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Strukturelemente des Kulturtransfers

Im Dokument Interkulturelle Kommunikation (Seite 152-160)

Definiert man, notwendigerweise in zunächst schematisierter Form, Kulturtransfer als die interkulturelle Vermittlung von kulturellen Texten, Objekten, Diskursen und Praktiken von einem – im Allgemeinen für Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert dominant national definierten, aber nach Subsystemen ausdifferenzierten – kulturel-len System in ein anderes, so lassen sich in einem ersten Schrittdrei wesentliche Untersuchungsebenen unterscheiden: das kulturelle System zum einen der Aus-gangs- und zum anderen der Zielkultur; sowie die transferierten kulturellen Objekte, Diskurse, Texte und Praktiken.

Das Phänomen des Kulturtransfers weist eine Dynamik auf, die sich auf der Grundlage der Unterscheidung vondrei Prozessenbeschreiben lässt:

1. Erstens lassen sichSelektionsprozesseunterscheiden: Hierunter werden Formen der Auswahl von Objekten, Texten, Diskursen und Praktiken in der Ausgangskultur verstanden, die eine sowohl qualitative wie quantitative Dimension aufweisen. Aus der Buchproduktion eines Kulturraums – wie etwa des französischsprachigen – wird beispielsweise jeweils nur ein kleiner Bruchteil für Übersetzungen ausgewählt. Dies lässt sich präzise anhand von Übersetzungsstatistiken ablesen und – zumindest ansatzweise – auf qualitative Kriterien wie den ästhetischen Wert, das vermutete Publikumsinteresse, kulturelle Trends oder auch politische und soziale

Erwartungs-haltungen zurückführen. L. Jordan und B. Kortländer (1995) unterscheiden hinsicht-lich der Motive und Auslösungsfaktoren für Kulturtransferprozesse systematisch zwischentechnischen, praktischen und ideologischen Interessen:

a) Dastechnische Interesse, d. h. das »Interesse an der Optimierung von Arbeitsab-läufen, schlägt sich nieder im Import technischer Entwicklungen und Errungen-schaften aus dem Bereich der Kultur, z. B. in der Übernahme bestimmter Herstel-lungsverfahren für Druckgraphik, beim Bau von Musikinstrumenten, der Me-thode der Quellenkritik innerhalb der Geschichtswissenschaft, dem Nachbau von Organisationsabläufen oder institutionellen Strukturen im Bereich der Hoch-schulplanung etc.«.

b) Daspraktische Interesse, »das zunächst auf Fremd- und Selbstverstehen ausge-richtet ist, drückt sich aus vor allem in den Übersetzungen, den Text- und Werk-ausgaben, der Lektüre, Kritik und Vermittlung von Texten (aus allen Bereichen von Kunst und Wissenschaft), der Aufführung und Drucklegung von Musik- und Theaterstücken, der Organisation von Ausstellungen, dem Ankauf von Bildern etc.«.

c) Dasideologische Interesse»drückt sich aus in Normen und Werten, die durch die importierten Kulturgüter in ihrer Ursprungskultur tatsächlich vertreten werden oder durch solche Normen und Werte, die die importierten Güter nach der Ab-sicht der Importeure repräsentieren sollen« (Jordan/Kortländer 1995, 7).

2. Bei jeder Form des Kulturtransfers sind unterschiedlich gelagerteinterkulturelle Vermittlungsprozessezu beobachten (Espagne 1997; Lüsebrink/Riesz 1983). Diese Mittler- oder »Transportebene« (Jordan/Kortländer 1995, 7) umfasst in erster Linie drei Arten von Vermittlerfiguren und Vermittlungsinstitutionen:

