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2.1 Konzepte

2.1.4 Identität

Der Begriff ›Identität‹ bildet neben den Begriffen ›Kultur‹ und ›Kommunikation‹ ei-nen dritten Zentralbegriff der Interkulturellen Kommunikation. ›Identität‹ ist zu-gleich ein Modebegriff, der sowohl im sozialen Diskurs als auch in wissenschaftli-chen Diskursen häufig in unpräziser Weise verwendet wird. Eine grundlegende, häu-fig nicht berücksichtigte Unterscheidung betrifft die Trennung zwischen dem »Selbst als bloßem Lebenslaufresultat und dem Selbst als Resultat von sozialen Zuschrei-bungen« (Hahn 1987, 10). Fünf Dimensionen des Verständnisses von Identität spielen in der Interkulturellen Kommunikation eine Rolle:

1. Identität als offizielle Zuschreibung von Personenmerkmalen: z. B. im Pass und Personalausweis oder im Melderegister (offizielle Identität);

2. Identität als Zuschreibung von Eigenschaften durch Andere:andere Personen, Medien, Institutionen (zugeschriebene Identität);

3. Identität als Selbstzuschreibung:z. B. in persönlichen Äußerungen, in sozialen Netzwerken wie Facebook, in Autobiographien, Interviews, aber auch durch

sym-bolische Zeichen wie Kleidung, Haartracht und Sprachverwendung (affirmative oder manifestäre Identität);

4. Identität als Persönlichkeitsmerkmale und Lebenslaufresultat:die Gesamtheit der eine Person oder eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft prägenden Merk-male, Erfahrungen und Praktiken, wie individuelle oder kollektive Geschichte, Sprache(n), Sozialisation, Verwandtschaftsbeziehungen, Essens- und Kleidungs-gewohnheiten (objektivierbare Identitätsmuster);

5. Identität als Identifikationsangebot:hiermit sind Identitätsmodelle gemeint, die von Medien, Institutionen, Religionsgemeinschaften und Medien geprägt und ver-breitet werden und einen mehr oder minder großen Einfluss auf die Identitätsbil-dung und den Identitätswandel von Individuen oder Gruppen haben (projektive Identität).

Der 1949 in Beirut geborene und 1976 nach Frankreich emigrierte franko-libanesi-sche Schriftsteller, Essayist und Journalist Amin Maalouf hat in seinem BuchLes identités meutrières (»Mörderische Identitäten«, 1998/2000) präzise und anhand zahlreicher, sehr aktueller Beispiele die Verknüpfung dieser unterschiedlichen Dimensionen des Identitätsbegriffs aufgezeigt:

Er arbeitet die zunehmende Bedeutung,multikulturell geprägter Identitäten heraus. Diese betreffen vor allem die ›affirmative‹ als auch die ›objektivierbare‹

Identität, in zunehmendem Maße durch die (allerdings nicht in allen Staaten mögliche) Praxis der doppelten oder gar mehrfachen Staatsangehörigkeiten.

Er zeigt die Bedeutung und die Konsequenzen desIdentitätswandelsdurch poli-tische, kulturelle und religiöse Einflussfaktoren auf.

Das Konzept multikulturell geprägter Identitäten erläutert Maalouf anhand seiner eigenen Biographie und seines eigenen Selbstverständnisses. Er thematisiert hierbei auch indirekt die oben unterschiedenen Dimensionen des Identitätsbegriffs und ihre sowohl lebensweltliche wie interkulturelle Bedeutung. Die Frage, ob er selbst sich eher als ›Libanese‹ oder als ›Franzose‹ verstehe (affirmative Identität), beantwortet er wie folgt:

»Seit ich 1976 den Libanon verlassen habe, um mich in Frankreich niederzulassen, bin ich unzählige Male und immer in der allerbesten Absicht gefragt worden, ob ich mich »eher als Franzose« oder »eher als Libanese« fühle. Ich antworte jedes-mal: »Sowohl als auch!« Nicht aus Sorge um Ausgleich oder Ausgewogenheit, son-dern weil ich lügen würde, wenn ich anders antwortete. Was mich zu dem macht, der ich bin, liegt in der Tatsache begründet, daß ich mich auf der Grenze von zwei Ländern, zwei oder drei Sprachen und mehreren kulturellen Traditionen bewege.

