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Die mediale Bedingtheit von Fremdwahrnehmungsmustern (»Images«) 105

Im Dokument Interkulturelle Kommunikation (Seite 112-120)

mustern (»Images«)

Im Gegensatz zur Gleichsetzung von ›Stereotyp‹ und ›Vorurteil‹ sind nicht nur ihre grundlegenden Unterschiede, sondern auch die kognitive Notwendigkeit sowie die mediale Bedingtheit stereotyper Wahrnehmung und Darstellung hervorzuheben. Im Bereich der Fremdwahrnehmung hängen differenziertere Formen unmittelbar vom Umfang des Wissens und, hiermit verbunden, der Intensität des Wissenstransfers zwischen anderen Gesellschaften und Kulturen und der eigenen Kultur ab. Aufgrund des fehlenden Wissens und des völlig unzureichenden Kultur- und Wissenstransfers etwa zwischen europäischen und afrikanischen Gesellschaften sind die Vorstellun-gen europäischer Gesellschaften über Afrika im Allgemeinen äußerst stereotyp, aller-dings zugleich – vor allem seit dem Ende der Kolonialzeit – in deutlich geringerem Maße als noch in den 1920er und 1930er Jahren von Vorurteilen geprägt.

Bei der Analyse von Fremdwahrnehmungsmustern ist gleichfalls ihremediale Be-dingtheitangemessen zu berücksichtigen. Da beispielsweise Werbetexte, wenn sie auf Fremdwahrnehmungsmuster zurückgreifen, geradezu notwendigerweise stereo-type Darstellungsweisen verwenden, ist es unzulässig, etwa von der stereostereo-typen Darstellung Frankreichs und der Franzosen in der Werbung auf das kollektive Frank-reichbild etwa der Deutschen insgesamt zu schließen. Die Verwendung stereotyper Frankreichbilder lässt sich in der Tat in zahlreichen Werbeanzeigen und Werbespots französischer Unternehmen auf dem deutschen Markt beobachten, ebenso wie in Werbekampagnen deutscher Unternehmen in Frankreich: »Während in Deutschland ein Franzose mit Baskenmütze für französischen Käse und Wein wirbt, preisen in Frankreich Schlagworte wie ›Qualität‹ und ›technische Präzision‹ deutsche Haus-haltsgeräte und Kraftfahrzeuge an. Werbung für französische Produkte vermittelt

»Savoir-vivre« – einen Lebensstil; Werbung für deutsche Produkte appelliert an

»Savoir-faire« – Qualitätsbewusstsein, kurz: ›Lebensart‹ statt ›Machart‹« (Glasenapp 1998, 141).

Ein Beispiel für die schriftliche und visuelle Umsetzung dieser stereotypen Frank-reichvorstellungen liefert eine Werbeanzeige der Fluggesellschaft »Air France«. Hier lautet das explizite Motto der Werbebotschaft: »Genießen Sie einen Vorgeschmack auf Frankreich, bevor Sie gelandet sind. Genießen Sie unsere Welt«. Die beiden Bild-motive zeigen eine sehr elegant gekleidete Stewardess zum einen auf der im Dritten Kaiserreich gebauten neoklassizistischen Brücke Pont Alexandre III in Paris vor dem Hintergrund des Eiffelturms; und zum anderen in der Kabine der Fluggesellschaft Air France.

Auch die Zigarettenmarke »Gauloises« verwendete traditionell das Makrostereo-typ Frankreich mit den Komponenten ›Freiheitsliebe‹, ›Ungezwungenheit‹ und ›Le-bensgenuss‹ (»Savoir-vivre«). Der Werbeslogan »Gauloises blondes. Liberté tou-jours« wird im Textteil ergänzt durch die in Anführungsstrichen als Zitat markierte Aussage »Heute mache ich mal, was ich will. Nichts!«. Das Bildmotiv zeigt einen männlichen Gauloises-Raucher in lässiger Pose, mit Dreitagebart, Jeans und offenem Hemd, vor einem Landhaus auf einer Steinbank sitzend, den Betrachter selbstbe-wusst anlächelnd.

