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Sprichwort und Redewendungen

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 138-147)

Exkurs 4 : Lokaler Diffusionssradius – das Schandlied auf Judas

1. Sprichwort und Redewendungen

Das Sprichwort weist eine ähnlich hohe Internationalität auf wie das Zaubermärchen und hat im gleich hohen Maße das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Rund um das parömiologische Periodikum Proverbium519 und das gigantische Bibliographie-Pro-jekt von Wolfgang Mieder520 hat sich eine eigene Forschergruppe gebildet, an der auch Südosteuropa besonderen Anteil hat. Matti Kuusi hat einen ähnlichen Typenkatalog vorgelegt, wie er für das Zaubermärchen existiert521. Sprichwörter wurden schon im Al-tertum gesammelt522 und in Dichtung und Philosophie verwendet523, dann in byzanti-nischen Klöstern abgeschrieben524, aus der oralen Tradition neu aufgenommen525 und in Predigten, Homilien und erbaulichen Schriften wieder in die mündliche Überlieferung zurückübertragen526, so daß man nach Maßgabe der Tatsache, daß im orthodoxen Bal-kanbereich solche griechischen Kollektionen zu lehrhaften und erbaulichen Zwecken in die Vernikularsprachen übersetzt wurden, gerade in Südosteuropa von einem hohen Homogenitätsgrad des Sprichwortgutes sprechen kann. Dazu kommen die Bibelsprich-wörter, die in allen Sprachen weiterleben527. Die intensive Beteiligung der Schrifttra-dition an der mündlichen Überlieferung der Sprichwortformen (Verbreitung antiker Sprichwörter und Sentenzensammlungen durch den Humanismus)528 hat allerdings im europäischen Raum zu einer erstaunlichen Ubiquität dieser Folkloreform in Lehrsatz, Struktur, Bildgebung und Sprachführung geführt und auch die Anregung zu den ersten südosteuropäischen Sammlungen gegeben529 ; dazu tritt freilich die Kommensurabilität der Grundmuster sozialer Erfahrung und menschlichen Soseins, die weltweit gewisse Basiskonstanzen aufweist. Die Anzahl der Sprichwortsammlungen, selbst für Südosteu-ropa allein, ist kaum zu überblicken ; die Ähnlichkeit oder auch Gleichheit des Spruch-gutes hat zu z. T. weitgreifenden Komparationen geführt und zu umfangreichen lexika-lischen Darstellungen530. Darüberhinaus sind auf dem theoretischen Sektor bedeutende Arbeiten zum Situationskontext (okkasionelle Anwendung, Anti-Sprichwörter,

ironi-scher oder »falironi-scher« Gebrauch), zur kommunikativen Funktion531, zu systemtheoreti-schen und semiotisystemtheoreti-schen Aspekten532, zur Ästhetik und Struktur entstanden533, so daß man berechtigterweise von der Existenz einer parömiologischen Theorie sprechen kann.

Was ist ein Sprichwort (proverbium, παροιμία) und wozu dient es ? Die vielen Defi-nitionsversuche zwischen inhaltlich/formalen Bestimmungen und zeichentheoretisch/

kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen (Sprechakttheorie)534 könnte man etwa dahingehend verbinden, daß man sagt, Sprichwörter, Spruchweisheiten, oral überlie-ferte Sentenzen (γνώμαι), Redensarten und stereotype Redewendungen geben zumeist prägnant und ausdrucksverfestigt Lebensnormen und Verhaltensregulative auf bildliche oder metaphorische Art wieder, oft aus Anlaß einer ungewöhnlichen oder normabwei-chenden Situation, wo Zuflucht zu kollektivem Wissen gesucht wird ; diese Ratschläge und Kommentare zur Situation sind oft ambivalent, je nach Funktionskontext oder auch historischer Entwicklung. Diese Spruchformen weisen eine Vorliebe für Rhyth-mik oder Versifizierung, Metaphorik oder seltene Metonymie auf, ebenso wie für den Gebrauch rhetorischer Figuren wie (Binnen)Reimbildung, Alliteration, Parallelismus und Paronomasie. Wie sich in der Folge demonstrieren läßt, weist das Spruchwissen der Balkanvölker hohe Homogenität auf, was neben den allgemein historischen Fakten auch seinen Grund in einer spezifischen Texttradition des Spruchguts zwischen Schrift-lichkeit und MündSchrift-lichkeit hat. Ältere Definitionsversuche sind vorwiegend vom In-halt ausgegangen (»proverb is the wisdom of many and the wit of one«)535, aber schon Archer Taylor hat eingestanden, daß eine Maximaldefinition gar nicht möglich ist536. Bei einer Minimaldefinition könnte man als charakteristische Merkmale anführen : die Kürze und Prägnanz, die Formverfestigung, die Bildhaftigkeit, die Metaphorik und die Traditionalität537.

