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Exkurs 4 : Lokaler Diffusionssradius – das Schandlied auf Judas

1. Märchen

Unter allen Gattungen und Kategorien der oralen Erzählkultur hat das Märchen im-mer die größte Aufim-merksamkeit der Forschung beansprucht, und unter den einzelnen Gruppen des Märchens das Zaubermärchen8 ; vorwiegend aus zwei Gründen : Zum ei-nen waren es die Archaismen eines praeanimistischen und animistischen Weltbildes, die mit ihren magischen Metamorphosen, Jenseitsreisen, den Ungeheuern und Men-schenfressern, Hexen und Feen, Riesen und Zwergen, magischen Gegenständen und Tierverwandlungen den romantischen Reiz der Binnenexotik ausübten, zum anderen die Internationalität und das Phänomen der homomorphen Polygenese, wo sich ver-gleichbare Parallelerscheinungen in unabhängigen Kulturen global als typologische Grundbausteine menschlichen Bewußtseins und früher Welterkenntnis erweisen, ähn-lich wie die Bild- und Denkfigurationen des Mythos. Sind die Zaubermärchen gegen den Mythos hin offen, so die Novellenmärchen (in manchen balkanischen Sammlungen auch Alltagsmärchen genannt) zum Schwank und zur Anekdote. Vuk Karadžić hat im Vorwort seiner wegweisenden Sammlung von 1853 die Märchen wegen ihrer phanta-stischen Vorkommnisse als Frauengeschichten bezeichnet, die realiphanta-stischen Schwänke als Männergeschichten9. Doch jenseits solcher gender-Stereotypen und der Frage, ob nun beide Gattungen den »einfachen Formen« zuzurechnen sind10 – Märchen be-stehen gewöhnlich aus mehreren Episoden, der Schwank bzw. die Anekdote aus ei-ner einzigen11 – gibt es grundlegendere Unterschiede, wie z. B. den, daß der Schwank Dummheit und abweichendes Verhalten mitleidlos verspottet, während es im Märchen so etwas wie eine umfassende und ausgleichende Balance gibt : Gerade die Menschen mit normabweichendem Aussehen und unterprivilegierter körperlicher Beschaffenheit haben besondere Fähigkeiten – die Blinden, Hinkenden, Krummen und Lahmen finden den Schatz, die somatisch Robusten und Gesunden, Riesen und menschenfressenden Draken haben oft beschränkte mentale Kapazität. Diese umgekehrte Proportionalität und Antithetik erweist sich als ein Strukturgesetz des Zaubermärchens : Die Draken schlafen mit offenen Augen, der Goldschatz erweist sich als Kohlenstaub, das Häßliche entpuppt sich als das eigentlich Schöne, das Unbedeutende als das Wichtige usw. Diese magische Dimension ausgleichender Gerechtigkeit geht den satirischen Genres völlig ab ; normabweichendes Aussehen oder Verhalten ist bloß lächerlich12.

Märchen sind keine feststehenden Texte, sondern improvisierte und performierte Sprechsequenzen im Rahmen gewisser situativer Kontexte, die nur in Varianten

existie-ren. Märchenerzählen erleichert die Arbeit, hilft Müdigkeit und Sorgen vergessen, hat einen gewissen Lerneffekt, manchmal sogar magische Effektivität : In der Bukovina in den Ostkarpaten glaubt man, daß ein Haus, in dem Märchen erzählt werden, vor dem Teufel und allem Bösem geschützt ist ; bei den Schafhirten in Maramureș wird das Mär-chenerzählen mit dem Beten gleichgesetzt und führt zur Geburt wunderbarer Läm-mer13. Dies kommt nicht von ungefähr. Unter gewissen Vorbehalten könnte man das Zaubermärchen als eine idealtypische Geschichte mit initiativer Funktion bezeichnen : Der Märchenheld14 in seiner absoluten Einsamkeit und Schmerzlosigkeit erlangt, aus-gehend von einer herabgeminderten körperlichen und sozialen Position, mit Hilfe von Tieren, Menschen und Gegenständen, nach der Lösung unmöglicher Aufgaben, Jen-seitsreisen und Drachenkämpfen, die Königstochter und den Thron (Familiengründung und soziales Ansehen) ; in einer Welt der Universalität ohne Gefühle und Innenleben entwickelt sich in Bestimmtheit und Klarheit, in Extremen und Kontrasten, mit Gaben und Aufgaben, Verboten und Bedingungen, Prüfungen und Abhängigkeiten, Lohn und Strafe eine vita exemplativa als Erfolgsgeschichte mit stereotypem Ausgang15. Die For-melhaftgkeit der Lehrgeschichte ist in den Eingangsformeln, die das Berichtete dem hic et nunc einer raumzeitlichen Bestimmung entheben, und den Endformeln, wo fictum und factum ineinander übergehen und die Realtätshältigkeit der Geschichte offengelas-sen wird, schon festgeschrieben16.