In beiden Reklamen werden zwar Personen mit Eigenschaften gezeigt, die auch in deutschen Meinungsumfragen über die ›typischen Eigenschaften der Franzosen‹

seit langer Zeit an oberster Stelle genannt werden (Bourdet 1967; Tiemann 1982):

Ungezwungenheit, Sinnlichkeit, Erotik, Freiheitsliebe und Lebensgenuss

(»Savoir-vivre«). Zugleich ist jedoch das Frankreichbild nicht nur in intellektuellen Kreisen, sondern auch in breiteren Bevölkerungsschichten in Deutschland aufgrund der viel-fältigen sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Frank-reich und Deutschland sowie der seit den 1960er Jahren zunehmenden Intensität persönlicher Erfahrungen (Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, wissenschaftli-che und wirtschaftliwissenschaftli-che Verflechtungen etc.) ungleich differenzierter und komplexer geworden und lässt sich in keiner Weise auf stereotype Vorstellungsweisen reduzie-ren. Es lässt sich je nach Konstellation (Intensität der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Austauschbeziehungen) eine mehr oder minder aus-geprägte Kluft zwischen folgenden Elementen beobachten:

stereotypen Fremdwahrnehmungsmustern;

sozialem Wissenüber andere Kulturen, das auf Wissens- und Kulturtransfer, so-zialer Mobilität (Tourismus, Schüleraustausch etc.) sowie wirtschaftlichen Aus-tauschbeziehungen beruht;

Lebenswirklichkeitenanderer Kulturen.

Dies thematisiert beispielsweise der nachfolgende Artikel über die deutsch-französi-schen Wirtschaftsbeziehungen, der von stereotypen Vorstellungsmustern – wie sie beispielsweise in der Werbung und in Antworten auf standardisierte Meinungs-umfragen erscheinen – ausgeht, um diese mit der völlig anders gelagerten Lebens-wirklichkeit zu konfrontieren. Der folgende Text, der in der ZeitschriftJournal für

Abb. 4.5 Werbung der französischen Zigaretten­

marke »Gauloises«

Deutschlanderschien, wird dort von zwei Bildmotiven eingerahmt, die zentrale Ele-mente des Makrostereotyps ›Frankreich‹ verkörpern: einer eleganten, modisch gekleideten Frau und einem Glas mit Rotwein, das auf das Stereotyp des französi-schen Lebensgenusses (»Savoir-vivre«) verweist.

Frankreich

»Die Franzosen und die Liebe. Oh, là, là! Was fällt einem nicht alles spontan zu Frank- reich ein! Der Charme von Paris. Elegante Frauen. Mode. Parfüm. Laven-delblauer Himmel über der Provence. Endlose Sonnenblumenfelder. Jeder hat da so seine eigenen sinnlichen Bilder, Gerüche, Gerichte – jetzt raten Sie aber doch bitte mal, was davon holen wir uns tatsächlich ins eigene Land? Importieren wir Kosmetik? Köstlichen Käse, Rotwein vielleicht? Total daneben. An erster Stelle importieren die Deutschen aus Frankreich – Autos. Zweitwichtigster Einfuhrarti-kel: Flugzeuge. Gefolgt von Elektrotechnik, Chemieerzeugnissen, Eisenwaren. Ins-gesamt hat die Bundesrepublik aus dem Nachbarland Frankreich Waren im Wert von 61,7 Milliarden Mark bezogen. Die Import-Nr. 1 für uns.« (Journal für Deutsch-land, 1995, 15).

Hinsichtlich der Häufigkeit von Stereotypen in der Darstellung fremder Kulturen im Massenmedium Fernsehen lässt sich aufgrund der zunehmenden ›Entertainisierung‹

des Mediums sowie der Entwicklung der Seh- und Rezeptionsgewohnheiten (zuneh-mende Präsenz schnell geschnittener, bunter und clipartiger Filme) einewachsende Tendenz zur Stereotypisierungfeststellen. Sonja Kretzschmar (2002, 159) stellt als Fazit einer umfangreichen empirischen Untersuchung zur Darstellung fremder Kul-turen im deutschen, französischen und britischen Fernsehen fest:

»Ob es nun die positiven, fleißigen Asiaten-Stereotype oder die negativen Stereotype der Rus-senmafia sind, die sich sowohl auf globaler als auch auf innerstaatlicher Ebene wieder finden;

einem interkulturellen Dialog ist die Stereotypisierung eher abträglich. Sie lässt keinen Raum für eine wirkliche Begegnung, da die Ergebnisse bereits im Voraus festgelegt sind. Für die Me-dien und ihre Marktgebundenheit sind Stereotypen generell leichter zu vermitteln, da sie sich auch den immer kürzer werdenden Nachrichtenformen mühelos anpassen lassen. [...] Beson-ders die Stereotype vom Kampf der Kulturen ist medial leichter vermittelbar als der mühsame Dialog der Kulturen; es fällt leicht, hier starke Emotionen zu erzeugen, die über den Publi-kumserfolg entscheiden.«

4.4 | Kulturanthropologische Dimensionen und historische Brechungen

In zumindest allen frühneuzeitlichen und modernen Gesellschaften Europas und Amerikas lassen sich seit dem 16. Jahrhundert folgendevier Grunddispositive der Fremdwahrnehmung finden, die die Einstellung zu fremden Kulturen und ihren Angehörigen geprägt haben: (1) Faszination; (2) Abgrenzung; (3) Neugierde und Pragmatismus; (4) kultureller Synkretismus.