Gerade das ist es, was meine Identität bestimmt. [...] Halb Franzose also und halb Libanese? Keineswegs. Identität läßt sich nicht aufteilen, weder halbieren noch dritteln oder in Abschnitte zergliedern. Ich besitze nicht mehrere Identitäten, ich besitze nur eine einzige, bestehend aus all den Elementen, die sie geformt haben, in einer besonderen »Dosierung«, die von Mensch zu Mensch [und von sozialer Gruppe zu sozialer Gruppe] verschieden ist« (Maalouf 2000, 7–8).

Identitätswandel(in allen fünf Dimensionen des Identitätsbegriffs) ist ein Grund-bestandteil sozialer und kultureller Entwicklungen. Er kann jedoch auch beschleu-nigt und interkulturell konfliktuell verlaufen. Dies ist vor allem der Fall, wenn

poli-tisch und religiös geprägte Identitätsmuster (projektive Identität) zu neuen Identi-tätszuschreibungen und Identitätsmustern führen, die negative Einstellungen zu an-deren Kulturen implizieren und auf die Abgrenzung der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft von anderen kulturellen Gruppen oder Gemeinschaften abzielen.

Maalouf nennt diese Form von Identitätsmustern zugespitzt »Mörderische Identitä-ten«, weil sie nicht nur verbale Konflikte, sondern auch Gewalt und Krieg hervorru-fen können – und in vielen Fällen hervorgeruhervorru-fen haben. Er illustriert diese Prozesse des konfliktuell verlaufenden Identitätswandels vor allem anhand der Bürgerkriege im Libanon (1975–1992) und im ehemaligen Jugoslawien (1991–1995), die auf der-zeitige Konflikte wie den Syrien-Krieg vorausweisen, und veranschaulicht sie u. a. an dem folgenden konkreten Beispiel:

»Es kommt vor, daß ein glücklicher oder unglücklicher Zufall, selbst eine unver-mutete Begegnung, sich stärker auf unser Identitätsgefühl auswirkt als die Bin-dung an ein tausendjähriges Erbe. Malen wir uns den Fall eines Serben und einer Muslimin aus, die sich vor zwanzig Jahren in einem Café in Sarajevo kennenlern-ten, ein Liebespaar wurden und dann geheiratet haben. Nie wieder werden sie ihre Identität so begreifen können, wie ein rein serbisches oder rein muslimisches Paar; ihre Vorstellung von Glauben und Vaterland wird niemals mehr so sein wie vorher. Beide tragen sie die Zugehörigkeiten in sich, die ihnen ihre Eltern bei der Geburt vermacht haben, aber sie werden sie nicht mehr auf die gleiche Weise wahrnehmen, ihnen nicht mehr den gleichen Stellenwert einräumen.

Verlassen wir Sarajevo noch nicht gleich. Verweilen wir dort noch für die Dauer eines kurzen Gedankenspiels. Richten wir unser Augenmerk auf einen etwa fünf-zigjährigen Mann auf der Straße.

Um 1980 herum hätte dieser Mann stolz und ohne sonderliche Gemütsbewegung erklärt: »Ich bin Jugoslawe«; auf näheres Nachfragen hätte er wohl hinzugefügt, daß er im Bundesstaat Bosnien-Herzegowina lebe und, nebenbei gesagt, aus einer muslimischen Familie stamme.

Zwölf Jahre später, auf dem Höhepunkt des Krieges, würde derselbe Mann spon-tan und mit Nachdruck geantwortet haben: »Ich bin Muslim!« Vielleicht hätte er sich sogar den vorschriftsmäßigen Bart wachsen lassen. Gleich darauf hätte er hin-zugefügt, daß er Bosnier sei, und es wäre ihm äußerst unangenehm gewesen, daran erinnerst zu werden, daß er sich einst mit Stolz als Jugoslawe bezeichnet hatte.