Die Zaubermärchen gehören vielleicht zu den ältesten Texten der Menschheit, doch sind sie nur vielfach überformt bis ins Zeitalter ihrer Aufzeichnungen gekommen : durch die Schrifttradition seit der Antike, durch das Vorlesen von popularen Lesestof-fen und »Volksbüchern«17 und aufgrund der Variabilität und Anpassungsfähigkeit, die sie als orale Fabulate und ars combinatoria von Kontaminationen aus sich besitzen, in der Integration von Wandermotiven, realistischerer Ausgestaltung usw. Die dialektische Rückbindung an das geschriebene Wort ist auch in Südosteuropa gegeben : Schrift-tradition und Literatur haben Märchenstoffe aufgenommen, Literaturmotive sind in die mündliche Tradition eingegangen. Wenn Pseudo-Kaisarios 525 n. Chr. schreibt, die Slaven äßen die Brüste ihrer Frauen, weil sie voll Milch sind, und erschlügen ihre Babies mit Steinen wie die Ratten, weil ihr Fleisch so gut schmecke, so geht es augenfällig um ein Märchenmotiv (AaTh/ATU 450)18. Antike Historiker und byzantinische Chrono-graphen sind voll von solchen ethnographischen Gerüchten. Auf der anderen Seite sind die Äsop-Fabeln geradezu massenhaft in die mündliche Tradition eingegangen, wie die Typenkataloge auch aus Südosteuropa für AaTh 1–299 beweisen19. Natürlich kommt es zu Abänderungen, Neuschaffungen bzw. gibt es mündliche Tierfabeln, die mit Äsop nicht mehr viel zu tun haben oder wegen ihrer Bekanntheit auf Sprichwörter verkürzt sind20. Auf der anderen Seite hat Penčo Slavejkov in seinem beliebten Fabelbuch Bas-nenik die Äsop-Geschichten literarisch bearbeitet21. In Bulgarien sind die beliebtesten

Tierfabeln die Geschichten um Fuchs und Wolf, den feigen Hasen, den gutmütigen dummen Bären, die phlegmatische Schildkröte, den prahlerischen Spatz, den dummen Esel usw. ; das Analogieverhältnis Tier/Mensch wird auch moralisierend und didaktisch eingesetzt, wie etwa in der Bärengeschichte »Mečkata i lošata duma« (AaTh 159B) oder der arbeitsamen Amsel »Rabotnijat kos«22.

An der Rezeption der Äsop-Fabeln in der oralen Tradition läßt sich jedoch auch das Verhältnis von Mensch und Tier im Märchen allgemein abhandeln. Nicht sosehr in den oft abstrusen ätiologischen Sagen, wie der Hund, der Wolf, der Adler, die Schlange usw. entstanden sind23, oder beim Motiv der Brautgewinnung durch eine mechanische Tierimitation (z. B. AaTh/ATU 516)24 bzw. bei der temporären Tierverwandlung in der

»Magischen Flucht«25 oder beim Motiv des tiersprachenkundigen Mannes26, sondern in den Zaubermärchen 1. vom verzauberten Tierbräutigam, 2. den dankbaren Tieren, die dem/der Held(in) helfen, die unlösbaren Aufgaben zu erfüllen, und den Geschichten um die 3. Tierverwandlung als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks. Zum ersten Kreis zählen z. B. die Märchen von der Fünfmalschönen, die als Frosch, Kröte, Katze, Kamel usw. geboren wird (Typus 402)27, jedoch bei manchen Gelegenheiten aus der Tierhaut schlüpft und sich in ihrer ganzen Schönheit zeigt (409A)28 ; der Prinz löst den Zauber durch das Verbrennen der Tierhaut (ganz ähnlich wie bei den Feensagen der (samo)vila und neraida, die sterbliche Männer heiraten). Das klassische Beispiel für den verzauberten Tierbräutigam ist jedoch der berühmte Erzählkomplex von »Eros und Psyche« (425 mit Untertypen), der schon von Apuleius (4.28–35, 6.1–23) im 2. Jh. n.

