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Erdöl in der frühen sowjetischen Energiepolitik

Die Energieversorgung des Zarenreiches zeichnete sich also in erster Linie durch einen verhältnismäßig frühen hohen Erdölanteil aus, der jedoch selbst von Ver-tretern der Monarchie als rückständig und wenig effizient betrachtet wurde. Eine intensivierte Kohlenutzung, welche die rasante Industrialisierung der anderen Großmächte befeuerte, hatte sich zugleich im Russischen Kaiserreich infolge der günstigen und reichlich vorhandenen Erdölprodukte erst spät und langsam eta-blieren können. Die problemlose Verfügbarkeit des flüssigen Brennstoffes stand währenddessen jedoch verstärkt den zaristischen Modernisierungsbemühun-gen im Wege, die eine Elektrifizierung nach west lichem Vorbild anstrebten. Die sozial-ethnischen Unruhen, welche den Kaukasus um die Jahrhundertwende prägten, brachten nach einer längeren Blütezeit der dortigen Erdölindustrie deren raschen Niedergang mit sich, der Behörden wie Unternehmer zum Han-deln zwang. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts, als international steigende Erd-ölpreise infolge der anlaufenden Motorisierung den Export immer lukrativer werden ließen, stellten die wirtschaftlichen Eliten des Landes die Brennstoff-grundlage der russländischen Industrie deshalb grundsätzlich in Frage.

Die durch den Kriegsverlauf verursachten gravierenden Lieferprobleme im Zarenreich bestätigten die Kritik an der Energieversorgungsstruktur zusätz-lich. Insbesondere der Erdölmangel beförderte originelle Lösungsansätze, wel-che die langfristige Überwindung der Abhängigkeit von Brennstofftransporten zum Ziel hatten. Bis zur Verwirklichung einer entsprechenden großflächigen Umstellung der Verbrauchsstrukturen, die sich in Kriegszeiten als schwierig gestaltete, blieb das Erdöl am Vorabend der Oktoberrevolution vorerst unver-zichtbar. Doch obwohl der Reichtum, den das ›schwarze Gold‹ über Jahrzehnte mit sich gebracht hatte, im Kaukasus klar ersichtlich war und die profitierenden Großindustriellen zumindest theoretisch ein ideales Feindbild darstellten, ver-fügten die sozialrevolutionären Ideen unter den Belegschaften im Erdölsektor und insgesamt in der Region nur über geringen Rückhalt.

Energetische Visionen der Bolschewiki

Die Machtübernahme der Bolschewiki stellte ebendiese entsprechend vor umfangreiche Probleme. Die russländische Wirtschaft befand sich nach Welt-krieg und Revolutionen inmitten des BürgerWelt-krieges in einer desaströsen Verfas-sung und produzierte kaum ein Zehntel ihrer Vorkriegsleistung. Die Transport-infrastruktur war beinahe zusammengebrochen, und überall im Land wirkten

sich Treibstoffmangel und Nahrungsknappheit in der Bevölkerung zusehends auch auf die Unterstützung der neuen Machthaber aus.43 Die beiden wichtigs-ten Brennstoffregionen des Landes, der Donbass für Kohle und der Kaukasus für Erdöl, befanden sich während des Bürgerkrieges trotz anfänglicher Erfolge lange Zeit außerhalb der Kontrolle der Revolutionäre. Einzig das wenig ergiebige Moskauer Kohlebecken sowie die zentralrussischen Wälder standen den Bol-schewiki als Energiequelle für die dringend benötigte Industrieproduktion zur Verfügung, konnten den Brennstoffbedarf jedoch nur eingeschränkt decken.44

In dieser Situation wurde der Bürgerkrieg zusehends nicht mehr nur um das Land, sondern auch um Ressourcen geführt, die für die neue Führung überle-benswichtig waren. Lenin als unbestrittener Führer der revolutionären Bewe-gung verortete in dieser Situation in einem Rundschreiben die »Brennstofffrage […] im Zentrum aller anderen Probleme«, sie müsse »um jeden Preis überwun-den werüberwun-den, sonst können weder die Aufgaben auf dem Gebiet des Ernährungs-wesens noch die militärischen und die allgemeinen wirtschaftlichen Aufgaben gelöst werden.«45 Da der Donbass zu dieser Zeit heftig umkämpft war und es den Bolschewiki weder gelang, Erdöl mithilfe von kaukasischen Untergrundkämp-fern illegal über die Grenze zu schmuggeln, noch es auf legalem Wege von den Widersachern zu kaufen,46 wurden schließlich militärische Lösungen erwogen.

