1928–1950), S. 45–47; Lisičkin: Očerki razvitija, S. 131.

11 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 420 f.

12 RGAE, f. 4372, op. 36, d. 131, l. 31; ebd., op. 92, d. 292, ll. 30–28; GARF, f. R5446, op. 24a, d. 1623, l. 3.

13 GARF, f. R5446, op. 24, d. 1095, l. 93, siehe auch Matvejčuk, Aleksandr A.: V tiskach pervoj pjatiletki, in: Neft’ Rossii (2011) 2, S. 112–117, hier S. 116 f.; Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 400–402 sowie S. 419–422. Zur Stachanov-Bewegung umfassend Siegelbaum, Lewis H.:

Stakhanovism and the Politics of Productivity in the USSR, 1935–1941 (Soviet and East Euro-pean Studies 59), Cambridge 1990.

lassender Förderdruck waren auch hier die primären Gründe. Intensive und vor allem nachhaltige Produktionssteigerungen waren so auch am Kaspischen Meer immer weniger möglich.14

Zugleich hatte die Erdölindustrie im Einklang mit der gesamten sowje-tischen Wirtschaft mit einem zunehmendem Fachkräftemangel zu kämpfen.

Schon in den ausgehenden 1920er Jahren wurde die mangelnde Ausbildung insbesondere bei Azneft’ zum Problem, welches in erster Linie aus dem nied-rigen Qualifikationsniveau der heimischen Bevölkerung resultierte. Anders als etwa im Kohlesektor hatte der Modernisierungsschub der NĖP-Ära in der Erdölindustrie den Bedarf an einfachen Hilfsarbeitern drastisch reduziert, wäh-rend immer mehr gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure benötigt wur-den.15 Die sowjetische Nationalitätenpolitik im Kaukasus beförderte hingegen die bevorzugte Anstellung der unerfahrenen Angehörigen der aserbaidschani-schen Titularnation, sodass der durchschnittliche Bildungsgrad der Arbeiter-schaft zusehends sank.16

Verstärkt wurde der Trend durch die Bestrebungen der Parteiführung, den

»Mangel an sozialistischem Bewußtsein« in der Bevölkerung zu beheben und endlich auch den Kampf mit den vorrübergehend noch als nützlich erachteten alten Wissenschaftseliten des Zarenreiches aufzunehmen.17 An die Stelle der alten, ›bourgeoisen‹ Spezialisten, die noch vor dem Bürgerkrieg sozialisiert und ausgebildet worden waren und denen im Energiesektor ein erheblicher Anteil am Wiederaufbau der 1920er Jahre zuzuschreiben ist, sollte eine neue

»Sowjetintelligenz« treten, die dem bolschewistischen Gedankengut und der sowje tischen Führung loyal verpflichtet war.18 Durch die mit dem Schachty- Prozess eingeleitete Kampagne der sowjetischen Führung gegen die bürger-lichen Ingenieure und Fachkräfte wurden auch auf den Erdölfeldern des Kau-kasus zahlreiche Angehörige der alten technischen Elite als ›Schädlinge‹ und

14 Shimkin: Soviet Mineral-Fuels, S. 41. Siehe auch Alekperov: Oil of Russia, S. 253.

15 Baberowski: Stalinismus im Kaukasus, S. 375. Siehe auch Lisičkin: Očerki razvitija, S. 223.

16 Grünewald: Ethnisierung, S. 44. Zu vergleichbaren Entwicklungen im Nordkaukasus um-fassend auch Perović, Jeronim: Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft. Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung (Beiträge zur Geschichte Osteuro-pas 49), Köln 2015, S. 301–353.

17 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 406–11, Zitat S. 411.