Unter gattungstheoretischen Aspekten kann man versuchen, das Sprichwort von der Sentenz und den sprichwörtlichen Redensarten abzuheben538 : In der Sentenz fehlt die Bildhaftigkeit und Metaphorik539, die »Lehre« wird direkt und oft im Imperativ aus-gesprochen (»Tu das Gute und wirf es ins Meer«, eyigi yap, denize at, κάν’ το καλό και ρίξ’ το στο γιαλό). Die Kollektionen selbst nehmen auf solche Differenzierungen meist keine Rücksicht und die Kommentare beschränken sich gewöhnlich auf die Erläute-rung des Sinnes hinter dem gebotenen Bild, auf den Situationskontext der Anwendung, auf eventuelle Herkunft aus der Schrifttradition bzw. auf Vergleiche in einer regionalen, nationalen oder sprachübergreifenden Dimension. Das Sprichwort steht oft in engem Zusammenhang mit dem Rätsel540, aber auch mit dem Märchen541 und der Fabel542. Unter den Ländern Südosteuropas sind in der Sprichwortforschung Ungarn543 und Griechenland544 besonders zu erwähnen, aber auch die südslavischen Länder545 und Rumänien546. Die umfangreichsten kommentierten Sammlungen erscheinen z. T. schon vor 1900547.

Die Komparation der Sprichwörter einer Region kann nachweisen, daß es vielfach für eine Sentenz eine Art Gegensprichwort gibt, die entweder in strenger Antithese steht zu dem eben Gesagten, oder eine Ambivalenz hinterläßt, die für die Anwendungs-strategien des Spruchguts charakteristisch erscheint : Es ist dem sozialen Ermessen des Individuums überlassen, in welchem situativen Kontext welches Sprichwort angewendet wird : Was die Sammlungen als Interpretation angeben, ist ein konventioneller General-nenner, der viele Abweichungen und Modifikationen zuläßt (z. B. in den erweiternden Zusätzen oder bei den Anti-Sprichwörtern)548. Dies sei an einem Beispiel aus der läng-sten Sprichworttradition demonstriert, der griechischen, da hier in vielen Fällen byzan-tinische oder auch altgriechische Analoga anzuführen sind : die alten Leute. Der Alte wird negativ gesehen (Was ist der Alte ? Husten und Spucke, Furz und Rheuma)549, aber auch extrem positiv (Hast du keinen Alten, so kauf dir einen) 550. Sobald die Sprache auf die Sexualität kommt, werden die Urteile eindimensional abwertend (Die Zärtlichkeiten des Alten sind wassergekochter Spinat)551 ; gerontaler Sex gilt als grotesk (Schläfst du mit der Alten, vertust du deinen Samen)552, die lüsterne Alte ist eine beliebte Karnevalsfigur (vgl.

den Ersten Teil). In der positiven Bewertungskategorie553 (bereits byzantinisch : Wenn du keinen Alten hast, zahl und kauf )554 besteht die Begründung darin, daß er wegen sei-ner großen Erfahrung und abgeklärten Urteilskraft als weiser Ratgeber unentbehrlich ist. Dazu gibt es eine deutlichere Sentenz im Imperativ : Hör auf den Rat des Alten und die Meinung des Gebildeten555 (bereits im »Spaneas«, 12. Jh.)556. Und in anderer Version : Besser der gute Alte als der bessere Junge (Folegandros), bereits bei Euripides zu finden und europaweit verbreitet557. Oder (auch für die Alte) : Der Teufel weiß viel, weil er alt ist558. Und in moraldidaktischer Auslegung : Wer auf die Alten nicht hört, geht in die Schläge559. Als gerontokratischer Führungsanspruch : Immer den Jungen am Mast, den Alten am Steu-erruder (Zante)560. Und in schwankhafter Auslegung : Vom Alten hör das Wort und nicht die Furze561. Dies steht schon im Übergang zu den negativen Einschätzungen.