Chr. wiedergegeben wird29 ; in anderen Märchentypen gebiert die kinderlose Königin eine Schlange (433B)30. Doch die häßliche Tierhaut ist nur ein Ausdruck der Lieblosig-keit, mit der man die »Bestie«« behandelt ; sobald sie auf reine Zuneigung trifft, ist die Anthropomorphie wiederhergestellt : Im anthropozentrischen Weltbild des Zaubermär-chens ist die Tiergestalt nur ein Durchgangsstadium, eine initiatorische Prüfung und Reifezeit.

Die prinzipielle Äquivalenz von Mensch und Tier kennt aber auch den anderen As-pekt : Fungierte das Tier in der Fabel als Allegorie menschlichen Verhaltens, so haben die dankbaren Tiere im Zaubermärchen die Funktion der Helfer, die der Märchenheld braucht, um die unlösbaren Aufgaben erfüllen zu können, und die selbst im abstrak-ten Proppschen Funktionskatalog ihren Platz gefunden haben31. Der klassische Typ AaTh/ATU 554 (The Grateful Animals) kombiniert ganz verschiedene Geschichten32. Als Eingangsmotiv findet sich der dankbare Fisch im Drachentöter-Märchen (300)33 und dem Märchen von den zwei Brüdern (303)34, Löwen, Wölfe, Bären, Füchse und Hasen helfen dem Helden in den Versionen der Verräterischen und Menschenfressen-den Schwester (315, 315A)35, im Märchen um die Freierwette, ob sich der Bräutigam in spe vor der Prinzessin und ihrem Zauberspiegel verstecken kann, retten Fisch, Adler

und Fuchs dem Helden den Kopf (329)36. Die meisten Fälle finden sich freilich in der Sektion »Animals as Helpers«« (530–559) des internationalen Typenkatalogs : ein ma-gisches Pferd (531)37, der Gestiefelte Kater (545B, im Balkanraum meist der Fuchs)38, ein Fuchs oder Drake39 (550) usw.40. Die Mensch-Tier-Beziehung ist auf dem sozialen Gesetz des do ut des aufgebaut, im anthropozentrischen Weltbild des Zaubermärchens sind die Tiere wie selbstverständlich in die conditio humana mitaufgenommen ; Verstän-digungsschwierigkeiten gibt es keine.

Bei den Metamorphose-Märchen41 fungiert die Tierverwandlung meist, um den Magier im Verwandlungswettkampf zu besiegen42, aber auch der Gegner kann die zoo-morphe Transformation zu Lasten des Helden hervorrufen, um ihm den Garaus zu machen43. Tiermetamorphosen kommen auch als Strafe vor44, als Rettung vor den kan-nibalischen Eltern im Märchen von »Little Brother and Little Sister«45, als temporärer Zustand, bis ein Ziel erreicht ist46, usw.47. Das Fazit dieser kurzen tour de force scheint zu sein, daß es zwischen Mensch und Tier keine wirklichen Grenzen gibt, ebensowenig wie zwischen Diesseits und Jenseits (Unterwelt), Leben und Tod (Wiederweckungs-möglichkeit), wohl aber scharfe Trennungen zwischen Gut und Böse (aus der Sicht des Helden) ; die Gabe des Zauberns kann verliehen und vermittelt werden.

Die Tierfabel erweist sich demnach als eine relative enge Kategorie der Tierpräsenz im Märchen, und zwar mit einer ganz spezifischen moraldidaktischen und ethisch-normvermittelnden Funktion : als »zoologische«« Parabel und Allegorie menschlichen (Fehl)Verhaltens, eine Art satirischer Humansoziologie in einem imaginären Tierreich.

Die einzelnen Tiergattungen sind bloß Schlüsselfiguren und Chiffren für typologisierte Charaktereigenschaften, Sozialpositionen, stereotype Verhaltensweisen usw., die in kal-kulierte Exempel-Episoden und konstruierte Handlungsabläufe hineingestellt werden.