1. Die Faszination für das Fremde– und vor allem für radikal andere Lebens-und Kulturformen – resultiert häufig aus einem Bedürfnis nach Infragestellung Lebens-und Überschreitung der ästhetischen, moralischen, ethischen und kulturellen Normen der eigenen Gesellschaft und somit aus einem Gefühl der Entfremdung und des Man-gels heraus. Formen der Faszination finden sich beispielsweise im Bordtagebuch des

Kolumbus. In den Notizen vor allem zu seiner ersten und zweiten Entdeckungsfahrt dominiert zwar sehr deutlich ein pragmatischer »Verwertungsstandpunkt«, der fremde Gesellschaften und Kulturen insbesondere unter dem Blickwinkel ihrer Nutz-barmachung und Ausbeutung sieht und beschreibt (Moebus 1981). An zahlreichen Stellen ist jedoch auch eine unverhohlene Bewunderung der »paradiesischen Ur-sprünglichkeit von Landschaften und Menschen« zu erkennen, beispielsweise in sei-ner Beschreibung der Karibikinsel Fernandina, die »den allerschönsten Anblick von der Welt« biete (Kolumbus 1492/1981, 32). Formen der Faszination lassen sich in vielen Mustern der Fremdwahrnehmung finden und erscheinen charakteristisch für die Einstellung sozialer Gruppen und Schichten zu zahlreichen anderen Kulturen.

So war die französische Germanophilie ebenso wie die deutsche Frankophilie – das heißt die Faszination durch ein sehr positiv besetztes, idealisiertes Frankreich-bild – in erster Linie soziologisch in Teilen der deutschen Intelligenz und des Bürger-tums verankert, die sich hierdurch von preußisch-nationalistischen Traditionen und nationalistischen Ideologen wie E. M. Arndt (s. Kap. 4.1) abzugrenzen suchten.

Schriftsteller und Intellektuelle wie Georg Forster, Heinrich Heine und Walter Benja-min, aber auch Fernsehjournalisten wie Georg Stefan Troller und Ulrich Wickert re-präsentieren ein Frankreichbild, das durch eine deutliche Identifikation mit dem Nachbarland, seiner politischen Kultur und seiner Lebensart und großenteils auch durch emotionale Faszination durch Frankreich geprägt erscheint.

Eine völlig andere Form der Faszination durch fremde Kulturen repräsentiert Ger-trud Heises TagebuchReise in die schwarze Hautaus dem Jahr 1985. Das Werk, das eine Westafrikareise der Autorin aus einer subjektiven und intimistischen Innensicht heraus beschreibt, erscheint charakteristisch für die Afrikafaszination eines Teils der Generation von Mai 68 in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, der sich mit den Befreiungsbewegungen des afrikanischen Kontinents identifizierte und zugleich in Afrika nach alternativen, natürlicheren, sexuell freieren und sinnli-cheren Lebensformen suchte. Der Reisebericht schildert jedoch auch einen tief grei-fenden Prozess der Desillusionierung, der Konfrontation zwischen idealisierten Vor-stellungsmustern und widersprüchlichen Wirklichkeitserfahrungen, sowie den müh-samen und langwierigen Versuch, mit Afrikanern in neue, nicht von stereotypen Vor-stellungsmustern (vor-)geprägte Formen des interkulturellen Dialogs einzutreten.