Zumindest für Lenin war der Ölreichtum Bakus während des Bürgerkrie-ges der entscheidende Faktor in den Überlegungen hinsichtlich einer Offen-sive in Richtung des Kaukasus, während die Eroberung Georgiens, Armeniens und des restlichen Aserbaidschans primär auf regional verorteten und nicht mit dem Zentrum koordinierten Interessen und Maßnahmen basierte.47 Die Bedeutung der Erdölindustrie für die neuen Machthaber zeigt sich auch in der Brutalität, mit der die intakte Übernahme der Produktion gewährleistet werden sollte. Schon zu Beginn des Vormarsches der Roten Armee im Süden kam aus Moskau die Anweisung, der Bevölkerung vor Ort klarzumachen, dass

»alle abgeschlachtet« werden würden, sollten die Ölfelder bei der Übernahme

43 Davies: Soviet Economic Development, S. 23; hierzu auch umfassend Haumann: Planwirt-schaft, S. 41–47.

44 Alekperov: Oil of Russia, S. 172–174.

45 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 39, S. 306 f.

46 Elliot, Iain F.: The Soviet Energy Balance: Natural Gas, Other Fossil Fuels, and Alternative Power Sources, New York 1974, S. 124 f.; Vasilenko, A. B.: Kaspijskaja neft’ v geopolitičeskoj strategii rukovodstva Sovetskoj Rossii (1917–1922 gg.), in: Alekperov (Hg.): Neft’ strany Sovetov, S. 8–43, hier S. 24–26.

47 Baberowski: Stalinismus im Kaukasus, S. 215–218.

brennen oder gar vollständig zerstört sein.48 Als nach den nordkaukasischen Förderregionen schließlich auch Baku ohne großen Widerstand eingenommen wurde, verkündete Lenin Ende April 1920 erleichtert, dass nun – auf Grundlage des dortigen Erdöls – eine ausreichende Wirtschaftsbasis vorhanden sei, um

»unserer gesamten [sowjetischen] Industrie Leben einzuhauchen«.49 Andere Bolschewiki teilten die Einschätzung ihres Führers bezüglich der Bedeutung des flüssigen Brennstoffes. Unter ihnen befand sich auch Iosif Stalin, der die Kontrolle über den Kaukasus aufgrund der dortigen strategischen Infrastruk-turen und Energieressourcen zu einer wichtigen Angelegenheit im Bürger-krieg erklärte.50

Dieser Denkweise folgend ordneten die Revolutionsführer in Moskau bereits kurz nach der Übernahme Bakus Vorkehrungen an, die wichtige Treibstoff-quelle im Falle einer westlichen Intervention selbst zu zerstören.51 So wichtig der Zugang zum Erdöl für die Bolschewiki auch war, dem Feind sollte es nicht zum Vorteil gereichen. Grigorij Ordžonikidze, der bei der Rückeroberung und politischen Organisation der kaukasischen Staaten eine tragende Rolle spielte, brachte diese Wahrnehmung im Dezember 1921 auf den Punkt, als er die Frage aufwarf, ob nicht »Sowjetrussland das Erdöl aus Baku brauche wie der Mensch die Luft«.52 Allerdings bemerkte er im Nebensatz, dass es sich lediglich um eine temporäre Priorität der Bolschewiki handle. Zwar habe der Brennstoff aus Baku dazu beigetragen, dass die sowjetische Wirtschaft sich zusehends regeneriere und auch die Kohleproduktion im Donbass dank kaukasischem Erdöl wieder angelaufen sei. Gleichwohl deutete Ordžonikidze an, dass der flüssige Energie-träger nur eine vorrübergehende Notlösung sei, entstanden aus dem verhee-renden Zustand der Donezker Kohlengruben.53