Im Gegensatz zum Zaubermärchen kommen Menschen gar nicht vor, weil Reineke Fuchs und Meister Petz selbst für Menschen stehen. Diese zweckrationale Stellvertre-tung auf dem Schachbrett der Didaktik des richtigen und falschen Sozialverhaltens geht im Zaubermärchen in ein oszillierendes Ineinander von Mensch und Tier über, das man auch aus der Mythologie kennt, wo Gottheiten wechselweise in zoomorpher und an-thropomorpher Gestalt auftreten können (Paradigma Zeus). Im Gegensatz zur tieferen initiierenden Welthaltigkeit des Märchens zielt die Fabel auf rational aufklärende, un-terhaltsam didaktische Belehrung.

Exkurs : Universaltopos Drachenkampf 2

Es ist kein Zufall daß die Kategorie der Zaubermärchen im internationalen Typenkata-log der oralen Erzählungen (300–749) mit dem Drachenkampf-Märchen einsetzt (300, 301 [A+B]). Schon bei der Analyse der oralen Versepik im ersten Teil konnte festgestellt

werden, daß der Überfall des Drachens auf den Hochzeitszug mit dem intendierten Brautraub und der Zweikampf des Brautführers mit dem Ungeheuer archaische Züge des Zaubermärchens darstellen, die bloß in ein historisch-heroisches Milieu projeziert sind : Das höchste Gut der Initiationsgeschichte Märchen, die Braut, soll in den anar-chischen Machtbereich des Ungeheuers par excellence, dem monströsen Drachen, über-wechseln48. Dessen Morphologie oszilliert zwischen einer menschlichen Bestie und dem schlangenförmigen Lindwurm (mit oder ohne Flügel), mit gemeinsamem Nenner die Monstrosität49. Dem ursprünglich wassersperrenden und opferfressenden Drachen der Schöpfungsmythen50 sind in Südosteuropa auch anthropomorphere Ausformungen funktionsgleich zugesellt51 wie der dev oder div52 und der drakos53. Ein griechisches Bei-spiel aus Kleinasien (Paraphrase) :

Eine kinderlose Königin wird auf Rat einer alten Frau durch den Genuß von Morgenurin der Stallpferde schwanger. Das nach neun Monaten entbundene bärenstarke und ewig hung-rige Wunderkind spielt mit schweren Eisenbällen, die es auf seinen Rücken fallen läßt, ohne Schaden zu erleiden. Auf dem Weg zur Jagd trifft es zwei Draken, die als Kraftprobe Bäume ausreißen und sich im Weitwurf proben. Der Königssohn wirft sie zu Boden und will sie mit seinem Eisenball töten, da ergeben sie sich und werden sein Gefolge. Ähnliches geschieht mit einem anderen Draken, der einen haushohen Stein wälzt. In einer dritten Begegnung besiegt er einen Draken, indem er ihn bis zum Hals in den Marmor schlägt. Er fragt ihn nach den drei verzauberten Königstöchtern, die dieser als Glas, als Besen und als Spiegel zu Hause ein-geschlossen hat. Er erfährt, daß sie mit der Quelle des Ewigen Lebens zu entzaubern seien, sodann schlägt er ihm den Kopf ab. Im Hause des Draken entzaubert er die Königstöchter und schickt sie heim. Beim Reiskochen erscheint jedesmal ein Kopf, der ihnen alles wegfrißt, bis ihn der Königssohn in zwei Stücke haut. Dem einen Draken, der ihm rät, die anderen, die das Ereignis bisher verschwiegen hätten, zu töten, haut er den Kopf ab. Dann steigt er in einen Brunnen, um sich vom Tod des Kopfes zu überzeugen. Dort findet er hinter einer Tür eine andere Welt mit Häusern, Feldern, Bergen und Bäumen. In einem Haus stößt er auf eine Alte, die mit ihrer Spucke Teig knetet. Auf die Frage, ob sie denn kein Wasser hätte, erzählt die Alte von einem Ungeheuer, das das Wasser absperre, und dieses nur solange laufen ließe, als es die ihm geopferten Mädchen verspeise. Heute sei die Königstochter an der Reihe. Er nimmt einen Krug und geht zum Brunnen. Dort setzt er sich hin und wartet : Da kommt auch schon die weinende Königstochter. Sie sagt ihm, er solle entfliehen, doch auf ihren Knien läßt er sich lau-sen. Dabei schläft er ein. Da erscheint das siebenköpfige Ungeheuer, und der Jüngling erwacht von den Tränen des Mädchens, die auf sein Gesicht tropfen. Mit dem ersten Schwertstreich schlägt er dem Drachen vier Köpfe ab, mit dem zweiten die anderen drei. Da läuft das Wasser mit Blut vermischt, und der tapfere Königssohn füllt die Krüge der Alten. Die Königstochter schickt er nach Hause. Auf dem Weg begegnet sie einem Köhler, der sie nötigt, ihn als