Wenn man unseren Mann heute auf der Straße befragen würde, gäbe er sich zuvörderst als Bosnier, sodann als Muslim zu erkennen. Er sei gerade auf dem Weg in die Moschee, würde er erklären und Wert auf die Feststellung legen, daß sein Land ein Teil von Europa sei und er hoffe, es eines Tages in die Europäische Union aufgenommen zu sehen.

Träfe man denselben Mann zwanzig Jahre später an gleicher Stelle wieder, wie würde er sich definieren wollen? Welche seiner Zugehörigkeiten würde er an die erste Stelle setzen? Die europäische? Die muslimische? Die bosnische? Ganz etwas anderes? Seine Balkanzugehörigkeit vielleicht?

Ich wage es nicht, Prognosen darüber anzustellen. Tatsächlich sind alle diese Ele-mente Bestandteil seiner Identität. Der Mann entstammt einer im Islam verwurzel-ten Familie; der Sprache nach gehört er zu den Südslawen, die einst in einem gemeinsamen Staat zusammenlebten, was heute nicht mehr der Fall ist; er wohnt in einem Land, das lange unter osmanischer wie unter österreichischer Herrschaft

stand und seinen Anteil an den großen Dramen der europäischen Geschichte hatte. In jeder Epoche hat sich eine seiner Zugehörigkeiten in einer Weise auf-gebläht, möchte ich fast sagen, daß sie alle anderen überschattete und mit seiner Identität als solcher verschmolz. Man wird ihm im Laufe seines Lebens die unter-schiedlichsten Märchen erzählt haben. Daß er Proletarier sei und sonst nichts.

Daß er Jugoslawe sei und sonst nichts. Und zuletzt, daß er Moslem sei und sonst nichts; man hat ihm während einiger schwerer Monate sogar einzureden ver-mocht, daß ihn mit den Bewohnern von Kabul mehr verbinde als mit denen von Triest!«

(Amin Maalouf:Mörderische Identitäten, Frankfurt a. M. 2000, 15–16)

Identität wird in der neueren interkulturellen Kommunikationsforschung, ebenso wie in benachbarten Disziplinen (wie Anthropologie, Soziologie, Kulturwissen-schaft), somit als grundlegendkonstruiert, wandelbar und pluralangesehen. Der Nationalstaat, der in Europa, aber auch auf anderen Kontinenten, im 19. und 20. Jahrhundert wirkungsmächtige kollektive Identitätsmuster schuf, hat in vielen Gesellschaften und Kulturen des 21. Jahrhunderts seine herausragende Prägekraft tendenziell eingebüßt. »Der Nationalstaat steht als Instrument einer kulturellen Ver-einheitlichung unter Druck«, so Terkessidis (2015, 36),

»von ›oben‹, weil er mehr und mehr in größere Verbände eingebunden ist und Kompetenzen an diese abtritt. Wirtschaftlich wird dieser Prozess etwa durch Freihandelsabkommen voran-getrieben, politisch durch Staatenverbünde wie die Europäische Union. Der Nationalstaat ge-rät aber ebenso von ›unten‹ unter Druck. Einwanderung und Individualisierung lassen die Be-völkerung zunehmend heterogener werden. Lebensstile und Traditionen haben sich ebenfalls verändert. Die Vielheit lässt sich kaum noch durch Homogenisierung verringern und muss als Tatsache anerkannt werden.«

Einkonstruktivistischer Identitätsbegriff, wie ihn u. a. Benedict Anderson, Amin Maalouf, Mark Terkessidis und Thomas Mayer vertreten, erlaubt es, die manipula-tive Wirkung von Identitätsmodellen zu erfassen, wie sie etwa in den nationalpopu-listischen Bewegungen der Gegenwart u. a. in Frankreich (Front National), Italien (Liga Nord) und Österreich (ÖVP) zu beobachten sind. Diese versuchen, die »Vor-stellung der Nation als exklusive Solidargemeinschaft zu reaktivieren« (Terkessidis 2015, 37) und zugleich nationale Feindbilder und Ausgrenzungsmodelle zu schaffen und in den Köpfen festzusetzen. Paradoxerweise erreichen sie durch die Spaltung der Bevölkerung und die Polarisierung der Gesellschaft genau das Gegenteil.

Im Dokument Interkulturelle Kommunikation (Seite 22-25)