Prozesse 1. Selektionsprozesse Quantität Qualität

2. Vermittlungsprozesse institutionell medial individuell

3. Rezeptionsprozesse Dimensionen

Ausgangskultur

kulturelle Artefakte

Zielkultur

Übertragung produktive

Rezeption kulturelle

Adaptation Kommentar-Nachahmung form

KULTURTRANSFER

Abb. 5.1 Strukturelemente des Kulturtransfers

a) Zum einenpersonale Vermittlerwie Reisende, freie Journalisten, Hauslehrer, Aus-landskorrespondenten, Austauschlehrer und -studierende, Ballett- und Orchester-chefs aus anderen Kulturen sowie Übersetzer. Im Tourismusbereich zählen hierzu Fremdenführer, Museumsführer, Dolmetscher sowie das Personal an Hotelrezep-tionen; im Unternehmens- und Wirtschaftsbereich die sogenannten ›interkultu-rellen Interfaces‹, zu deren Aufgaben u. a. der Kontakt mit Kund/innen aus ande-ren Kultuande-ren zählt, wie Außenhandelsmitarbeiter/innen, Sekretär/innen, insbe-sondere Fremdsprachensekretär/innen und Fremdsprachenkorrespondent/in-nen, Marketingverantwortliche, Übersetzer/inFremdsprachenkorrespondent/in-nen, Konferenzdolmetscher/innen und Messehostessen sowie Werbe- und Kommunikationsverantwortliche in Un-ternehmen, Institutionen und Agenturen (Walter 1995; Mast 2002).

b) Zum anderen lassen sichMittlerinstitutionenunterscheiden, deren wesentliche Aufgabe im Bereich der Kulturvermittlung besteht. Hierzu zählen in erster Linie die staatlichen Kulturinstitute und die kulturpolitischen Abteilungen der Außen-ministerien sowie bilaterale und kooperative Institutionen wie die Deutsch-Fran-zösischen Häuser und die Amerikahäuser, das Deutsch-Französische Jugend-werk, das Deutsch-Französische Sekretariat für die berufliche Bildung und der deutsch-französische Fernsehsender ARTE. Auch Verlage, die sich auf die Über-setzung ausländischer Literatur spezialisiert haben oder ihr besondere Aufmerk-samkeit widmen (wie der Verlag Actes Sud in Frankreich, der Peter Hammer-Ver-lag in Wuppertal oder der Suhrkamp-VerHammer-Ver-lag in Berlin; vgl. Müller 2015), sind zu dieser Kategorie interkultureller Vermittlerinstanzen zu zählen.

c) Schließlich nehmen die meisten Medien alsmediale Mittlerinstanzen, sowohl im Bereich der Printmedien wie des Hörfunks und der audio-visuellen Medien, eine interkulturelle Mittlerfunktion ein, indem sie, in sehr unterschiedlicher Intensität und Qualität, Informationen und Bilder über andere Kulturen transferieren.

3.Rezeptionsprozessebetreffen die Integration und dynamische Aneignung trans-ferierter Diskurse, Texte, Objekte und Praktiken im sozialen und kulturellen Hori-zont der Zielkultur und im Kontext spezifischer Rezeptionsgruppen. B. Kortländer (1995, 8–9) bezeichnet diese auch als »Integrationsprozesse« und versteht hierunter die »Integration des importierten Kulturgutes in den kulturellen bzw. den Bildungs-horizont des individuellen Rezipienten«, die notwendigerweise zu »Veränderungen in der Struktur« führe.Fünf Formen der Rezeptionlassen sich hierbei unterschei-den:a)Übertragung: Hiermit ist der kulturelle Transfer im Sinn einer möglichst original-getreuen Übertragung – etwa einer textnahen Übersetzung – transferierter kultu-reller Artefakte gemeint. Auch Phänomene wie die Aufführung von Theaterstü-cken und Filmen in anderen Kulturen in der Originalsprache oder der Export von originalsprachigen Büchern sind hierunter zu fassen.

b)Nachahmung: Hierunter sind Formen »epigonaler Eigenschöpfung« (Kortländer 1995, 8) zu verstehen, in denen das fremdsprachige und fremdkulturelle Muster in der eigenen Produktion deutlich erkennbar bleibt. Beispiele hierfür sind im li-terarischen Bereich die Nachahmung des historischen Romans nach dem Vorbild Walter Scotts in ganz Europa, beispielsweise bei Victor Hugo; im Film- und Medi-enbereich die Nachahmung von Mediengattungen wie Talkshows, Western-Filme – beispielsweise in Gestalt der ›Italo-Western‹ (Cine-Graph 2011) oder der James-Bond-Action-Filme außerhalb ihrer Entstehungskultur, den USA, in anderen Me-dienkulturen; oder im ökonomischen Bereich die Nachahmung von Methoden

und Praktiken des Managements US-amerikanischer Prägung in anderen Kulturen seit den ausgehenden 1940er Jahren.