48 So die offizielle Anweisung Lenins von 28. Februar 1920 an Grigori Ordžonikidze und Ivan Smilga, die vor Ort die Front im Nordkaukasus koordinierten, abgedruckt in: Meijer, Jan M. (Hg.):

The Trotsky Papers. 1917–1922. 2 Bde., The Hague 1964–1971, Bd. 2, S. 80.

49 So in einer Rede auf dem Allrussischen Kongress der Arbeiter der Glas- und Porzellanmanu-fakturen, abgedruckt in: Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 40, S. 330–334, hier S. 332.

50 Pravda 269, 30.11.1920, S. 1.

51 Volkogonov, Dmitrij A.: Autopsy for an Empire. The Seven Leaders Who Built the Soviet Regime, New York 1998, S. 74. Es ist zu vermuten, dass sich diese Maßnahme auch gegen die Bevölkerung selbst richtete und eine erneute schnelle Kapitulation verhindern sollte – 1918 hatten die Revolutionäre in Baku weitgehend kampflos das Feld geräumt, als türkische und britische Truppen in Sichtweite kamen.

52 So auf einem Lokalverbandstreffen der Kommunistischen Partei Georgiens in Tiflis am 21. De-zember, abgedruckt in: Eudin, Xenia J./North, Robert C. (Hg.): Soviet Russia and the East.

1920–1927. A Documentary Survey, 2. Aufl., Stanford 1964, S. 56–59, Zitat S. 57.

53 Eudin/North (Hg.): Soviet Russia and the East, S. 57.

Ohnehin hatte sich der Fokus der Aufmerksamkeit der Bolschewiki mit dem Verlauf des Bürgerkrieges und den wichtigen Erfolgen im Frühjahr des Jahres 1920 verschoben. Als das Überleben der Revolution nicht mehr gefährdet war und die Versorgungskrise vorerst überstanden schien, wandten sich die Revolu-tionsführer in Moskau rasch ihrem eigentlichen Ziel zu, der Umgestaltung des Landes nach den eigenen Vorstellungen. Nun galt es nicht mehr, im Interesse der Kriegsanstrengungen das zaristische Erbe bestmöglich zu verwalten, son-dern endlich auch die Rückständigkeit zu überwinden, die Industrialisierung voranzutreiben und das eigene ›bolschewistische Projekt‹ in die Praxis umzu-setzen.54 Die Schlüsselrolle sollte dabei, wie schon von den marxistischen Vor-denkern angeregt, der modernen Technik zukommen. Lenin selbst war über-zeugt, dass das »Bündnis aus Vertretern der Wissenschaft, des Proletariats und der Technik« jeglichen Widerstand überwinden könne.55 Einige Jahre später befand Vjačeslav Molotov sogar, dass »Technik und Kommunismus nicht von-einander getrennt werden können«.56 Der zu erreichende Fortschritt und auch die technologische Modernisierung ließen sich, so die vorherrschende Meinung, am einfachsten mithilfe einer zentralen Planung, umfangreicher Mechanisierung und der Etablierung von Methoden zur Massenproduktion bewerkstelligen.57

Zum primären Ausdruck dieser Überzeugung, dass eine staatlich gesteuerte technische Modernisierung nicht nur die Basis, sondern auch Grundvorausset-zung für wirtschaftlichen Fortschritt und die UmsetGrundvorausset-zung der kommunistischen Utopie sei, wurde bald die Fokussierung einiger führender Bolschewiki auf die Elektrifizierung des Landes.58 Bereits im Frühjahr 1920 verkündete Lenin ange-sichts der stockenden Treibstoffversorgung, dass eine »neue technische Basis für den erneuten wirtschaftlichen Aufbau« benötigt werde: die Elektrizität.

