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Schon mit Beginn des Krieges hatten die sowjetischen Propagandaabteilungen damit begonnen, ganz im Sinne der geltenden Maxime »Alles für die Front, alles für den Sieg!«48 der Bevölkerung die Bedeutung des Erdölsektors für die Kriegsführung zu vermitteln. »Je mehr Treibstoff wir haben, desto näher wird die Stunde des Sieges sein«,49 versprachen Plakate ab 1941. Parolen wie »Jede Tonne Erdöl ist ein Schritt hin zum Sieg über den Faschismus«50 prägten den Alltag der Neftjaniki. Auch in der Wahrnehmung der sowjetischen Soldaten wurde das ›schwarze Gold‹ zum »Blut in den Adern der Front«, wie basch-kirische Rekruten in einem Brief an ihre zurückgebliebenen Landsleute schrie-ben.51 Schon im Sommer 1942 hatte das Führungskollegium des Narkomneft’

beschlossen, angesichts der Materialengpässe und des gravierenden Arbeits-kräftemangels fortan »alle Kräfte bedingungslos auf die […] Produktion« von jenen Erdölprodukten zu richten, welche für eine »Offensive unserer Armee«

benötigt würden. Jegliche dazu nötigen Maßnahmen sollten fortan vorrangig behandelt werden.52

Mehr denn je galt die Prämisse, dass sich der Treibstoffmangel kurzfristig am ehesten durch eine möglichst vollständige und bedarfsorientierte Verarbei-tung des Rohöles lindern lasse. Die vorhandene Technologie sollte dafür Sorge tragen, dass die Raffinerien möglichst nur das produzierten, was für den militä-rischen Erfolg dringend benötigt wurde. Tatsächlich gelang es den zuständigen Ingenieuren, die Verarbeitungsprozesse zu optimieren. Trotz der reduzierten

48 Siehe dazu Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 659.

49 Mirzojanc, Š.A.: Čem bol’še gorjučego budet u nas, tem bliže pobedy rešitel’nyj čas. Plakat, [Moskva] 1941, online verfügbar unter: http://www.neftepro.ru/photo/11-0-122-3 [11.03.2017];

ähnlich auch in der Pravda 298, 02.12.1943, S. 1.

50 Irgalin, G. D./Muchametdinova, G. R. (Hg.): Baškirija v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, 1941–1945. Dokumenty i materialy, Ufa 1995, S. 13; ähnlich auch Bajbakov: Neftjanoj front, S. 32.

51 Irgalin/Muchametdinova (Hg.): Baškirija, S. 408–410.

52 RGAE, f. 8627, op. 9, d. 74, l. 78.

Rohstoffgrundlage konnte die Herstellung insbesondere von Flugbenzin wäh-rend des Krieges deutlich gesteigert werden.53 Wähwäh-rend Mark Harrison für die sowjetische Kriegswirtschaft Ende 1942 einen Wendepunkt konstatiert, ab wel-chem die sowjetischen Staatsorgane dem zivilen Bedarf schrittweise eine höhere Priorität zuweisen konnten und erstmals mit Nachkriegs- und Wiederaufbau-planungen begannen,54 wurde die Erdölproduktion aufgrund der schrumpfen-den Kapazitäten nahezu vollständig dem militärischen Bedarf untergeordnet.

Zur Deckung des längerfristigen Verbrauches auch anderer Wirtschafts-zweige und vor allem der Landwirtschaft musste die zur Verfügung stehende Treibstoffmenge gleichwohl dringend wieder gesteigert werden. Die durch die militärische Gefährdung des Kaukasus herbeigeführte Alternativlosigkeit zwang die sowjetische Führung ebenso wie die Kader des Narkomneft’ dazu, die in der Zwischenkriegszeit etablierten Vorgehensweisen in Frage zu stellen. Zwar wurden Investitionen, Ausrüstung und Arbeitskräfte weiterhin jeweils dort eingesetzt, wo mit »geringstmöglichem Aufwand die schnellstmögliche Stei-gerung der Erdölförderung erreicht werden« konnte, weshalb einzelne Regio-nen teilweise nur kurz von einer hohen Priorität profitieren konnten.55 In Anbe-tracht der wenigen tatsächlich hinreichend bekannten Vorkommen außerhalb des Kaukasus wurden die Erkundungsarbeiten trotz Materialmangels auf Kos-ten der Erschließungsbohrungen überall im Land inKos-tensiviert. Der Entschei-dung zum Vorrang der Produktion militärischer Treibstoffe folgte eine zweite Absichtserklärung, vor allem in den Volga-Ural-Provinzen und den mittelasia-tischen Regionen die »vorrangige Aufmerksamkeit […] auf die Verstärkung der Explorationsarbeiten« zu richten und die vorhandene Ausrüstung primär dazu einzusetzen.56