Die ironischen, verspottenden und satirischen Sprichwörter über den Alten sind zah-lenmäßig häufiger : Hier geht es um somatische Gebrechlichkeit, Impotenz, asymme-trische Dysanalogie von Worten und Taten, Fixiertheit auf die Vergangenheit, labile Gesundheit, Unfähigkeit, getane Wohltat zu vergelten, die Reduktion des Interesses auf das Essen, Schlaflosigkeit usw. Auch hier beschränkt sich das Sprichwort in sei-ner Bildlosigkeit häufig auf eine Sentenz. Z. B. Alt bis du geworden und zu nichts nütze / nur das Brot machst du kaputt (Chios)562 ; erweitert : Alt ist er geworden und mit wei-ßem Bart und Läusen / ihn sehen die Mädchen und brechen in Lachen aus (Chios)563. Oder sein Interessenshorizont ist auf den Suppentopf beschränkt : Der Alte hat zu essen, es mag die Alte stöhnen (Ostkreta)564, oder das europaweite : Der Junge die Ehre, der Alte das Essen565, Alle lieben die Waffen, der Alte den Pfannkuchen566 ; zur Schlaflosigkeit das weltweit verbreitete : Wehe dem Jüngling der wacht, dem Alten der schläft567 ; für seinen

Geiz : Halte, Alter halte !568 oder Halte, Alter, damit du hast569 ; über die beschränkte Seh-fähigkeit : Nimm, Alter, deine Brillen / auf daß du deine Arbeit machst570 ; seine Gereiztheit, wenn man ihn Alter nennt : Alter hast du mich genannt, Böses hast du mir gesagt (schon byzantinisch)571 ; er will als Jüngling erscheinen und mit Mädchen Umgang pflegen : Der Alte ging zum Spielen hin / die Alte zu den Hüten572 (gemeint ist der Hutmacher, wo die Mädchen verkehren), europaweit Der alte Kater will zarte Mäuse573 ; besonders scharf wird gegen seine Impotenz vorgegangen : Des Alten Streicheln, des Jungen Beischlaf574,

doch selbst sein Streicheln ist lustlos : Es ist das Streicheln des Alten / wie wassergekoch-ter Spinat575, freudlos auch seine Gesellschaft : Was ist der Alte ? Husten und Speichel / Furz und Rheuma (Ostkreta)576, Die Zärtlichkeiten der Alten / sind Rotz und giftige Sachen (Chios)577, Die Spiele des Alten / wassergekochte Zwiebel ; / die Spiele der Alten / wasserge-kochter Spinat578. Doch die Heirat mit dem Alten hat noch eine anderen Dimension : Das Mädchen macht seine Partie, der Alte stirbt bald und sie kann sich, reich geworden, mit einem Jungen verheiraten (stereotypes Motiv der europäischen Komödie) : Mit der Leiche des Alten / nimmt sich die Junge einen Burschen (Ionische Inseln, Kreta)579 ; der Alte

quält sich mit seinem schwachen Körper ab : Soviel sich der Alte schmückt / beim Berg-aufgehen erkennt man ihn (Lesbos)580, zur Gefahr des Stürzens : Der Alte, [stirbt] durch das Hinfallen / oder das Scheißen (Athen, auch italienisch)581, Das Stolpern des Alten, / Botschaft an Charos582, allgemein zur labilen Gesundheit : Den Alten fragt man nicht, wo es wehtut, sondern wo nicht583 ; er überlebt nur mit dem Wein : Der Lehm hält die Mauer / der Wein den Alten (europaweit)584 ; zur Infantilisierung : Der Alte wird zum Kleinkind585 ; zu

seinen Prahlereien mit Taten der Vergangenheit : Der Alte und der Fremde voller Prahlerei (europaweit)586 ; zu seiner bösen Zunge : Wo der Alte böser Skandal, wo die Alte schlechter Rat587 usw.588. Es ist auffallend, daß diese freizügigeren Sentenzen fast alle aus dem

In-selraum stammen.