2. Die Abgrenzung gegenüber anderen Kulturenberuht anthropologisch auf dem in allen Gesellschaften vorzufindenden Misstrauen gegenüber Unbekannten, Auswärtigen und Fremden, das heißt gegenüber Personen, die nicht den eigenen Fa-milienclans und sozialen Netzen angehören. In vormodernen Gesellschaften des eu-ropäischen Mittelalters bildeten vor allem religiöse Kriterien die Grundlage für so-ziale Formen der Abgrenzung zwischen eigenen und fremden Gesellschaften und der Ausgrenzung Andersgläubiger, die häufig – etwa im Kontext der Kreuzzüge des 12. und 13. Jahrhunderts – als Heiden, Ungläubige oder Häretiker bezeichnet sowie als minderwertig eingestuft und ausgegrenzt wurden. Die frühneuzeitlichen und modernen Gesellschaften haben die religiösen Trennlinien teilweise schärfer und ra-dikaler gezogen: so im Spanien des 15. bis 17. Jahrhunderts durch die Zwangsbekeh-rung von Juden und Mauren, die Vertreibung Andersgläubiger und die Einrichtung der Inquisition, oder im Frankreich des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts durch das Verbot anderer Religionen neben dem Katholizismus (Aufhebung des To-leranzedikts von Nantes, 1685) und die massenhafte Auswanderung der protestanti-schen Hugenotten. Im Zuge der Territorialisierung und Konfessionalisierung der eu-ropäischen Staaten seit dem ausgehenden Mittelalter wurde »die Bewegungsfreiheit

von fahrenden Gruppen und religiös Andersdenkenden, vor allem von Zigeunern, Täufern und Juden, eingeschränkt, wenngleich aufgrund der großen Mobilität, auf-grund von Bevölkerungsschwankungen und der Nachfrage nach Untertanen die ob-rigkeitlichen, kirchlichen und gemeindlichen Regeln selten konsequent eingehalten wurden« (Dülmen 2001,95).

Seit dem Beginn der Neuzeit haben vor allem zwei historische Prozesse eine Ver-stärkung undIntensivierung der Abgrenzung zu anderen Gesellschaftenund Kul-turen bewirkt: zum einen der Nationalismus, der die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem neu gezogen, mit neuen Bedeutungen ›aufgeladen‹ und nationalisiert hat; und zum anderen der Kolonialismus, vor allem in seiner imperialistischen Aus-prägung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der völlig neue Formen der Abgrenzung zwischen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften hervorgebracht hat.

Unter den vielfältigen Ausprägungsformen desNationalismus(Hobsbawm 1980) schuf in erster Linie das ethnisch geprägte Nationenmodell, das sich vor allem in Deutschland und zahlreichen osteuropäischen Staaten entwickelte, Abgrenzungs-formen, die häufig mit einer Herabwürdigung des Fremden und einer idealisieren-den Hervorhebung des Eigenen einhergingen. Ethnisch geprägte Nationenmodelle, wie sie Ernst Moritz Arndt und andere Vertreter des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts repräsentierten (s. Kap. 4.1), gehen von der Vorstellung angebore-ner gemeinsamer Charakterzüge der Nation aus, die sich scharf von den Eigenschaf-ten anderer Nationen abheben und aufgrund ihrer gewissermaßen ›biologischen‹

Verankerung durch Ausländer und Immigranten auch nicht völlig erworben werden könnten. Der ethnisch geprägte Nationalismus schürte nicht mehr – wie frühneu-zeitliche religiöse Formen der Ausgrenzung – die »Angst vor dem teuflisch Anderen«

(Dülmen 2000, 88), sondern beschwor die »›Reinheit‹ einer Gesellschaft, in der Fremdes immer weniger einen Platz hatte. [...]. Der Fremde war nun nicht mehr ein-fach der Auswärtige, der Andersgläubige, der ›Unmensch‹, sondern einer, der sich den Maximen der entstehenden Nationalkultur entzog. Hatte man in der Vormo-derne bei einer Herrschaftserweiterung von den neuen Untertanen keinen Verzicht auf ihre Tradition erwartet, sollte sich nun jeder in den neuen Staatsgrenzen als Deutscher, Franzose oder Italiener bekennen und sich entsprechend verhalten«

(ebd., 88).

DerKolonialismusbzw.Imperialismusdes 16. bis 20. Jahrhunderts, der von na-hezu allen europäischen Nationen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von Japan und den USA getragen wurde, führte in die Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt eine völlig neue Hierarchisierung der Bezie-hungen ein. Diese beruhte auf ethnischen und kulturellen Kategorien wie »Kultur«

und »Zivilisation« und dem hierdurch gestützten Bewusstsein einer nicht nur kultu-rellen, sondern angeborenen Überlegenheit der weißen Rasse. Während die Bezie-hungen zwischen der europäisch-mediterranen und der außereuropäischen Welt in der Antike und im Mittelalter zwar häufig von Feindschaft und Konkurrenz, aber auch von dem Bewusstsein einer grundlegenden kulturellen Gleichwertigkeit der Völker und Kulturen geprägt war, beruhte der kolonialistische Diskurs seit den gro-ßen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten des 15. und 16. Jahrhunderts nach Ame-rika und Südasien auf dem Postulat einer fundamentalen Überlegenheit der okziden-talen Zivilisation. Innerhalb des kolonialistischen Diskurses spielten wiederum un-terschiedliche, auch zum Teil nationenspezifische Fremdbilder und Fremdwahrneh-mungsmuster eine Rolle.