c) Formen kultureller Adaptationbetreffen die kulturellen Veränderungen von Dis-kursen, Texten, Praktiken und Institutionen im Hinblick auf Spezifika der Zielkul-tur, etwa bezüglich differenter Wertvorstellungen, Identifikationsmuster sowie äs-thetischer Register. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Adaptation der Paratexte von Übersetzungen, beispielsweise die Wahl anderer Titel, Klappentexte und Titelillus-trationen bei Buchübersetzungen (Riesz 1985; Gouaffo 1998, s. Kap. 5.4); oder die auf deutsche Verhältnisse angepasste Adaptation eines Kollektivsymbols wie der Bastille im deutschen Sprach- und Kulturraum des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

Beispiele kultureller Umformung und zugleich Anpassung lassen sich in der Gegenwart in vielfältiger Weise und in sehr unterschiedlichen kulturellen Praxis-bereichen und Medien finden. Die Verbreitung des Internet beispielsweise hat zwar zu einer weltweiten Angleichung der Kommunikationsformen- und techniken, nicht aber ihrer Inhalte und der hiermit verknüpften Kommunikationsstile und Identitäts-formen geführt. Die 1997 formulierte These des indischen Informationswissen-schaftlers Subbiah Arunachalam vom Indian Institute of Technology, das »Internet gefährdet unsere Identität. Die elektronischen Medien sind so gleichmachend, daß die ganze Welt den Westen nachäffen wird« (Asendorpf 1997, 62), muss vor dem Hintergrund der seitdem zu beobachtenden Entwicklung deutlich relativiert wer-den. Der Transfer beispielsweise des Mitte der 1990er Jahre in den USA entstande-nen E-Commerce (Gründung von eBay 1995) nach Deutschland und Frankreich belegt sehr unterschiedliche, je nach Kultur verschiedene interkulturelle Aneig-nungsformen: nicht nur in sprachlicher Hinsicht, wo sich die französische Internet-sprache englischen Einflüssen gegenüber deutlich resistenter zeigt, sondern auch in seiner Verbreitung und Akzeptanz, in der sozialen Nutzung (die sich in Frankreich auf eine völlig anders gelagerte Produktpalette und preiswertere Artikel bezieht) und im Aufbau der Auktionsplattformen. Diese unterschiedlichen Aneignungs- und Rezeptionsformen erklären sich aus den rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmen-bedingungen, aber vor allem aus sozialen und mentalen Faktoren wie dem höheren Preisbewusstsein in Deutschland, einem differierenden Kaufverhalten (größere Bedeutung der direkten Kommunikation in Frankreich) sowie der distanzierteren Haltung der Franzosen gegenüber dem technologischen und kulturellen Einfluss der USA (s. Kap. 5.6). Diese unterschiedlichen Faktoren führten zu einer deutlich stärke-ren kulturellen Adaptation und Modifikation auch des in den USA entstandenen wirtschaftlichkulturellen Modells des E-Commerce in Frankreich als beispielsweise in Deutschland (Haberer 2001; Brodersen 2001; Vatter 2004).

Vielfältige Formen der Adaptation betreffen gleichfalls den Wirtschaftsbereich, wie etwa dieWerbung(s. hierzu ausführlich Kap. 5.7). So finden sich zum Beispiel in den französischen und in den entsprechenden deutschen Werbeprospekten für den Renault Mégane (1998) die gleichen Bilder und eine weitgehend identische äs-thetische Aufmachung. Völlig umgeschrieben wurden jedoch für den deutschen Markt und das deutsche Zielpublikum die Begleittexte. An die Stelle des persönli-chen, subjektiven und erzählerischen französischen Werbetexts, der Leser/innen und potentielle Kund/innen in eine Erlebnissituation mit dem Auto hineinzuverset-zen sucht, tritt in der deutschen Werbung eine distanziert formulierte Werbebot-schaft, die sich dezidiert objektiver gibt und stärker auf Informationen abhebt als der französische Originaltext (s. Abb. 5.2).