Waren zuvor zwei Dekaden lang nur knapp ein Viertel aller Bohrungen zur Erkundung neuer Vorkommen und die überwältigende Mehrheit zur Erschließung bekannter Erdölfelder eingesetzt worden, änderte sich dies in den Folge jahren. Bis 1945 stieg der Anteil der Explorationsbohrungen auf bei-nahe 43 Prozent an, wenngleich die Bohrungen insgesamt wegen des Mate-rialmangels reduziert werden mussten.57 Nicht nur im Zweiten Baku, sondern überall außerhalb des Kaukasus wurden die Prospektions- und Exploration s - aktivitäten intensiviert. Der neue Fokus galt in besonderem Maße auch dort,

53 Kravčenko: Ėkonomika SSSR, S. 331.

54 Harrison: Accounting for War, S. 141.

55 Čadaev: Ėkonomika SSSR, S. 191.

56 RGAE, f. 8627, op. 9, d. 74, l. 79.

57 Lisičkin: Očerki razvitija, S. 34.

wo grundsätzlich nur wenig Hoffnung auf Erdöl bestand, solches geographisch und strategisch aber von Vorteil gewesen wäre. Betroffen waren nicht nur die nördlichen Gebiete, sondern auch Sibirien, die Region Moskau und andere Unionsteile, in welchen die sowjetischen Geologen zuvor noch keine Nach-weise für nutzbare Vorkommen erbracht hatten.58 Die Suche nach »strate-gischen Rohstoffen«,59 zu welchen das Erdöl in Artikeln der Pravda fortan zählte, blieb in den meisten Gebieten weitgehend erfolglos. Allerdings ver-deutlicht die gewandelte Prioritätensetzung noch während des Krieges nicht nur die nach wie vor bestehenden Bedenken an der propagierten Lösung aller Probleme im Zweiten Baku, sondern auch die verzweifelte Lage, in der sich die Führung des Erdölsektors befand.

Im Juli 1943 legten schließlich Berija, Voznesenskij, Mikojan und Erdöl-kommissar Ivan Sedin gemeinsam Stalin ein umfassendes Dekret zur Unter-schrift vor, welches weitreichende »Soforthilfe«-Maßnahmen anordnete. Unter anderem sollte das Narkomneft’ fortan »gleichberechtigt mit den Verteidigungs- Volkskommissariaten« mit Material und Ausrüstung versorgt werden, um der

»besonders wichtigen kriegswirtschaftlichen Bedeutung der Erdölindustrie«

gerecht zu werden. Zahlreiche andere Branchen, selbst solche aus der Rüstungs-produktion, bekamen entsprechende Aufträge zur Verbesserung der Versorgung des Erdölsektors, was neben Fahrzeugen, Maschinen und diversem Verbrauchs-material auch eine deutliche Erhöhung der Lebensmittelrationen für die Arbei-ter beinhaltete.60 Bereits kurz zuvor war damit begonnen worden, ausgebildete Neftjaniki aus den Reihen der Roten Armee freizustellen und diese zur Sicher-stellung des Wiederaufbaus und der Verbesserung der Treibstoff produktion einzusetzen.61

Bedingt durch die Notwendigkeiten des Krieges und den gravierenden Mangel sah sich die sowjetische Führung gezwungen, die Relevanz des Erd-öls endgültig anzuerkennen. Fortan stand das ›schwarze Gold‹ auf einer Stufe mit der Kohle und dem Metall, ebenso wie die infolge der immanenten

Strom-58 Igolkin: Sovetskaja ėnergetičeskaja strategija, S.  353; Ders.: Neftjanaja politika (1940–

1950), S. 108; Mal’cev, Nikolaj A./Igrevskij, Valerij I./Vadeckij, Jurij V.: Neftjanaja promyšlennost’ Rossii v poslevoennye gody, Moskva 1996, S. 50; auch RGAE, f. 8627, op. 9, d. 635, ll. 48–70, abgedruckt in Veterany 21 (2008), S. 16–41.