18 Umfassend dazu Fitzpatrick, Sheila: Stalin and the Making of a New Elite. 1928–1939, in:

Slavic Review 38 (1979) 3, S. 377–402, speziell zur technischen Intelligenz Lampert, Nicho-las: The Technical Intelligentsia and the Soviet State. A Study of Soviet Managers and Tech-nicians 1928–1935 (Studies in Soviet History and Society), London 1979; Bailes: Technology;

Schattenberg: Stalins Ingenieure.

›Saboteure‹ gebrandmarkt und verurteilt.19 Geprägt von der vergleichsweise hohen Arbeitslosigkeit, die mit dem stetig sinkenden Bedarf an manueller Arbeitskraft im Erdölsektor einhergegangen war, wurden die Verhaftungen besonders in Baku von den einheimischen Aseri unterstützt, trotz der weit-gehenden Ablehnung der bolschewistischen Parteiherrschaft.20 Wenngleich die Repressionen gegen Spezialisten im Sommer 1931 nachließen und die sowjetische Regierung sich eingestehen musste, dass die ungeliebten ›Über-bleibsel‹ des Zarenreiches noch immer unverzichtbar waren, fügte die von weitreichender Propaganda begleitete Hetzjagd auf Ingenieure der Autorität des technischen Personals erheb lichen Schaden zu.21

Um den durch die Repressionen verschärften Mangel zu lindern, wurden binnen kürzester Zeit Ausbildungseinrichtungen und Erdölinstitute aus dem Boden gestampft, die im Geiste des Strebens nach schnellen Erfolgen die Quan-tität der Qualität vorzogen. Als »proletarische Intelligenz«22 wurden im Massen-betrieb behelfsmäßig geschulte ›Macher‹ den alten, als zu intellektuell und zögerlich betrachteten technischen Fachkräften vorgezogen. Selbst Vorreiter des bolschewistischen Ingenieurswesens wie Gleb Kržižanovskij mussten ihre Führungsposten schrittweise räumen.23 Wie auch in anderen Bereichen der sow-jetischen Wirtschaft strömten nun notdürftig ausgebildete technische Kader in die Erdölindustrie, während der Bedarf das Angebot weiterhin deutlich über-stieg. Bezeichnend für den Mangel an qualifiziertem Personal und gleichzeitig die nach wie vor untergeordnete Relevanz des Erdölsektors ist in diesem Kon-text die Tatsache, dass 1936 trotz der technologischen Rückständigkeit im

Ver-19 Zur Schachty-Affäre und den damit einhergehenden Repressionen siehe Davies: Soviet Econ-omy in Turmoil, S. 110–125. Wenngleich keine konkreten Zahlen bekannt sind, ist ein ähn-liches Ausmaß wie in der Kohleindustrie zu vermuten, wo rund die Hälfte des technischen Personals infolge der Säuberungen von ihrem Arbeitsplatz entfernt wurde: Bailes: Technol-ogy, S. 150. Zu den Repressionen und Verhaftungen im Edölsektor umfassend auch Igolkin:

Neftjanaja promyšlennost’ (1928–1950), S. 124–130.

20 Baberowski: Stalinismus im Kaukasus, S. 392 sowie S. 408 f. Allgemein zu diesem Phänomen Davies, Sarah: »Us against Them«. Social Identity in Soviet Russia, 1934–41, in: Sheila Fitz-patrick (Hg.): Stalinism. New Directions (Rewriting histories), London 2000, S. 47–70.

21 Acton, Edward (Hg.): The Soviet Union. A Documentary History (Exeter studies in history).

2 Volumes, Exeter 2007, Bd. 1, S. 351–55; weiterführend auch Davies/Wheatcroft: Crisis and Progress, S. 82–85; zu den mittelfristigen Folgen auch Kuromiya: Commander, S. 159.

22 Dazu umfassend Fitzpatrick, Sheila: Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921–1934 (Soviet and East European Studies), Cambridge 2002.