Eine ähnliche Tendenz zeigt eine Renault-Werbung aus den Jahren 2013 und 2014 (s. Abb.5.3 und 5.4 auf S.150/151): Die französische Werbung, die ebenso wie die deutsche in Publikumszeitschriften veröffentlicht wurde, präsentiert das Renault-Modell »Talisman« vor futuristischer Architektur-Kulisse in der Abenddämmerung mit der Überschrift »Meistern Sie Ihren Weg«; der Fließtext der Werbung enthält we-nige, aber die wichtigsten Informationen. Letztere stehen im Gegensatz hierzu im Mittelpunkt der deutschen Werbung, die – ähnlich, aber in konkreterer und explizi-ter sprachlicher Ausformulierung – die Kernbotschaft »Sicherheit« enthält: »Kon-trolle ist gut. 4 Control ist besser.« Im Gegensatz zur gleichzeitig zum selben Modell erschienenen französischen Werbung enthält die deutsche deutlich mehr Informa-tionen (etwa viermal so viele), u. a. auch zum Preis, zur Garantiedauer und zu tech-nischen Details wie der als Option angebotenen Allradlenkung.

Obwohl die kognitiven und emotionalen Kernbotschaften, die mit dem Auto ver-knüpft werden, im Wesentlichen identisch sind, unterscheiden sich ihre sprach-lichen Umsetzungen und Assoziationsnetze somit grundlegend und verweisen auf Unterschiede der kulturellen Systeme, insbesondere der Kommunikationsstile und der kollektiven Werte.

d)Kommentarformen:Der interkulturelle Transfer von kulturellen Texten, Diskur-sen, Praktiken und Institutionen wird häufig begleitet von Formen des Kommen-tars, das heißt der diskursiven Bedeutungsgebung und -interpretation. Im Bereich der Übersetzungen sind dies beispielsweise Formen der Literatur- und Kulturkri-tik. Im Fremdsprachenunterricht handelt es sich hierbei um pädagogische Begleit-texte, die den interkulturellen Transfer von Sprache und Wissen (über andere Länder und Kulturen) vorstrukturieren und kommentieren und somit ihre soziale Rezeption in der Zielkultur in entscheidendem Maße prägen. Im Mediensektor stellen Film-, Fernseh- und Musikkritiken über fremdkulturelle Medienangebote interkulturelle Kommentarformen dar. Im Bereich der Institutionen und Praktiken Französische Fassung, Paris, 1998:

Lignes fluides, comme dessinées par la mer. [= Überschrift].

Mercredi, 20h 15. La côte s’éloigne, mais les senteurs des pins nous parviennent toujours. Je revois encore Mégane Clas-sic tout à l’heure sur les quais, sur fond de grande bleue; son envergure, sa pres-tance naturelle, sa ligne intemporelle et surtout cet arrière bien affirmé qui dis-tingue, à mes yeux, les vraies berlines.

[Textbeginn, ca. 1/3 der Prospektseite]

Übersetzung: »Mittwoch, 20 Uhr 15. Die Küste entfernt sich, aber der Duft der Pinien folgt uns nach. Ich denke daran, wie vorhin der Mégane Classic am Ufer stand, vor dem großen Blau des Meeres; seine Größe, seine unaufdringlich stattli-che Ersstattli-cheinung, sein zeitloses Design und vor allem der wohl gestaltete hintere Teil der, in mei-nen Augen, die wahren Limousimei-nen auszeichnet.«

Deutsche Fassung der entsprechen-den Passage,mit gleichen Bildern und gleicher Text-Bild-Disposition. Brühl, Renault Deutschland, 1998:

Das schöne Gefühl, sich von Formen leiten zu lassen. [= Überschrift].