Die positiven Urteile über die Alte sind selten589 ; die Sprichwörter über ihre sexuelle Erfahrenheit (Die alte Henne hat den Saft)590 beziehen sich eher auf die Frau in mittleren Jahrgängen. Klimakterium und Absenz der Fekundität werden brutal angekreidet : Wer mit der Alten schläft, vertut seinen Samen591 oder ironisch über die Unnotwendigkeit ver-hütender Vorkehrungen : in byzantinischer Version Απότις εγαμήθη η γραία, εμανδάλω-σεν592 ; der Beischlaf bleibt folgenlos593. Ihre Heiratswilligkeit wird mitleidlos verfolgt : Eine Alte mit einem Zahn / wollte Hochzeit, die Furzerin (Ionische Inseln)594, ebenso wie ihr gewollt mädchenhaftes Aussehen : Die verrunzelten Wangen und das Gehen in der Steigung verraten sie595. Ihre magischen und prophetischen Eigenschaften werden un-verhohlen angezweifelt : Die Orakel der Alten Märchen des Alten596, und byzantinisch : Die Alte sieht den Traum, erklärt ihn wie sie will597. Sie ist schlau598 und ränkefreudig599,

es gefallen ihr aber die leichten und freudigen Dinge : Süß fand die Alte die Feigen600, ihre Wünsche sind haltlos und oft unangemessen : In Byzanz sagte man Die Alte mitten

im Winter / hatte Lust auf Zuckermelone (Η γραία το μεσοχείμωνον / πεπόνιν επεθύμη-σεν)601, Die Alte will hundertmal zum Tanzen und tausendmal, um aufzuhören602, Binde, Alter, deine Hose, denn was die Alte sieht, das will sie603 usw.604.

Die würdige Matrone, in deren Hände das Heilwissen der Volksmedizin liegt und die die Krisenphasen des Lebenslaufes (Geburt, Hochzeit, Krankheit und Tod) ver-waltet, scheint in diesem Spruchgut überhaupt nicht auf. Nach Maßgabe der patriar-chalen Strukturen bleiben positive Attitüden nur dem Greis vorbehalten, doch auch hier überwiegen die kritischen Einstellungen. Das erhebt die Frage nach den Trägern dieser vorwiegend spottenden Sprichwörter und Sentenzen und den Situationen und Kontexten, in denen sie angewendet werden : In den meisten Fällen geht es deutlich um signifikante Abweichungen von der normierten Sozialrolle der Geronten605 und die Sprecher scheinen einer mittleren Altersstufe anzugehören. Nach Maßgabe der Band-breite der Themen um das unangemessene erotische Verhalten der Greisin dürften es in den meisten Fällen um Männer-Reden gehen.