59 So etwa in der Pravda 143, 16.06.1945, S. 3.

60 RGASPI, f. 644, op. 1, d. 136, ll. 137–148, Zitate l. 137 sowie l. 141; dazu auch den Brief an Stalin: ebd., op. 2, d. 194, ll. 157–158.

61 RGASPI, f. 644, op. 1, d. 132, ll. 11–16. Wenige Monate später wurden erneut tausende Neftjaniki vom Militärdienst freigestellt, GARF, f. R5446, op. 46a, d. 1056, ll. 44–43. Dazu weiterführend auch Trošin: Trudovoj front, S. 146–149; Bajbakov: Ot Stalina do El’cina, S. 89–91.

knappheit des Krieges ›wiederentdeckte‹ Elektrifizierung. Gemeinsam wur-den die vier entsprechenwur-den Industriezweige fortan als »Fundament für wur-den Wiederaufbau und den Aufstieg der gesamten Volkswirtschaft« betrachtet.62 Noch wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation mahnte die Abteilung zur Treibstoffversorgung der Roten Armee allerdings in einem Brief an das GKO, dass »zur Vermeidung einer Unterbrechung der Produktion von Erdöl-produkten und somit einer Störung der Versorgung der Roten Armee und der Volkswirtschaft« die Regierung sofort entsprechende Maßnahmen umset-zen müsse, »um den Neftjaniki Hilfe zu leisten«.63 Die weitere Steigerung von militärisch relevanten Treibstoffen und insbesondere von Flugbenzin hatte in der nur kurz darauf erlassenen Verordnung höchste Priorität.64 Das angekün-digte ›Fundament für den Wiederaufbau‹ blieb vorerst vorrangig dem Bedarf der Streitkräfte vorbehalten.

Das zeigt auch ein Gespräch Bajbakovs mit Stalin in den letzten Monaten des Krieges. Das Erdöl sei die »Seele der Kriegstechnik«, habe der Kremlchef dem Neftjanik gesagt, um ihm seine Verantwortung als neuer Volkskommis-sar für die Erdölwirtschaft zu verdeutlichen. Wenngleich der Wortlaut des Gesprächs in den verschiedenen Erinnerungspublikationen Bajbakovs leicht variiert, fügte dieser in allen Versionen hinzu, dass dies auch für die gesamte Wirtschaft gelte. Stalin jedoch sah die desolate Brennstoffversorgung Anfang 1945 primär als potentielle Schwäche der Roten Armee, aufgrund derer die Verbündeten »uns zerschmettern werden, sobald sie eine Möglichkeit [dazu]

erblicken«.65 Wie Molotov sich später erinnerte, sei die Ernennung Bajbakovs zum Narkom mit der Aufgabe der unmittelbaren Produktionssteigerung

ent-62 Rešenija po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, S. 219. Wenngleich die Elektrifizierung als Teil des Vermächtnisses Lenins stets einen prominenten Platz in der sowjetischen Moder-nisierungsrhetorik innehatte, erlebte diese nach beinahe zwei Jahrzehnten der realpolitischen Vernachlässigung zugunsten der forcierten Industrialisierung erst nach dem Zweiten Welt-krieg eine neue Blütezeit, dazu etwa Žimerin, Dmitrij G.: Istorija Ėlektrifikacii SSSR, Moskva 1962, S. 90–128.