23 Bailes: Technology, S. 184–186.

hältnis zur Kapazität knapp 20 Prozent weniger Arbeiter angestellt waren als etwa in den USA.24

Fehlende Expertise und die von den Udarniki verinnerlichte »Ignoranz bestehender Erfahrung« beförderten so trotz der ab 1934 langsam wieder stei-genden Investitionen die Erosion des während der NĖP erreichten technischen Niveaus.25 Arbeitsproduktivität und Disziplin ließen nach, und Unfälle häuf-ten sich. Insbesondere die Vernachlässigung von Sicherheitsvorkehrungen, wie etwa offenes Feuer und Rauchen am Arbeitsplatz, hatte schwerwiegende Folgen.

Mitte der 1930er Jahre war die Erdölindustrie schließlich der einzige Bereich innerhalb des Volkskommissariats für Schwerindustrie (Narkomtjažprom), in welchem der Ertrag pro Arbeiter nicht im zweistelligen Prozentbereich gesteigert werden konnte, sondern stagnierte. Während die Kosten pro geförderter und verarbeiteter Tonne Erdöl so trotz konstanten Arbeitseinsatzes deutlich stiegen, hinkte der Wirtschaftszweig dem Plan immer weiter hinterher.26

Die Ausrüstung blieb in der Folge mangels Innovationen und Investitionen zusehends hinter dem internationalen Stand zurück. Nur noch vereinzelt und beinahe ausschließlich für die erdölverarbeitende Industrie wurde moderne Technologie im Ausland beschafft. Gleichzeitig verfolgten die sowjetischen Inge-nieure den westlichen und insbesondere amerikanischen Fortschritt aufmerksam und warnten vor einem weiteren Rückstand.27 Die Qualität des in der Sowjet-union hergestellten Equipments war oftmals nicht nur wesentlich schlechter im Vergleich, auch essentielle, zuvor importierte Komponenten wurden allenfalls in völlig unzureichenden Mengen produziert. Halbfertige und teils unbrauchbare Ausrüstung musste durch Improvisation zum Laufen gebracht werden.28 Die Situation wurde Mitte der 1930er Jahre derart eklatant, dass Valerian Kujbyšev,

24 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ v gody vtoroj pjatiletki, S. 142; Igolkin/Sokolov:

Neftjanoj šturm, S. 427. Auch im Vergleich mit anderen Industriezweigen blieb die Anzahl der Erdölarbeiter deutlich zurück, so waren 1934 knapp zehnmal mehr Arbeiter im (wenn-gleich arbeitsintensiveren) Kohlenbergbau tätig und rund doppelt so viele im Torfabbau, dazu Hodgman, Donald R.: Soviet Industrial Production. 1928–1951 (Russian Research Center Studies 15), Cambridge 1954, S. 56.

25 Schattenberg: Stalins Ingenieure, S. 230–232. Speziell zur Erdölindustrie Igolkin/Sokolov:

Neftjanoj šturm, S. 401.

26 Igolkin/Sokolov: Neftjanoj šturm, S. 428 f.; Davies, Robert W.: The Years of Progress. The Soviet Economy, 1934–1936 (The Industrialisation of Soviet Russia 6), London 2014, S. 50 sowie S. 239–244.

27 Schattenberg: Stalins Ingenieure, S. 269 f.; Černyš, Michail E.: Razvitie neftepererabatyvajuščej promyšlennosti v Sovetskom Sojuze. Fragmenty istorii, Moskva 2006, S. 13 f.; Sutton: Western Technology, Bd. 3: 1945–1965, S. 413; Sokolov: Sovetskoe neftjanoe chozjajstvo, S. 99–109.