Wer sich von klaren Formen leiten lässt, wer in der Verbindung von Styling und Funktionalität den wahren Ausdruck der Design-Qualität erkennt, dem öff-net sich die Persönlichkeit des Mégane Classic innen wie außen auf faszinie-rende Weise.

Abb. 5.2 Renault­Mégane­Prospektwerbung, französische und deutsche Texte (Prospekt, farbig, A­4­Glanzpapier)

sind dies vielfältige Formen der Einführung und Erklärung fremdkultureller Ein-flüsse. Im kolonialen Kontext waren dies beispielsweise Schullehrbücher, schuli-sche Curricula und kulturpolitischuli-sche Werke, die die Einführung und Adaptation okzidentaler Institutionen wie Schule und Universität, von Symbolsystemen wie dem lateinischen Alphabet oder von Medien wie Radio, Fernsehen und Film vor-bereiteten und begleiteten. Im wirtschaftlichen Sektor gehören z. B. Fachbücher, aber auch Testberichte und Produktvorstellungen in Zeitschriften und im Internet zu diesem Bereich.

e)Produktive Rezeption: Hiermit sind Formen der kreativen Aneignung (nicht der imitativen Nachahmung) und Transformation von kulturellen Diskursen, Texten, Praktiken und Institutionen aus anderen Sprach- und Kulturräumen gemeint. Zu ihnen gehören auch Phänomene und Prozesse der »kulturellen Umdeutung« oder des »negativen Kulturtransfers« (Bruendel 1998).

Vor allem die zeitgenössische globale Medienkultur ist durch Prozesse nicht nur der Übersetzung, Imitation und Adaptation, sondern in zunehmendem Maße auch der produktiven Umformungundkreativen Aneignung von Medienangebotenaus anderen Kulturen gekennzeichnet (Ang 1996). Der in den 1950er Jahren entstan-dene indische sog. Bollywood-Film ist ein Beispiel dafür, wie okzidentale Medien-gattungen wie das Musical und der sentimentale Liebesfilm und Musikrhythmen Abb. 5.3 Renault­Werbung in französischen Print­

medien (2013)

wie Tango und Bossanova mit indischen Erzählformen und Mythen sowie der medialen Inszenierung indischer Geschichte und indischer Geographie kreativ ver-bunden wurden. Populäre indische Filme wieMother India(1957) undAn Indian Family (2002) veranschaulichen, wie hier okzidentale Medien- und Musikformen sehr unterschiedlicher Provenienz zu einer völlig neuen, genuin interkulturellen Filmgattung verschmolzen werden, deren Produktionszahlen und Publikumserfolg mittlerweile den der US-Hollywood-Filme erreicht haben und zum Teil sogar über-treffen.

Ein anderes Fallbeispiel für die kreative Dimension der zeitgenössischen Medien-kultur repräsentiert der millionenfach aufgelegte RomanHeidis Lehr- und Wander-jahre(1879) der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri. Der Roman wurde nicht nur in zahlreiche Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt sowie in verschiedenen Bühnenfassungen aufgeführt (Halter 2001), sondern 1974 auch in Japan zunächst als Zeichentrickfilm und dann seit 1998 in japanischen Comics (Mangas) für junge Mädchen in neue Bildsprachen und andere kulturelle Wertesysteme übertragen. Die populäre, in Deutschland vor allem als Mädchenbuch rezipierte Geschichte des Al-penkindes Heidi, das in der Idylle der Berge bei ihrem Großvater Zuflucht vor der Unrast und Brutalität der modernen Großstädte sucht, wurde von dem japanischen Zeichner Igarashi Yumiko erheblich verkürzt. Zugleich wurde der emotionale Gehalt Abb. 5.4 Renault­Werbung in deutschen Printmedien (2014)