63 GARF, f. R5446, op. 47a, d. 973, ll. 107–105, ähnlich auch ebd., d. 981, l. 7.

64 RGASPI, f. 644, op. 1, d. 395, l. 203–232. Der Vorrang des Militärs bestand für die gesamte Wirtschaft. Allerdings konnte der Erdölsektor 1945 kaum mehr als den Verbrauch der Roten Armee abdecken, während andere Industrien sich bereits wieder dem ›zivilen‹ Bedarf wid-men konnten, vgl. etwa die Äußerungen im Plan für 1945, abgedruckt in: Rešenija po choz-jajstvennym voprosam, Bd. 3, S. 229–231.

65 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 36–40; Ders.: Ot Stalina do El’cina, S. 79–83. Das Gespräch fand zwischen Dezember 1944 und Kriegsende statt, in den verschiedenen Memoiren Bajbakovs findet sich keine genaue Datierung. Auch in den Empfangsbüchern für Stalins persönliches Büro im Kreml findet sich kein entsprechender Vermerk. Allerdings erwähnte auch Molotov im Gespräch mit Feliks Čuev ein entsprechendes Treffen, siehe folgende Fußnote 66.

sprechend erneut mit erheblichem Druck einhergegangen: Als dieser erwähnt habe, dass die gestellten Aufgaben nicht zu erfüllen seien, habe Stalin nur ent-gegnet, dass, falls es kein zusätzliches Erdöl gebe, dies auch für die Zukunft des Neftjanik gelte.66 Zwar war der Sieg über das ›Dritte Reich‹ bereits in Reich-weite, umso mehr herrschte im Kreml und besonders bei Stalin jedoch ein gravierendes Misstrauen gegenüber den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition.

Ohne den gemeinsamen Feind, so die Befürchtung nicht nur im Kreml, wür-den alte Ressentiments wieder aufbrechen und die ideologischen Differenzen die Fronten verschieben.67 Um die nach dem verheerenden Krieg über breite Landstriche in Trümmern liegende Sowjetunion für einen erwarteten weite-ren Konflikt so wehrhaft wie möglich zu gestalten, war eine gesicherte Treib-stoffversorgung unumgänglich.

Im Frühjahr 1945 wies Stalin entsprechend Berija an, dem Erdölkommissar

»alles, was Genosse Bajbakov für die Entwicklung der Erdölindustrie des Lan-des erbittet, zu gewähren.«68 Vor den Neftjaniki stand zudem eine gewaltige Aufgabe, wie die Pravda nur wenige Monate später verkündete – die »weitge-hende […] Motorisierung des Landes«. Dazu jedoch »benötigt das Land viel, sehr viel Erdöl, Benzin, Kerosin, alle Arten von Treibstoff und Schmieröl für Industrie, Landwirtschaft […] und die Panzertruppen der Roten Armee.« Man könne sogar »ohne Übertreibung sagen, dass das allgemeine Anlaufen unserer Volkswirtschaft in hohem Grade von den Wachstumsraten der Erdölförderung«

abhänge, ebenso wie die Festigung der »militärischen Macht unserer Heimat«.69 Das dem flüssigen Brennstoff zugewiesene Investitionsvolumen stieg in der Folge deutlich an. Bereits 1946 wurden die für den Erdölsektor bereitgestellten Mittel im Vergleich zum letzten Vorkriegsjahr mehr als verdoppelt, das Gesamtbud-get hingegen nur geringfügig erhöht. In der Folgezeit setzte sich dieser Trend fort, wenngleich die Erhöhung der zugewiesenen Finanzmittel weniger

deut-66 »Budet neft’ – budet Bajbakov, ne budet nefti – ne budet Bajbakova!«, zitiert nach Čuev:

Soldaty imperii, S. 535.

67 Stellvertretend für die unzähligen Publikationen, welche sich mit den Anfängen des Kalten Krieges und dem gravierenden Misstrauen der Verbündeten untereinander seit Beginn der Allianz auseinandersetzen: Mastny, Vojtech: Moskaus Weg zum Kalten Krieg. Von der Kriegsallianz zur sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa, München 1980; Levering, Ralph B. (Hg.): Debating the Origins of the Cold War. American and Russian Perspectives, Lanham MD 2002; Mastny, Vojtech: The Cold War and Soviet Insecurity. The Stalin Years, Oxford 1996; Gaddis, John L.: We Now Know. Rethinking Cold War History (A Council on Foreign Relations book), Oxford 1997.