retten-den Helretten-den auszugeben. Er hängt sich sieben gesalzene Hundezungen an retten-den Gürtel, um seine Heldentat zu beweisen. Aber auch der Königssohn schneidet die Drachenzungen aus und hängt sie an seinen Gürtel. Der König läßt die Tochter mit ihrem vermeintlichen Retter, den Köhler, verheiraten. 40 Tage und Nächte dauert das Hochzeitsfest. Auch der Königssohn macht sich auf den Rat der Alten auf zum Palast. Auf dem Weg trifft er auf ein Haus mit drei Wai-senmädchen. Er verspricht, sie zu verheiraten, das jüngste will er selbst zur Frau nehmen. Er bringt sie zum Brunnen und läßt sie hinaufziehen. Als die Draken die Schönheit der jüngsten Tochter sehen, da schneiden sie das Seil durch, als er selbst etwa in der Mitte ist. Doch diese hat ihm einen Zauberapfel gegeben, der zu Watte wird, wenn man ihn wirft, und so bleibt er von seinem Fall unbeschadet.

Er geht wieder in die andere Welt zur Alten und diese schickt ihn zur Hochzeit in den Palast. Vom Fenster schon sieht ihn die Königstochter und erkennt ihn als ihren Retter. Als es zum Vergleich kommt mit den gesalzenen Hundezungen des Köhlers, läßt der König diesen von Maultieren auseinanderreißen. Der Königssohn aber schlägt die Heirat aus, bittet den König bloß, er solle ihn an die Oberwelt bringen. Da ruft der König die Adler, sie mögen ihn durch den Brunnenschacht nach oben bringen. Diese willigen unter zwei Bedingungen ein : Zuerst muß er eine große Schlange töten, die ihre Jungen frißt, auf der Reise muß er dem Adler, auf dessen Rücken er sitzt, Wein und kleingeschnittene Fleischstücke geben, wenn dieser es verlangt.

So geschieht es auch. Als das Fleisch jedoch zu Ende ist, schneidet sich der tapfere Königssohn Stücke aus seinem Bein. An der Oberwelt angekommen, sieht der Adler dies, spuckt das Fleisch-stück aus und heilt es an der Wunde an. Auf dem Weg erzählt ihm ein Alter, die zwei Draken hätten die drei Schwestern hinter einer Mauer, wer in diese ein Loch schlagen könnte, würde die jüngste und schönste zur Frau bekommen. Der Alte rät ihm auch, sich als alter Mann zu verkleiden : Er solle einen Alten abschlachten, seine Haut anziehen und einen Buckel bekommen wie er. Da schlägt ihm der Königssohn den Kopf ab, zieht seine Haut ab und hüllt sich in sie.

Als buckliger Alter erscheint er bei den Draken und will mit der Hand auf die Mauer schlagen.

Sie wollen ihn wegschicken, da dies bisher auch bärenstarke Jünglinge nicht vermocht hätten.

Doch der Alte schlägt ein Riesenloch in die Mauer und fordert die jüngste Schwester zu Frau.

Da sie nicht mit ihr herausrücken wollen, zeigt er sich in seiner wahren Gestalt. Da entfährt ihnen vor Schreck die Seele. Der tapfere Königssohn nimmt die drei Schwestern, heiratet die jüngste, die beiden älteren gibt er anderen. »Weder ich war dabei, noch sollt ihr es glauben«54. Diese etwas kunstlose Version mit ihrer ungeschickten Verklammerung der Episoden und den blinden bzw. verkümmerten Motiven wurde aus mehreren Gründen ausge-wählt : Zum einen wegen ihrer bemerkenswerten Brutalität, die freilich dem heroischen Ambiente des mythologischen Stoffes entspricht, zum anderen bringt die Version ver-schiedene Formen der Drachengestalt : das siebenköpfige Monster, die große Schlange und den anthropomorphen Draken (Diven) ; und zum dritten sind manche Episoden