Zwar werde dies viele Jahre dauern, aber letztlich werde damit eine Grundlage geschaffen, auf der man alles andere aufbauen könne. So – und nur so – könnten letztlich »sogar in den entlegensten Winkeln Rückständigkeit, Finsternis, Elend, Krankheiten und Verwilderung bezwungen« werden.59 Unter dem Applaus der

54 Beyrau: Bolschewistisches Projekt; Haumann: Planwirtschaft, S. 30–40.

55 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 40, S. 189. Dazu umfassend auch Gestwa: Großbauten, S. 50–56.

56 Zitiert nach: Schattenberg: Stalins Ingenieure, S. 11. Ähnliche Äußerungen finden sich bei anderen führenden Bolschewiki dieser Zeit, unter anderem bei Trotsky, Leon: Science in the Task of Socialist Construction. November 23, 1923, in: Leon Trotsky (Hg.): Problems of Every-day Life, and other Writings on Culture & Science, New York 1994, S. 199–205, hier S. 201.

57 Josephson, Paul R.: »Projects of the Century« in Soviet History: Large-Scale Technologies from Lenin to Gorbachev, in: Technology and Culture 36 (1995) 3, S. 519–559, hier S. 525.

58 Haumann: Planwirtschaft, S. 47–55.

59 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 40, S. 108 f.

anwesenden Parteifunktionäre wurde in der Folge die Schaffung einer Staat-lichen Kommission für die Elektrifizierung Russlands (GOĖLRO) beschlossen, die binnen Jahresfrist jenen Plan ausarbeiten sollte, den Lenin einige Monate später aufgrund seiner Bedeutung euphorisch als »zweites Parteiprogramm«

bezeichnen sollte.60

Das schlicht als »Plan ėlektrifikacii R.S.F.S.R.« präsentierte Ergebnis der Kommission umfasste entsprechend wesentlich mehr, als der Name suggerierte.

Auf weit über 600 Seiten, erarbeitet in engster und weitgehend ideologieun-abhängiger Kooperation mit den technischen Eliten des alten Zarenreiches,61 war ein Dokument entstanden, welches das gesamte Repertoire wirtschafts- und fortschrittspolitischer Überzeugungen der führenden Bolschewiki wider-spiegelte. Das Resultat war ein erster einheitlicher, zentraler Plan zur umfassen-den perspektivischen Wirtschaftsentwicklung, auf Grundlage der Technologie und insbesondere der Elektrifizierung, der das ganze Land durch Mechanisie-rung und Massenproduktion großflächig umgestalten sollte.62 Dem bolschewis-tischen Ingenieur Gleb Kržižanovskij zufolge, der als technischer Wegbereiter des GOĖLRO-Planes gilt, werde die »elektrische Energie überall zu jenem vor-wärtstreibenden Element, das das Land auf den Weg der industriellen Entwick-lung treibt«, gleich einer »Revolution der Produktivkräfte«.63

Mit ihrem unumstößlichen und allumfassenden Bekenntnis zur Elektri-fizierung setzten die Parteiführer und Vordenker in Moskau alles auf eine Karte.

Nicht weniger als das Gelingen der Revolution, der endgültige Sieg der Bolsche-wiki über den Kapitalismus im Inneren des Landes wie auch auf internationa-ler Ebene hing für Lenin von der Umsetzung und vom Gelingen des GOĖLRO-Planes ab, wie er bei dessen Präsentation im Dezember 1920 lautstark verkündete.64 Wenngleich die in diesem Zusammenhang fokussierte Losung des Parteiführers den Kommunismus als Ergebnis der Bündelung der Sowjetmacht mit der

Elek-60 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 42, S. 157.