68 Bajbakov: Neftjanoj front, S. 38–40.

69 Pravda 172, 20.07.1945, S. 1.

lich ausfiel. Der Anteil des Wirtschaftszweiges an den staatlichen Investitionen stieg so kontinuierlich an.70

Energetische Prioritäten des Wiederaufbaus

An den grundsätzlichen energiepolitischen Prioritäten der sowjetischen Füh-rung änderte sich jedoch nur wenig, im Gegenteil. Deutlich wurde das nicht zuletzt in Stalins vielzitierter erster Nachkriegsrede am 9. Februar 1946 vor der Moskauer Wählerversammlung, in welcher der siegestrunkene Parteichef einen »neuen machtvollen Aufschwung der Volkswirtschaft« ankündigte, damit

»unsere Heimat gegen jegliche Eventualitäten gesichert sein wird«.71 Innerhalb von drei Planjahrfünften sollte die Sowjetunion in der Lage sein, 500 Millionen Tonnen Kohle, 60 Millionen Tonnen Erdöl und 60 Millionen Tonnen Stahl zu produzieren, um sich in einem nächsten Konflikt behaupten zu können. Denn wie Stalin ebenfalls deutlich machte, erwartete er innerhalb der kapitalistischen Staatenwelt für die Zeit nach 1945 nichts anderes als eine Wiederholung der Vor-kriegsereignisse unter neuen Bedingungen.72 Wenngleich die genannten Zahlen in Anbetracht der weitreichenden Zerstörungen und Verluste, unter denen das Land knapp ein Jahr nach Kriegsende litt, aus zeitgenössischer Perspektive eher überambitioniert wirken mussten, weisen diese mit Blick auf die Vorkriegspro-duktion klar auf eine im Kern unveränderte Brennstoffpolitik hin: Die Sowjet-union benötigte nach Stalins Einschätzung zwar viel Erdöl für die eigene Sicher-heit, aber noch deutlich mehr Kohle.

Tatsächlich waren die Vorstellungen des auf dem Gipfel seiner Macht befind-lichen Parteichefs von der zukünftigen Brennstoffproduktion sogar konser-vativer als interne Überlegungen des Gosplan, welche kurz vor dem Krieg angestellt worden waren. Das Politbüro hatte die Planungsbehörde im Februar 1941 dazu aufgefordert, einen langfristigen Perspektivplan für die kommenden 15 Jahre bis 1957 aufzustellen, dessen nahezu abgeschlossene Konzeption durch den deutschen Angriff unterbrochen wurde.73 Die Kernpunkte der Entwürfe

70 Für die sowjetischen Gesamtinvestitionen RGAE, f. 1562, op. 33, d. 2310, ll. 122–124; zum Erdölsektor bis 1946 vgl. GARF, f. R5446, op. 49a, d. 782, l. 52, für die Jahre 1946–1949 vgl.

ebd., op. 51a, d. 1267, l. 8. Wenngleich sich die Zahlen nicht unmittelbar miteinander ver-gleichen lassen, ist die tendenzielle Entwicklung augenscheinlich.

71 Stalin: Sočinenija, Bd. 16, S. 15 f.

72 So die durchaus plausible Interpretation von Tucker, Robert C.: The Soviet Political Mind.

Stalinism and post-Stalin Change, London 1972, S. 90 f.