28 Igolkin: Neftjanaja promyšlennost’ v gody vtoroj pjatiletki, S. 142 f.

der die Leitung des Gosplan nach der Absetzung Kržižanovskijs übernommen hatte, öffentlich eingestehen musste, die Erdölindustrie habe »sich von einer der fortschrittlichsten Branchen in einen industriellen Flaschenhals verwandelt«.29 Hochrangige Fachleute aus dem Brennstoffsektor und der Planungsbehörde sprachen sich deshalb für eine Wiederaufnahme der Technologieimporte aus den USA aus, um die Rückständigkeit zu überwinden.30 Rasch wurde eine Kommission zur Überprüfung einer solchen Lösung zusammengestellt. Deren Leitung übernahm Michail Barinov, der als Stellvertreter Serebrovskijs während der NĖP zu den Pionieren des sowjetischen Erdöls gezählt und anschließend Karriere gemacht hatte. Als Vorsitzender der Erdöladministration (Glavneft’) innerhalb des Narkomtjažprom war er zu dieser Zeit der oberste Neftjanik des Landes, und alsbald befand er sich mit seinen engsten Mitarbeitern auf dem Flug in die Vereinigten Staaten, um fünf Monate lang den Erfolg der amerika-nischen Ölkonzerne und die Anwendbarkeit der dortigen Methoden in der Sowjetunion zu studieren.31 Rückläufige Exporte und sinkende Einnahmen verringerten allerdings den Spielraum der sowjetischen Führung bezüglich des Ankaufes westlichen Equipments in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre deutlich, während die drohende Kriegsgefahr die Prioritäten wie im restlichen Europa zugunsten der militärischen Aufrüstung verlagerte.32

Im Einklang mit der politischen Leitlinie und den durch die aufkommende Stachanov-Bewegung zunehmenden Konflikten zwischen Fachkräften und einfachen Arbeitern wurden gleichzeitig die Repressionen gegen die techni-schen Eliten erneut verschärft. Anders als zuvor wurden nun Manager und Ingenieure jeglicher politischer Couleur und Ideologie gleichsam zu Sünden-böcken für wirtschaftliche Fehlschläge. Und in keinem anderen Bereich der Schwer industrie lief es zu dieser Zeit schlechter als im Brennstoffsektor.33 Die

29 Zitiert nach: Campbell: Economics of Soviet Oil, S. 121. Dazu auch Alekperov: Oil of Rus-sia, S. 258.

30 Davies: Years of Progress, S. 201.

31 Čachmachčev, G. G.: Barinov Michail Vasil’evič, online verfügbar unter: https://sites.google.

com/site/oilindustry95/b/barinov-mihail-vasilevic [06.10.2017].

32 Insgesamt waren die Außenhandelseinnahmen der Sowjetunion im Verlauf der 1930er Jahre um mehr als zwei Drittel eingebrochen und mit diesen auch die Möglichkeiten, Waren zu im-portieren, vgl. Vnešnjaja Torgovlja SSSR (1918–1940), S. 13–15, zu den Importen nach Sektor auch S. 369 f.

33 Thurston, Robert: The Stakhanovite Movement. Background to the Great Terror in the Fac-tories, 1935–1938, in: Roberta T. Manning/John A. Getty (Hg.): Stalinist Terror. New Perspec-tives, Cambridge 1993, S. 142–160, hier speziell S. 154; Chlevnjuk (Hg.): Stalin i Kaganovič, S. 620; Manning, Roberta T.: The Soviet Economic Crisis of 1936–40 and the Great Purges, in: Manning/Getty (Hg.): Stalinist Terror, S. 116–141, hier S. 117.

Säuberungswellen des Großen Terrors fegten alsbald zahlreiche leitende Neft-janiki hinweg, die für den Niedergang der einst florierenden kaukasischen Erdölindustrie verant wortlich gemacht wurden. Aufgrund der katastrophalen Situation in Groznyj war es auch dieses Mal der Nordkaukasus, der am härtes-ten getroffen wurde.