61 Zahlreiche Ingenieure und Wissenschaftler aus dem Technologiesektor begrüßten die Revo-lution sogar, weil sie sich – anfangs durchaus zu Recht – eine wesentlich umfassendere Unter-stützung und eine ambitioniertere Modernisierungspolitik erhofften, als dies in ausgehenden Zarenreich der Fall gewesen war. Vgl. Bailes, Kendall E.: Technology and Society under Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intelligentsia, 1917–1941 (Studies of the Rus-sian Institute, Columbia University), Princeton NJ 1978, S. 415–417.

62 Plan ėlektrifikazii RSFSR. Vvedenie k dokladu 8-mu s”ezdu Sovetov Gosudarstvennoj komissii po Ėlektrifikicii Rossii, Moskva 1920, hier insbesondere S. 7–24. Zum GOĖLRO-Plan umfas-send auch Coopersmith: Electrification, S. 151–191; Haumann: Planwirtschaft, S. 59–200.

63 Krischanowski, Gleb M.: Die Planwirtschaftsarbeit in der Sowjetunion. Ergebnisse des ers-ten Jahrzehnts, Wien 1927, S. 17.

64 Lenin: Pol. Sob. Soč., Bd. 42, S. 159.

trifizierung des gesamten Landes deutete, wurde Letztere so im selben Zug auch zur Herrschaftsgrundlage und -legitimation der Bolschewiki und zum langwäh-renden Staatsdogma65 erhoben. Diesem Fokus folgend sollte die Umsetzung des GOĖLRO-Planes auf allen Ebenen auch in der Zukunft unter der strengen Kon-trolle von Partei und Staat bleiben, sichtbar sein und die Fortschritte aufzeigen, die durch die Revolution ermöglicht wurden. Möglichst große und repräsentative Rayon-Kraftwerke sollten gebaut werden, begleitet von medialer Inszenierung durch Flugblätter, Broschüren, Plakate und alle anderen nur erdenklichen Mittel, um den Fortschritts- und Herrschaftsanspruch der Bolschewiki zu untermauern.66 Das wesentliche Ziel war der möglichst schnelle Aufbau von Kapazitäten zur zentralen Erzeugung und Verteilung von elektrischer Energie unter staatlicher Kontrolle, die Frage nach dem zu verwendenden Brennstoff war von unterge-ordneter Relevanz. Zwar bestand bis in die 1950er Jahre und darüber hinaus ein übergeordnetes, oftmals an Euphorie reichendes Bekenntnis zur Wasserkraft und den energetischen »Großbauten des Kommunismus« als zukunftsträchtigste Form der Stromerzeugung,67 darüber hinaus folgte die Wahl des Energieträ-gers aber meist pragmatischen Überlegungen. In Anbetracht des nach wie vor eklatanten Brennstoffmangels sowie der fortwährenden Transportengpässe, wel-che durch die Elektrifizierung nicht weiter verschärft, sondern vielmehr über-wunden werden sollten, griffen die Bolschewiki auf das Konzept aus der spä-ten Zarenzeit zurück: Wo keine Flüsse zur hydroenergetischen Bewirtschaftung vorhanden waren, sollten minderwertige und wenig effiziente regionale Ener-gieträger, in erster Linie Torf und Brennholz, überall dort genutzt werden, wo diese verfügbar waren.68 Einige Jahre bevor das Streben nach zentral geplanter, aber größtmöglicher regionaler Rohstoffautarkie zu einem wesentlichen Faktor sowjetischer Wirtschaftspolitik wurde, sollte die Energiepolitik des Landes aus der Not heraus bereits auf diese Weise organisiert werden.69

65 So wurde nicht nur der ursprüngliche Elektrifizierungsplan zu diversen Jubiläen neu aufgelegt und als Grundlage der sozialistischen Wirtschaft gefeiert, so etwa 1955 zum 35-jährigen Bestehen des GOĖLRO-Planes: Plan ėlektrifikazii RSFSR. Doklad 8-mu s”ezdu Sovetov Gosudarstvennoj komissii po Ėlektrifikicii Rossii, 2. Aufl., Moskva 1955. Die Elektrifizierung blieb auch bis zum Ende der Sowjetunion beliebtes Leitmotiv sowjetischer Propagandaplakate und Thema in zahl-reichen gross angelegten politischen Kampagnen, dazu etwa Snopkov, Aleksandr E.: Ėnergetika Rossii v plakate, Moskva 2012; Josephson: Projects of the Century, S. 524.