73 RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1034, l. 9, abgedruckt in: Chlevnjuk (Hg.): Politbjuro i Sovet Ministrov, S. 244, Fußnote 1; Pravda 52, 22.1.1941, S. 1.

kalkulierten mit einem deutlich höheren Anstieg der Erdölförderung um das Viereinhalbfache und sogar mit einer verhältnismäßigen, wenn auch geringen Reduzierung des Kohleanteils in der Brennstoffbilanz. Dennoch gedachten die Gosplan-Strategen dem flüssigen Brennstoff gesamtwirtschaftlich auch weiter-hin eine untergeordnete Rolle zu, wie der Planentwurf klar festhielt:

In der Brennstoffbilanz der UdSSR sollte [bis 1957] deutlich der Anteil des Torfes, des Ölschiefers und des Erdgases erhöht werden. Die Struktur der Energieträger der Sowjetunion wird sich von der US-amerikanischen durch einen geringeren Erdölanteil unterscheiden.74

Auffällig ist, dass die zuständigen Gosplan-Abteilungen 1941 keineswegs damit rechneten, den Treibstoffbedarf des Landes selbst mit einer innerhalb von 15 Jah-ren zu erreichenden Erdölförderung von 175 Millionen Tonnen decken zu kön-nen. Insbesondere der landwirtschaftliche Verbrauch sollte langfristig größ-tenteils durch die Vergasung fester Brennstoffe gedeckt werden, und in den Regionen ohne bekannte Erdölvorkommen waren synthetische Treibstoffe aus Kohle die erste Wahl der Planer.75

Aus den Akten ist nicht klar ersichtlich, inwieweit Stalin den Verlauf der Pla-nungen aktiv verfolgte oder über Ergebnisse informiert wurde. Die regelmäßige Anwesenheit des dafür verantwortlichen Gosplan-Vorsitzenden Voznesenskij in Stalins Büro während der Folgemonate und die bereits hinlänglich nach-gewiesene Tendenz des Politbüros, Plankonzeptionen durch die Vorgabe von Prioritäten und die Beeinflussung der relevanten Kontrollziffern zu überwachen, legen jedoch nahe, dass der Parteichef eine grobe Kenntnis über den Stand der Planungen hatte.76 Die internen Diskussionen um die Produktionsziffern für das Jahr 1947 verdeutlichen den Einfluss, den Stalin geltend machte. Unzufrie-den mit Unzufrie-den von Gosplan geplanten Produktionssteigerungen im Kohle- und Erdölsektor um jeweils rund 13 Prozent erhöhte er beide deutlich, wenn auch unterschiedlich gewichtet: 17 Prozent mehr Erdöl, aber 22 Prozent mehr Kohle sollte der Plan nun bringen. An der grundsätzlichen Möglichkeit, die

Erdöl-74 RGAE, f. 4372, op. 43, d. 125b, l. 18 sowie l. 29.

75 RGAE, f. 4372, op. 41, d. 184, l. 38 sowie l. 156; ebd., op. 43, d. 125v, l. 8.

76 Černobaev (Hg.): Na prieme u Stalina, S. 585. Zum Einfluss Stalins auf Planprioritäten um-fassend Gregory, Paul R.: The Dictator’s Orders, in: Gregory (Hg.): Stalin’s Command Econ-omy, S. 11–34.

förderung derart zu steigern, hegte er keine Zweifel – schließlich habe es Jahre gegeben, in denen allein Baku ein solches Wachstum erreicht habe.77

Wenngleich der abschließende Plan ein Drittel des staatlichen Gesamtbud-gets für Erdöl, Kohle, Elektrizität und Eisenmetallurgie veranschlagte, blieb der Posten für den flüssigen Energieträger der mit Abstand niedrigste der vier Sek-toren und betrug weniger als die Hälfte dessen, was für den Ausbau der Kohle-produktion aufgebracht werden sollte.78 Bezeichnend ist diesbezüglich, dass eine erst 1942 eingerichtete selbstständige Abteilung für Erdölfragen inner-halb der Gosplan-Strukturen unmittelbar nach Kriegsende aufgelöst wurde.79 Offensichtlich war die zuvor zur Verbesserung der Treibstoffversorgung als essentiell erachtete unabhängige administrative Einheit aus der Perspektive des Kremls in Anbetracht des sinkenden militärischen Verbrauchs nicht mehr erforderlich. Wahrscheinlich hielt Stalin es 1946 entsprechend tatsächlich für geboten, die vorübergehend verschobenen Entwicklungsparadigmen zu revi-dieren und die anzustrebende Brennstoffbilanz erneut zugunsten der Kohle zu definieren.