des Werkes durch bestimmte Text- und Bildstrategien, die für japanische Mädchen-mangas charakteristisch sind, deutlich verstärkt. Den Sehnsüchten und Träumen von einer idealen, integren Lebenswelt, die auch in Spyris Erzählung eine wichtige Rolle spielen, wurde hier durch die Einführung von inneren Stimmen, »durch die das Gesprochene auf die Persönlichkeit der Figuren zurückverweist und Einfühlung he-rausfordert« (Domenig 2001, 163), ein zentraler Stellenwert eingeräumt und sie wur-den mit Rollenbildern, Werten und Iwur-dentifikationsfiguren japanischer Mädchen ver-knüpft: »Zur Charakterisierung von Heidi und Heidi-Produkten wird auffallend häu-fig das Adjektivkawaii(niedlich, süß) verwendet, was eine emotionale Nähe und ein warmes Empfinden gegenüber der gemeinten Figur zum Ausdruck bringt. Die Bezeichnungkawaiikonnotiert zugleich aber auch ›Kindlichkeit‹ und mit ›Kindheit‹

assoziierte Freiheiten« (Domenig 2001, 154).

Beide Beispiele, der indische Bollywood-Film ebenso wie die japanischen Mangas über Heidi, belegen, dass die globale Verbreitung der gleichen technischen Mittel und Mediengattungen keineswegs notwendigerweise eine Standardisierung von Ausdrucksformen nach sich zieht, sondern im Gegenteil häufig kreative Formen der Aneignung und kulturellen Umformung hervorbringt. In besonderem Maße bietet die japanische Gegenwartskultur, wie I. Hijiya-Kirschnereit in ihrem originellen Kul-turführer Japanveranschaulicht, eine kaum übersehbare Fülle von Beispielen für die Tatsache, dass sich im Zuge der Globalisierung »gleichzeitig lokale oder regionale Be-sonderheiten erhalten oder sogar neu herausbilden können« (Hijiya-Kirschnereit 2000, 15).

Formen des ›negativen Kulturtransfers‹(Bruendel 1998) implizieren eine Aneig-nung fremdkultureller Texte, Diskurse oder Praktiken, die deren formale Struktur be-lässt, sie aber mit völlig neuen Inhalten und Funktionen versieht, die dem Bedeu-tungsgehalt des Vorbilds oder Musters häufig geradezu diametral entgegenstehen.

Dies lässt sich beispielsweise anhand des frühen deutschen Nationalismus beobach-ten, etwa bei Ernst Moritz Arndt, der kulturelle Formen der öffentlich-massenwirk-samen Inszenierung kollektiver Identität aus Frankreich übernahm, diese aber zu-gleich sprachlich übersetzte, ästhetisch umformte und mit völlig anderen politischen Sinngebungen versah (Lüsebrink 1997). Statt der französischen Nationalfeste, deren Massenwirksamkeit Arndt bewunderte und nachzuahmen trachtete, konzipierte er – erstmals bei den nationalen Feierlichkeiten zum Gedenken an den ersten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1814 – deutschnationale »Vaterlandsfeste«

(Lüsebrink 1995b). Ihnen lag nicht mehr, wie im französischen Kontext, ein revolu-tionär geprägtes Nationenkonzept zugrunde, sondern ein ethnisch geprägtes Kon-zept von Nation, das bei den Feierlichkeiten im Jahr 1814 in völlig anderen, sich de-zidiert vom französischen Vorbild absetzenden und abgrenzenden sprachlichen, bildlichen, ästhetischen und rhetorischen Formen umgesetzt wurde.

Auf ähnliche Verlaufsformen und Funktionen verweist die Analyse des paradox anmutenden französisch-deutschen Kulturtransfers im Kontext des Ersten Welt-kriegs. Die französischen Ideale der Revolution wurden vorher zwar wahrgenom-men und rezipiert, aber nur, um sie entschieden abzulehnen. Steffen Bruendel um-reißt dies wie folgt:

»In der Negation liegt bereits die Anerkennung der Relevanz des Anderen. Auch ein negativer Bezugspunkt bleibt ein konstitutiver Bezugspunkt. Jedwede Ideenkonstruktion bedarf des ab-grenzenden Bezuges und erzwingt Grenzziehungen auch auf symbolischer Ebene. Die Gegen-überstellung der »Ideen von 1914« und der »Ideen von 1789« ist ein Beispiel für solche Grenz-ziehungen. Im Folgenden soll anhand der »Ideen von 1914« gezeigt werden, dass der

postu-lierte Gegensatz zum Feind, zu »1789«, den kulturellen Zusammenhang gerade nicht unter-brach, sondern im Gegenteil in polemischer Absicht intensivierte. Die deutschen »Ideen von 1914« sind ein Beispiel für kriegsfunktionalennegativen Kulturtransfer« (Bruendel 1998, 154).