Doch das Spruchgut kommentiert, kontrolliert und reguliert nicht nur soziales Ver-halten606 in Metaphern und Bildern, die vorwiegend aus dem Agrarleben stammen, sondern leiht sich Paradigmata auch aus der Welt religiöser Vorstellungen und zentraler Figuren aus dem Heilsgeschehen. Gerade für Südosteuropa sind, wie schon mehrfach erwähnt, der Freund und Feind des Herrn, Lazarus und Judas, zu zentralen Referenz-bereichen geworden, die in vielen Sektoren der Volkskultur eine signifikante und viel-fältige Rolle spielen607. Davon ist das Sprichwort in Alltagssituationen nicht ausge-nommen. Auf den Auferweckungsruf Lazarus, veni foras (Joh. 11,43) bezieht sich etwa das Sprichwort mit der Stimme auch der Lazarus, mit dem man jemanden belegt, der ganz plötzlich und unerwartet erscheint und von dem man soeben gesprochen hat608, durch Entsakralisierung dann auch mit der Stimme auch der Esel 609 ; wie Lazarus (Σαν τον Λάζαρο) sagt man für jemand, der sich nach langer Zeit wieder sehen läßt, über dessen Verbleib man nichts erfahren konnte, man nicht wußte, ob er lebendig oder tot ist, aber auch für einen Abgemagerten (dies bezieht sich auf die Wandmalereien der Auferweckungsszene in den orthodoxen Kirchen)610. Auf sein Zweites Leben rekurriert nichtlachend wie Lazarus für den sauertöpfischen Eigenbrötler (Skyros, Lesbos)611, auf die Kalanda-Sänger er singt uns den Lazarus (auf Zypern für Störenfriede), auf die Fei-ertagsruhe von Lazarussamstag bis Montag nach Thomassonntag (erster Sonntag nach Ostern) Von Lazarussamstag bis Thomas-Montag sind alle Tage gleich612. Auf das einmalige Lachen in seinem Zweiten Leben nach manchen Legenden, wo ein Dieb einen Tonkrug stiehlt, weist Die eine Erde [Mensch] stiehlt die andere (Zypern)613. Der Viertägige hat ihn befallen (τον έπιασε τεταρταίος) sagt man auf Naxos für jemanden, den große Angst befallen hat614, auf Zypern wie Lazarus bis du geworden, wenn jemand die Farbe verliert, als Braut des Lazarus gilt die junge Tote in maniatischen Totenklagen615 und das Verb

λαζαρώνω bedeutet in die Totenbinden wickeln616. Hier ist eine religiöse Volksfigur in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen, Pegelmesser der Beliebtheit des »Viertä-gigen« (quatriduanus, τεταρταίος)617.

Ιn typologischem Gegensatz dazu steht die Haßfigur des proditor/predatel/προδότης Judas, ob in gemeineuropäischen Fluchformeln und Sprüchen über Judasbaum, Judas-bart, -reue, -schweiß, -wetter618 usw., in Karwochensprüchen auf Kreta619 oder Sprich-wörtern auf Karpathos620, immer ist er das räudige Schaf der Herde621 und der Sün-denbock, der küssende scheinheilige Verräter622, der in Exorzismusformeln und Bin-dezaubersprüchen gegen Diebe genannt wird, bartlos und rothaarig623, wie er auf den byzantinischen und spätmittelalterlichen Wandmalereien dargestellt ist, eine Figur, die man mit Verrat, Ärger, dem Teufel, Tod und Dummheit assoziiert624. Mit besonderer Intensität wird auf Kreta seiner gedacht : Er steht für Verrat, Schlechtigkeit, Undank-barkeit, Sprüche wie undankbar wie Judas, das ist ein Judaskuß, Unter 12 Aposteln findet sich auch ein Judas usw. sind in Alltagsreden häufig zu hören625, 13 gilt als Judaszahl, Rauch als »Weihrauch des Judas«, somatische Stereotypvorstellungen wie Roter Bart und blaue Augen / Seele des Judas, Herz des Satans werden evoziert ; προδότης gilt als Schimpfwort schon bei den Kirchenvätern626 ganz ähnlich wie bei den Südslaven627. Der iskariotische Bösewicht ist sogar in die erotischen Distichen (mantinades) eingegangen : Wie Judas sollst du werden, wenn du daran denkst / mich zu verlassen, die ich dir meine Jugend gab628 ; der skariotski gilt im Russischen629 als Synonym des Teufels ebenso wie in Kleinasien630, aber auch bei den Rumänen631 ; im östlichen Hellenentum gilt er als Geiziger und Durchtriebener632, in bezug auf die »richtige« Reue sagt man dort : Verlier den Judas aus deinem Herzen, damit du die Anastasis siehst633, in Dimitsana, in den Bergen der nördlichen Peloponnes, wird er o καθάπερ genannt634, auf den Ionischen Inseln zirkuliert das Schimpfwort : ein Judas ist er, spuck ihn an635 ; er gilt als Gesetzloser (άνο-μος) und Dreimalverfluchter (τρισκατάρατος). Auf Symi sagt man für einen schlampig Gekleideten : wie ein Judas vom Ostersonntag, was auf die Judasverbrennung einer ausge-stopften Strohfigur anspielt636.