66 Haumann: Planwirtschaft, S. 110 f.; Coopersmith: Electrification, S. 163 f.

67 Siehe dazu die umfassende Untersuchung von Klaus Gestwa: Großbauten.

68 Plan ėlektrifikazii RSFSR (1920), S. 43; dazu auch Coopersmith: Electrification, S. 161–169.

69 Mieczkowski, Z.: The Economic Regionalization of the Soviet Union in the Lenin and Stalin Period, in: Canadian Slavonic Papers 8 (1966), S. 89–124.

Eine Dezentralisierung der Versorgung und Entlastung der Transportin-frastruktur waren allerdings nicht die einzigen Gründe für dieses Vorgehen.

Gleichzeitig wurden Steinkohle und Erdöl von den Mitgliedern der GOĖLRO-Kommission, obschon allen anderen (bekannten) Brennstoffarten in ihrem Energiegehalt weit überlegen, als zu kostbar eingeschätzt, um diese in Kraftwer-ken zu verbrennen: Da die entsprechenden Vorräte im Land »nicht so unendlich groß« seien, sollten diese in Anbetracht der bevorstehenden Industrialisierung des Landes »für besondere Zwecke« aufbewahrt werden.70

Den vollständigen Verzicht auf Steinkohle und Erdöl bei der Elektrifizierung trauten sich die Planer jedoch nicht zu. Insbesondere in den urbanen indus-triellen Zentren gab es keine Alternative, zumal die Elektrifizierung selbst ja nur als Wegbereiter zur fortschreitenden Industrialisierung des gesamten Lan-des dienen sollte. Die Schwerindustrie, die früh zum vorrangingen Fokus bol-schewistischer Wirtschaftspolitik geworden war, bedurfte erheblicher Mengen an Eisen und Stahl, für deren Produktion und Verarbeitung zumindest hoch-wertige Kohle unverzichtbar war. »Die Grundlage der ganzen Wirtschaft insge-samt,« so der Volkskommissar (Narkom) für den Obersten Volkswirtschaftsrat Aleksej Rykov im Dezember 1920, der ob seiner Position erheblichen Einfluss hatte, »sind Steinkohle und Metall.«71 Der im Zarenreich weitgehend auf Masut basierende Eisenbahnsektor war im Weltkrieg bereits auf wenig effizientes, aber fast überall vorhandenes Brennholz umgerüstet worden. In der Folgezeit sollte die Kohle, die ohnehin den größten und stetig steigenden Anteil am Eisen-bahntransport hatte, das Holz ersetzen; eine Rückkehr zum Erdöl war nicht geplant.72 Bedingt durch die Bedeutung der Kohle für die geplante Industria-lisierung wurde der Donbass mit Verweis auf die dortigen Minen auf Plakaten

70 Plan ėlektrifikazii RSFSR (1920), S. 153.

71 Vos’moj Vserossijskij s”ezd Sovetov rabočich, rest’janskich, krasnoarmejskich i kazač’ich deputatov. Stenografičeskij otčet (22–29 dekabrja 1920 goda), Moskva 1921, S. 188. Zwar standen in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Bolschewiki zunächst das Dorf und die Wiederherstellung der Nahrungsgrundlage der Arbeiterschaft im Fokus der poli-tischen Führung, dem lag jedoch die Überzeugung zugrunde, dass »ohne ausreichende Ver-sorgung der Städte und ohne landwirtschaftliche Kaufkraft keine Industrie« möglich sei. Dazu Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion, 1917–1991. Entstehung und Nieder-gang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 234.

72 Westwood, J. N.: Transport, in: Robert W. Davies et al. (Hg.): The Economic Transformation of the Soviet Union, 1913–1945, Cambridge 1994, S. 158–180, hier S. 161–168. Langfristig soll-te die Eisenbahn jedoch vollständig elektrifiziert und, wo möglich, mithilfe von Wasserkraft betrieben werden, dazu: Plan ėlektrifikazii RSFSR (1920), S. 62–65.