Im 16. bis 18. Jahrhundert dominierte dieDichotomie zwischen »Wilden« und

»Zivilisierten«(Bitterli 1976), die bei einzelnen zivilisationskritischen Autoren des 18. Jahrhunderts wie Jean-Jacques Rousseau in Frankreich und Georg Forster in Deutschland auch zur Umkehrung der vorherrschenden Wertehierarchien und zur Idealisierung des bis dahin abgewerteten Wilden zum »bon sauvage« (edler Wilder) führte. Im 19. und 20. Jahrhundert beherrschte die Unterscheidung zunächst zwi-schen ›primitiven‹ und ›zivilisierten‹ und dann, seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, zwischen ›entwickelten‹ und ›unterentwickelten‹ Völkern und Kul-turen die europäische Wahrnehmung außereuropäischer KulKul-turen. Der Kolonialdis-kurs unterschied hierbei – etwa im Rahmen der Kolonial- und Weltausstellungen – neben diesem grundlegenden Gegensatzpaar eine differenzierte Skala von »Entwick-lungsstufen«. Die Unterscheidung von ›primitiven‹ und ›zivilisierten‹ sowie von ›un-terentwickelten‹ und ›entwickelten‹ Gesellschaften war – und ist teilweise bis in die Gegenwart hinein – von paternalistischen Erziehungs- und Entwicklungsmodellen geprägt. Diesen liegt die Vorstellung zugrunde, außereuropäische Völker sollten und müssten sukzessive zu den Errungenschaften der europäischen Zivilisation hinge-führt werden, eine Vorstellung, die bis zum Ende der Kolonialzeit mit dem Bild vor allem der Afrikaner – aber auch anderer Angehöriger außereuropäischer Gesell-schaften (wie Indianer, Inuit, Ureinwohner Australiens, Südseebewohner) – als zu erziehenden ›großen Kindern‹ (»grands enfants«) einherging.

Die Kultur- und Rassenhierarchie, die der europäische Kolonialismus hervorge-bracht hat, spiegelt sich in sehr anschaulicher Weise in der europäischen Kolonialli-teratur, aber auch in den Bestsellerromanen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie dem Werk von Jules Verne. In Romanen wieL’Ile mystérieuse(1874;die geheimnisvolle Insel) undLe tour du monde en quatre-vingts jours(1872;Reise um die Welt in 80 Ta-gen) findet sich eine rückhaltloseIdealisierung der okzidentalen Zivilisation. Ihre herausragenden Vertreter, wie der Ingenieur Phileas Fogg, der Kapitän Grant und der Kapitän Nemo, werden als äußerst positiv besetzte Identifikationsfiguren dargestellt, die gegenüber den Vertretern anderer Kulturen die Rollen von Vorbildern und Erzie-hern einnehmen. Am anderen Ende der Werte- und Wahrnehmungsskala und damit am unteren Ende der sozialen Hierarchie befinden sich hingegen bei Jules Verne Afrikaner und Südseebewohner. Diese werden zwar als anthropologisch gleichwer-tig angesehen, aber zugleich, im Sinne des paternalistischen Kolonialdiskurses, als zu erziehende Repräsentanten »primitiver Kulturen«. In der Handlungsstruktur der Romane Vernes, etwa inL’Ile mystérieuse, nehmen sie nur völlig sekundäre Rollen ein und üben Hilfstätigkeiten aus, während die Handlungsinitiative uneingeschränkt den europäischen und nordamerikanischen Protagonisten, und hier vor allem den Ingenieuren, Seefahrern, Technikern und Journalisten, obliegt (Colonna d’Istria 2005).

3.Neugierde und Pragmatismusals Wahrnehmungsformen des Fremden haben gleichfalls mit der kolonialen Expansion der Frühen Neuzeit und der Moderne eine neue Ausprägung erfahren. Die umfangreiche Reiseliteratur über außereuropäische Gesellschaften, die im 18. und 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Segmenten des Buchmarkts zählte, und die Entstehung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Forster, La Pérouse, Cook, Humboldt), sind im Wesentlichen auf ein wachsendes politisches, soziales und wirtschaftliches Bedürfnis nachHerrschaftswissenzurückzuführen.