Für die gemeinsamen Sprichwörter des Balkanraums gilt im allgemeinen, daß sie in ihrer Bildwelt oftmals dem Alltag und den Produktionsweisen des Agrarlebens ent-nommen sind ; die Gemeinsamkeiten beschränken sich dabei vielfach nicht nur auf Südosteuropa. Z. B. Kojto spi s kučeto, navăžda bălchi637 gibt es nicht nur im Serbokroa-tischen (dort Hennen) und im Griechischen (Όποιος ανακατεύεται με τα πίτουρα, τον τρώνε τα γουρούνια), sondern auch im Deutschen (Wer sich mischt unter die Kleie, den fressen die Säue)638. 1968 hat Nikolai Ikonomov ein vergleichendes balkanisches Sprich-wörterlexikon (2659 Eintragungen) herausgegeben, das bulgarisches, serbisches, türki-sches, rumänitürki-sches, griechisches und albanisches Material umfaßt639, aber auch Senten-zen und Redensarten. Aus diesem Material geht hervor, daß die größte Verwandtschaft

zwischen bulgarischen, (makedonischen) und serbischen Sprichwörtern besteht und daß die intensivsten Einflüsse, historisch-demographisch bedingt und durch die spe-zifische Schrifttradition, von türkischen und griechischen Sprichwörtern ausgegangen sind. Michael Meraklis hat 1985 diese Sammlung aufgegriffen640 und mit neuem Ma-terial erweitert641, zugleich aber Spruchgut und Redensarten, die mit dem eigentlichen Sprichwort nicht mehr viel zu tun haben, eliminiert und auf jene Fälle beschränkt, die im Griechischen Entsprechungen haben642. Aus diesen beiden Sammlungen seien ei-nige inSüdosteuropa praktisch universale Sprichwörter angeführt. Z. B. Der gute Tag zeigt sich am Morgen (537/144)643 (metaphorisch und im Wortsinn gebraucht) ; oder Von wo bist du ? Vom Dorf meiner Frau (1585/93)644.

Will man dieses Material gliedern, so ergeben sich etwa folgende thematische Kreise : im gesellschaftlichen Bereich : das Unrecht : Die einen graben und stutzen, die anderen trinken und betrinken sich (622/28)645, Die einen säen und die anderen ernten (634/33)646, Es rollte der Topf und fand den Deckel (1324/65) für Bestechliche, Schlaumeier und Durchtriebene, die sich sofort verstehen und gleich miteinander kooperieren (oder auch für eine häßliche Frau, die einen entsprechenden Mann findet)647, Die eine Hand wäscht die andere / und beide das Gesicht (645/110)648 für die gegenseitige Hilfestellung, Neben dem Trockenen brennt auch das Grüne (1832/141) für Unschuldige, die auch bestraft wer-den, Der Fisch stinkt vom Kopf (1987/155) für die Korruptivität der Oberschichten, be-sonders auf dem Balkan verbreitet649, Die Krähe kratzt der Krähe kein Auge aus (314/164) für die gegenseitige Hilfestellung der Mächtigen (die Reichen streiten sich nicht), Die großen Fische fressen die kleinen (363/204) über das Recht des Stärkeren, Wer sich mit dem Honig abgibt, schleckt auch seine Finger (993/207) über Veruntreuung fremden Guts650, Das Schaf fern der Herde frißt der Wolf (1112/231) über die Sicherheit des