Im Siegestaumel dem Credo von der Richtigkeit, sogar Überlegenheit bishe-riger sozialistischer Wirtschaftspolitik folgend, blieb auch der wenig später ver-abschiedete vierte Fünfjahresplan lediglich ein Leitfaden zum »Wiederaufbau im alten Korsett«.80 Als wesentliches Ziel sah dieser vor, ab 1950 in allen als wichtig erachteten Industriezweigen die Vorkriegsproduktion zu übertreffen. Die Umbe-nennung der Volkskommissariate in zuvor als ›bourgeois‹ verschriene Ministe-rien im März des ersten Nachkriegsjahres sollte gleichsam das Ende der »Periode des revolutionären Umbruchs« kennzeichnen, dem neuen Namen sollte Konti-nuität und Konsolidierung folgen.81 Der 1941 erstellte Perspektiv plan kam auf-grund des deutschen Überfalls nie zur Anwendung, und eine Wiederaufnahme der Konzeptionsarbeiten nach dem Krieg fand durch die Lenin grader Affäre, der Voznesenskij und andere Gosplan-Führungskräfte zum Opfer fielen, ein jähes

77 So erinnert sich zumindest einer der anwesenden Volkskommissare, Malyšev: Dnevnik narkoma, S. 132.

78 Zaleski: Stalinist Planning, S. 416 f.

79 RGASPI, f. 644, op. 2, d. 104, ll. 49–50; RGAE, f. 4372, op. 48, d. 554, l. 176.

80 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 688–701; umfassend auch Dunmore, Timothy:

The Stalinist Command Economy. The Soviet State Apparatus and Economic Policy, 1945–53, London 1980; Zaleski: Stalinist Planning, S. 347–354.

81 RGANI, f. 2, op. 1, d. 7, l. 24, zitiert nach Danilov, Aleksandr A./Pyžikov, Aleksandr V.:

Roždenie sverchderžavy. SSSR v pervye poslevoennye gody, Moskva 2001, S. 179.

Ende. Dennoch knüpfte die unmittelbare Nachkriegsplanung größtenteils an die darin festgehaltenen energetischen Paradigmen der späten 1930er Jahre an.82

Hatten sich die Investitionsverhältnisse im Brennstoffsektor zuletzt deutlich zugunsten des Erdöls verschoben, rückte die Kohle nach 1945 erneut in den Fokus der sowjetischen Wirtschaftspolitik. Selbst die verheerenden Zerstörun-gen im Donbass und die Notwendigkeit des nahezu vollständiZerstörun-gen Wiederauf-baus der dortigen Minen und Schächte eignen sich angesichts der großen Pro-bleme des Erdölsektors nur bedingt, ein doppelt so hohes Investitionsvolumen zu erklären. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die regionale Verteilung der Neubautätigkeit. Allein in den von den Zerstörungen des Krieges nicht betrof-fenen Ostgebieten der Sowjetunion wurde ein höherer Betrag für den Ausbau der Kohleförderungskapazität veranschlagt als im gesamten Erdölsektor.83 Im Gegensatz dazu hatten die Gosplan-Verantwortlichen in der Anfangsphase der Planungen Ende 1944 in einem Entwurf – in vollem Bewusstsein um den Zustand der ukrainischen Industriegebiete – sogar noch eine fast gleichwertige Verteilung der Investitionen zwischen den beiden wichtigsten Brennstoffen

kal-kuliert.84 Auch hier hatten sich die Prioritäten offensichtlich geändert.

Entsprechend gering waren deshalb auch die Erwartungen bezüglich der möglichen Produktionssteigerungen. Das Vorkriegsniveau sollte erst 1950 geringfügig übertroffen werden, deutlich später und in geringerem Ausmaß als in anderen wichtigen Industriezweigen. Die tatsächlichen Prioritäten im

Entsprechend gering waren deshalb auch die Erwartungen bezüglich der möglichen Produktionssteigerungen. Das Vorkriegsniveau sollte erst 1950 geringfügig übertroffen werden, deutlich später und in geringerem Ausmaß als in anderen wichtigen Industriezweigen. Die tatsächlichen Prioritäten im