Vielfältige Formen der interkulturellen Neuverwendung, Re-Kontextualisierung und Neuinterpretation von kulturellen Objekten, Diskursen und Praktiken, die im Allge-meinen mit den Begriffen»Recyclage culturel«und»Cultural Recycling«(Dionne/

Mariniello/Moser 1996) bezeichnet werden, können als Prozesse produktiver Rezep-tion verstanden werden. Gemeint sind beispielsweise Phänomene wie die Umfor-mung von Konsummüll (wie leere Konservendosen, ausgediente Auto-Nummern-schilder oder ausrangierte Reklametafeln) zu Gebrauchsgegenständen verschiedens-ter Art (Spielzeuge, Schaufeln, Trinkbecher, Kerzenleuchverschiedens-ter, Schubladen) in Latein-amerikaundAfrikaundihreanschließende,gelegentlichekreativeWiederverwendung als populäre Kunstobjekte (»Folk Art«) auf lokalen Märkten und dann in okzidenta-len Museen, Kunstausstellungen und -galerien. Sie stelokzidenta-len somit Phänomene eines erneuten Kulturtransfers dar, in diesem Fall aus der Alltagskultur außereuropäischer Gesellschaften in die europäische und nordamerikanische Kunstszene, wie beispiels-weise die AusstellungRecycled – Reseen1996 in den USA dokumentierte (Cerny/Se-riff 1996).

Kortländer definiert diese fünfte, am weitesten gehende Rezeptionsform im Pro-zess des Kulturtransfers als eine »häufig bis zur Unkenntlichkeit gehende Einarbei-tung des Fremden in das Eigene. [...] Es fällt deshalb schwer, diese Weise der Integra-tion im Einzelfall zu spezifizieren und ohne zu hohe spekulative Anteile zu beschrei-ben. Dennoch ist diese Art, fremdes Kulturgut aufzunehmen, ohne Zweifel die häu-figste und deshalb auch interessanteste. Das Fremde wird oft gar nicht als Bestandteil des herrschenden geistigen Klimas rezipiert und weiterverarbeitet, gelegentlich si-cher auch ohne das Bewußtsein davon, daß man überhaupt an einem Kulturtransfer partizipiert« (Kortländer 1995, 8).

Formen derproduktiven Rezeptionin Prozessen des Kulturtransfers verweisen somit auf die grundlegende Dynamik kultureller Prozesse selbst, die fremdkulturelle und fremdsprachliche Elemente in gleicher Weise integriert und transformiert wie Elemente des eigenen Sprach- und Kulturraums, so dass die Grenzen zwischen eige-ner und fremder Kultur sich verwischen und tendenziell auflösen. Die Analyse von Kulturtransferprozessen ist somit eng verknüpft mit der Untersuchung von Formen des kulturellen Synkretismus und der kulturellen Hybridisierung, auf die program-matisch kulturtheoretische Konzepte wie »Créolité«, »Métissage«, »Third Space«

Formen derproduktiven Rezeptionin Prozessen des Kulturtransfers verweisen somit auf die grundlegende Dynamik kultureller Prozesse selbst, die fremdkulturelle und fremdsprachliche Elemente in gleicher Weise integriert und transformiert wie Elemente des eigenen Sprach- und Kulturraums, so dass die Grenzen zwischen eige-ner und fremder Kultur sich verwischen und tendenziell auflösen. Die Analyse von Kulturtransferprozessen ist somit eng verknüpft mit der Untersuchung von Formen des kulturellen Synkretismus und der kulturellen Hybridisierung, auf die program-matisch kulturtheoretische Konzepte wie »Créolité«, »Métissage«, »Third Space«

Im Dokument Interkulturelle Kommunikation (Seite 152-160)