Diese grundlegende, politisch und sozial bedingte Motivation, durch differenziertes Wissen über Sprachen und Kulturen die unterworfenen außereuropäischen

Gesell-schaften besser und effizienter beherrschen zu können, steht auch im Zusammen-hang mit der Entstehung von Fachdisziplinen wie der Ethnologie, der Afrikanistik, der Anthropologie, den Islamwissenschaften und der Orientalistik im Europa des 19.

und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Die Wissensproduktion über außereuropäische Gesellschaften basierte zwar häu-fig auf kolonialistischen Mustern der kulturellen Hierarchisierung, führte jedoch durch die Aufwertung empirischer Beobachtung und Erfahrung sukzessive auch neue, differenziertere Fremdwahrnehmungsformen ein. Dies lässt sich etwa in den Berichten der jesuitischen Missionare im Südamerika des 18. Jahrhunderts beobach-ten, die als Vorläufer der modernen Ethnologie gewertet werden. Jesuiten wie Jo-hann Jakob Baegert (Nachrichten von der Amerikanischen Halbinsel Californien, 1772) und Martin Dobrizhoffer (Geschichte der Abiponer, einer berittenen und kriege-rischen Nation in Paraguay, 1783) beschäftigten sich in äußerst minutiöser Weise mit indianischen Kulturen, Sprachen und Religionsformen, um auf dieser Wissensgrund-lage die indianische Bevölkerung effizienter beherrschen und zum Christentum be-kehren zu können (Lüsebrink 2004a). Zugleich spiegeln ihre Diskurse jedoch auch die radikale kulturelle Andersartigkeit indianischer Kulturen, ihren Willen zu Eigen-ständigkeit und kulturellem Widerstand, die das Selbstverständnis europäischer Zi-vilisationen als Vorbilder und Modelle für andere, vorgeblich ›primitivere‹ Kulturen im Grunde nachhaltig in Frage stellen (Lüsebrink 2004b).

4. Kultureller Synkretismus(s. Kap. 2.1.3) bedeutet Vermischung der eigenen und fremder Kulturen im Rahmen neuer Ausdrucks- und Darstellungsformen sprach-licher, sozialer, politischer und kultureller Art. In dieser Perspektive ließe sich auch von einer transkulturellen Identität sprechen. Bezüglich der Fremdwahrnehmungs-formen impliziert der kulturelle Synkretismus, dass zwischen Eigenem und Frem-dem und damit zwischen kulturellen Selbst- und Fremdbildern nicht (mehr) deutlich unterschieden werden kann. Dem Modell des kulturellen Synkretismus liegt die These zugrunde, dass alle Identitäten und Kulturen mehr oder minder starken trans-kulturellen Einflüssen unterliegen und somit grundlegend interkulturell geprägt sind. Während vor allem die nationalistischen und kolonialistischen Diskurse des 16. bis 20. Jahrhunderts eine mehr oder minder ausgeprägte Autonomie und damit auch Abgrenzung von Kulturen betonten, hat die postmoderne und postkoloniale Ära in vielen Bereichen das Bewusstsein synkretistischer Identitätskonzeptionen hervorgebracht.

Die Autoren des kulturtheoretischen ManifestsEloge de la Créolité(›Lob der Kreo-lität‹, 1989) sehen den karibischen Raum als ein antizipatorisches Laboratorium der zukünftigen Kulturentwicklung, in der, wie auf den Antillen als Folge von Kolonialis-mus und Sklavenhandel, die Sprachen und Kulturen Afrikas, Amerikas, Europas und Asiens eine kreative Synthese eingegangen seien (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989). Der mexikanische Kulturtheoretiker Néstor García Canclini (1989) und der kubanische Schriftsteller und Essayist Alejo Carpentier (1949/84) stellen die Kultu-ren Südamerikas als grundlegend ›hybride‹ KultuKultu-ren dar, die über Jahrhunderte hin-weg aus Gründen der sozialen und politischen (Selbst-)Legitimation der Kolonial-herren und der weißen Oberschicht als lateinamerikanische und damit überwiegend europäisch geprägte Kulturen und Gesellschaften dargestellt wurden, was nicht den sozialen und kulturellen Realitäten entspreche.

Auch in europäischen Gesellschaften der Gegenwart hat das Bewusstsein, dass

Auch in europäischen Gesellschaften der Gegenwart hat das Bewusstsein, dass

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