Abb. 1: Plakat »Donbass – Serdce Rossii« aus dem Jahr 1920/21

bereits 1920 als schlagendes »Herz Russlands« inszeniert, welches die Industrie-zentren des Landes am Leben halte.73

In der Folgezeit intensivierte sich die Präferenz führender Bolschewiki zugunsten des festen Brennstoffes weiter. Nach Lenins Tod entwickelte sich der Donbass mit dem einhergehenden wirtschaftlichen Aufstieg so schrittweise

73 So etwa das von einem unbekannten Künstler entworfene Plakat »Donbass – Serdce Rossii«

aus dem Jahr 1920/21, welches mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren weite Verbreitung gefunden hat: o. A.: Donbass – Serdce Rossii. Plakat, Moskva 1921, online verfügbar unter:

http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47de-83b5-a3d9-e040-e00a18064a99 [10.10.2017].

Auch Kržižanovskij, der Vordenker der Lenin’schen Elektrifizierung, bezeichnete den Don-bass später, im Februar 1927, als potentielle »Hauptzitadelle unserer Schwerindustrie«, welche aufgrund der Relevanz des dortigen Bergbaus unbedingt primäres Ziel jeglicher Investitionen bleiben müsse, RGASPI, f. 17, op. 2, d. 276, abgedruckt in Chromov (Hg.): Industrializacija, Bd. 1, S. 120 f.

zur präferierten »Vorzeigeregion des sozialistischen Aufbaus und der sozialis-tischen Kultur«.74

Der GOĖLRO-Plan prognostizierte der Steinkohle in diesem Sinne bereits einen dominierenden Anteil in der zukünftigen Brennstoffbilanz des Landes.

Knapp die Hälfte des Energiebedarfes sollte bis zum Ende des Jahrzehnts mit ihr gedeckt werden, um die als rückständig betrachtete Brennholznutzung deut-lich zu reduzieren. Die Erdölförderung hingegen sollte zwar ebenfalls gesteigert werden, nicht aber der Verbrauch: Die Planer in Moskau verlockte eher eine Wiederaufnahme des lukrativen Exportgeschäfts aus der Zarenzeit.75 In Anbe-tracht der hohen Weltmarktpreise für petrochemische Erzeugnisse, so die 1920 auf dem achten Allrussischen Sowjetkongress widerspruchslos geäußerte Auf-fassung Kržižanovskijs, könne man allein durch den Verkaufserlös des Erdöls ein Vielfaches an alternativen Brennstoffen importieren und so den Nutzen für die eigene Wirtschaft erheblich vergrößern.76

Ohnehin war innerhalb der energietechnischen Elite des Landes die Ein-schätzung verbreitet, dass das Erdöl weniger als 1 Prozent der nutzbaren hei-mischen Energieressourcen ausmache. Der Aufbau einer florierenden Wirt-schaft auf Basis eines selbst global als selten eingestuften Brennstoffes wurde entsprechend als perspektivlos und damit wenig fortschrittlich betrachtet.77 Langfristig träumte so mancher Revolutionär gar bereits in den 1920er Jahren von einer Bändigung des Atoms, welche die Abhängigkeit von Kohle und Erdöl

Ohnehin war innerhalb der energietechnischen Elite des Landes die Ein-schätzung verbreitet, dass das Erdöl weniger als 1 Prozent der nutzbaren hei-mischen Energieressourcen ausmache. Der Aufbau einer florierenden Wirt-schaft auf Basis eines selbst global als selten eingestuften Brennstoffes wurde entsprechend als perspektivlos und damit wenig fortschrittlich betrachtet.77 Langfristig träumte so mancher Revolutionär gar bereits in den 1920er Jahren von einer Bändigung des Atoms, welche die Abhängigkeit von Kohle und Erdöl