Gemein-schaftslebens, auch Er ließ den Wolf die Schafe hüten (236 u. a. /343)651 ; zum Recht : Sitze schief und urteile gerade (1115/129) für die Rechtsprechung, Wenn das Kind nicht weint, gibt die Mutter nicht die Brust (557/157) Bedeutung : um Recht muß man kämpfen ; zur Gewalt : Der Pfahl wird mit dem Pfahl herausgeschlagen (930/253)652 – Gewalt wird mit Gewalt begegnet ; zur Kollektivstrafe : Er kann das Pferd nicht schlagen und schlägt den Sattel oder Der Esel ist schuld und der Sattel wird geschlagen (125 und 1391/290)653 – die Strafe trifft einen Unschuldigen ; für finanzielle Transaktionen : Wer auf Pump trinkt, be-trinkt sich zweimal (1045/58) auf die Schwierigkeit der Rückzahlung, Einen Nackten können hundert (tausend) Angekleidete nicht ausziehen (626/92)654 auf die Unmöglichkeit der Schuldentilgung, Schere das Ei und nimm seine Wolle (2472/199) für arme und säu-mige Schuldner655, Wer ein fremdes Pferd reitet, steigt schnell wieder ab (1087/236) über das Sich-Verlassen auf fremde Hilfe ; für sich verschlimmernde Zustände : Vom Pferd zum Esel (1584 und 2193/38)656, Den Regen haben wir vermieden, der Hagel hat uns ge-funden (186/349) – Vom Regen in die Traufe (europaweit), Öl ins Feuer schütten (316 und

1507/345)657 – eine kritische Situation noch weiter verschärfen ; für realistische Ein-schätzungen : Der Weinberg braucht keine Gebete, sondern die Schaufel (1163/41), Wer den Bart hat, hat auch den Kamm (1015/81) für das Interesse des Besitzers oder die Fähigkeit des Fachmanns, eine schwierige Aufgabe erfolgreich zu bewältigen658 ; auf die Schwie-rigkeit der Verhaltensänderung : Sosehr du den Schwarzen wäschst, die Seife vergeudest du (92/47)659, Was für ein Wald für Kohle ! (858/96)660, Wenn der Wolf auch altert und wechselt sein Fell / er ändert nicht seine Meinung noch seinen Kopf (295/184)661, aber auch Wenn der Wolf alt wird, wird er zum Spielzeug der Hunde (297/186), Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm (2650 und 1119 [Birne]/45)662 ; für Besitzverhältnisse : Das Auge des Herrn ernährt das Pferd (383/51) für das Interesse des Besitzers663 ; Wenn die Katze weg ist, tan-zen die Mäuse (947 und 1477/77)664 ; für die Unterschiedlichkeit der Menschen Alle Finger sind nicht gleich (793/128) (europaweit) ; über die Schwierigkeit der Zusammen-arbeit : Wo viele Hähne krähen, verspätet sich der Morgen (491/277)665 ; über die Unverant-wortlichkeit : Ein Verrückter wirft einen Stein in den Brunnen und vierzig Weise können ihn nicht herausholen (620/317)666 – eine unbedachte Tat kann schwere Folgen für viele

1507/345)657 – eine kritische Situation noch weiter verschärfen ; für realistische Ein-schätzungen : Der Weinberg braucht keine Gebete, sondern die Schaufel (1163/41), Wer den Bart hat, hat auch den Kamm (1015/81) für das Interesse des Besitzers oder die Fähigkeit des Fachmanns, eine schwierige Aufgabe erfolgreich zu bewältigen658 ; auf die Schwie-rigkeit der Verhaltensänderung : Sosehr du den Schwarzen wäschst, die Seife vergeudest du (92/47)659, Was für ein Wald für Kohle ! (858/96)660, Wenn der Wolf auch altert und wechselt sein Fell / er ändert nicht seine Meinung noch seinen Kopf (295/184)661, aber auch Wenn der Wolf alt wird, wird er zum Spielzeug der Hunde (297/186), Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm (2650 und 1119 [Birne]/45)662 ; für Besitzverhältnisse : Das Auge des Herrn ernährt das Pferd (383/51) für das Interesse des Besitzers663 ; Wenn die Katze weg ist, tan-zen die Mäuse (947 und 1477/77)664 ; für die Unterschiedlichkeit der Menschen Alle Finger sind nicht gleich (793/128) (europaweit) ; über die Schwierigkeit der Zusammen-arbeit : Wo viele Hähne krähen, verspätet sich der Morgen (491/277)665 ; über die Unverant-wortlichkeit : Ein Verrückter wirft einen Stein in den Brunnen und vierzig Weise können ihn nicht herausholen (620/317)666 – eine unbedachte Tat kann schwere Folgen für viele

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 138-147)