Schon 1933 hatte sich das Volkskommissariat für Schwerindustrie unter der Leitung von Ordžonikidze darauf versteift, dass die Warnung verschiedener Fachleute, das dort erreichte Förderniveau lasse sich langfristig nicht aufrecht-erhalten, nichts anderes als eine »Theorie« staatsfeindlicher Kräfte darstelle. In der Folge hatten sowohl der Leiter von Grozneft’ als auch der damalige Vor-sitzende der Glavneft’, Sergej Ganšin, den Posten räumen müssen, wenngleich beide lediglich in niedrigere Positionen versetzt wurden.34

Auf der Suche nach »Volksfeinden« wurden nun in den späten 1930er Jah-ren erneut die »schädlichen ›Theorien‹ über die Abwesenheit von Erdöl in Groznyj« bemüht, eine möglichst einfache Lösung für das Problem sinkender Produktionsraten zu finden. In der Überzeugung, derartige Fehlinformationen hätten ineffiziente Entscheidungsführung begünstigt und somit zu falschen Prioritäten und zu dem weitgehenden »Raubbau« geführt, wurden Investitio-nen erhöht und Kader wie Equipment in den nördlichen Kaukasus verschoben, die in der Folge an anderen Stellen fehlten.35 Ab 1937 ergriffen die Organe des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKVD) in Einklang mit der politischen Großwetterlage zusätzlich Maßnahmen, die ›subversiven‹ Kräfte zu verhaften. Nahezu der gesamte technische wie administrative Führungs-stab von Grozneft’ fiel dem Terror zum Opfer.36 Selbst der Erste Parteisekretär der Tschetscheno-Inguschischen Republik musste schließlich auf Anweisung der Moskauer Führung seinen Posten räumen und wurde durch einen

Partei-34 Davies/Wheatcroft: Crisis and Progress, S. 3Partei-34 f. Zum ›Großen Terror‹ maßgeblich:

Conquest, Robert: The Great Terror. A Reassessment, London 1990; Getty, John A./

Naumov, Oleg V.: The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932–1939 (Annals of Communism), New Haven CT 1999. Speziell im Erdölsektor auch Matvejčuk, Aleksandr A.: Na pike Bol’šogo terrora, in: Neft’ Rossii (2012) 2, S. 111–117.

35 GARF, f. R5446, op. 24, d. 1095, ll. 101–92.

36 APRF f. 3, op. 58, d. 338, ll. 278–280, abgedruckt in Chaustov, Vladimir N. (Hg.): Lubjanka.

Stalin i Glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937–1938 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva 2004, S: 331 f.; zum Ausmaß auch die Erinnerungen Aleksej Ragulins: Ragulin, Aleksej I.: O repressijach v Groznenskoj neftjanoj promyšlennosti, in: Veterany 22 (2009), S. 244–250. Vorgeworfen wurde den Angeklagten unter dem Deckmantel der Sabotage, wie überall in der Sowjetunion, oftmals lediglich die Umsetzung der Direktiven aus Moskau, dazu:

Zaleski, Eugène: Stalinist Planning for Economic Growth, 1933–1952, Chapel Hill 1980, S. 248 f.

genossen mit Erdölerfahrung ersetzt, dessen Hauptaufgabe die Wiederher-stellung der hohen Förderquoten aus den frühen 1930er Jahren darstellte.37

In den anderen relevanten Förderregionen und in erster Linie in Aserbaid-schan unterschied sich die Situation während dieser Zeit nur unwesentlich.

Schon 1933 war der dortige Parteichef mit dem ersten Einbruch der Erdölförde-rung ausgetauscht worden. Der neue Erste Sekretär, Mir Džafar Bagirov, war in den späten 1920er Jahren selbst unter den Bolschewiki aufgrund seiner Brutali-tät aufgefallen und wiederholt degradiert worden, doch ebendiese Eigenschaft

Schon 1933 war der dortige Parteichef mit dem ersten Einbruch der Erdölförde-rung ausgetauscht worden. Der neue Erste Sekretär, Mir Džafar Bagirov, war in den späten 1920er Jahren selbst unter den Bolschewiki aufgrund seiner Brutali-tät aufgefallen und wiederholt degradiert worden, doch ebendiese Eigenschaft