deutlich dysfunktional und verdoppelt (z. B. die geraubten Mädchen), rationalisierte Er-klärungen eingeschoben bzw. Motive mißverstanden (ungenügend erinnert) und dys-funktional eingesetzt (der Zauberapfel im Brunnenschacht, der zu Watte wird, sobald der Held fällt)55 ; als Kontamination der Typen 300, 301A und 301B, stellt die Erzäh-lung eben keine idealtypische Variante dar, die den Taxonomien der Typenkataloge folgt, sondern spiegelt die anarchische und kreative Erzählrealität, die auch von der Gunst der Stunde und dem jeweiligen Erinnerungsvermögen geleitet wird. Bemerkenswert ist auch, daß sich die Unterwelt des Märchens deutlich von der Unterwelt der Klagelieder unterscheidet : Sie ist mehr oder weniger eine Kopie der Oberwelt, während das Hades-reich der Toten die Antithese zur Welt der Lebenden darstellt56. Die Erzählung bildet ein Konglomerat aller Typen des Drachentötermärchens : 300 The Dragon Slayer57 und 301 Quest for a Vanished Princess58, eine Geschichte, die schon der griechische Mytho-graph Konon im 1. Jh. v. Chr. wiedergibt59, das jedoch im griechischen Typenkatalog des Zaubermärchens aufgrund der unterschiedlichen Einleitung60 aufgeteilt bleibt in 301A The Golden Apples61 und 301B Born of His Mother’s Tears (Dakryannis/Arkoudoyannis)62. In den meisten europäischen Varianten ist das Drachentötermärchen auch eine Episode von 303 The Wins of Blood Brothers63. Als Episode taucht die drakontoktonia auch in an-deren Märchentypen auf, wie in dem Erzählkomplex um Amor und Psyche (425), den Geschichten um den Tierbräutigam (430–432) usw.64.

Der Drachenkampf ist als zentraler Themenkomplex früher menschlicher Imagina-tion ein gattungsübergreifender Magnet fast aller Erzählformen : Er verbindet nicht nur Mythos und Logos, sondern auch Schriftlichkeit (Epos) und Mündlichkeit, und hier verschiedene genres wie Lied, Märchen, Sage und Legende. Der hl. Georg mußte zur Hoch-Zeit der Heldendichtung im 12. Jh. in seinem Synaxarion auch Drachentöter werden65, und auch andere Heldenfiguren sind diesem Schicksal nicht entgangen, wie etwa Alexander der Gr. in den Volksüberlieferungen66 und im Schattentheater67. Viele Details des Hl. Georg-Liedes sind genau die gleichen wie im Drachentötermärchen68, und in vielen südosteuropäischen Versionen des Drachentötermärchens findet sich neben den namhaften Helden und den anonymen unbedeutenden auch Sankt Georg selbst69. In der Vorstellung des griechischen Schattenspiels »Alexander der Große und die verfluchte Schlange«« ist sogar das Motiv des Ausschneidens der Drachenzunge und der Betrugsversuch erhalten70. Seit den kosmogonischen Mythologien und der antiken Theseus- und Perseussage und der biblischen Paradiesschlange gilt der Drache als In-karnation des Bösen, des Übels und des Unheils, und bildet in der oralen Tradition ein

Der Drachenkampf ist als zentraler Themenkomplex früher menschlicher Imagina-tion ein gattungsübergreifender Magnet fast aller Erzählformen : Er verbindet nicht nur Mythos und Logos, sondern auch Schriftlichkeit (Epos) und Mündlichkeit, und hier verschiedene genres wie Lied, Märchen, Sage und Legende. Der hl. Georg mußte zur Hoch-Zeit der Heldendichtung im 12. Jh. in seinem Synaxarion auch Drachentöter werden65, und auch andere Heldenfiguren sind diesem Schicksal nicht entgangen, wie etwa Alexander der Gr. in den Volksüberlieferungen66 und im Schattentheater67. Viele Details des Hl. Georg-Liedes sind genau die gleichen wie im Drachentötermärchen68, und in vielen südosteuropäischen Versionen des Drachentötermärchens findet sich neben den namhaften Helden und den anonymen unbedeutenden auch Sankt Georg selbst69. In der Vorstellung des griechischen Schattenspiels »Alexander der Große und die verfluchte Schlange«« ist sogar das Motiv des Ausschneidens der Drachenzunge und der Betrugsversuch erhalten70. Seit den kosmogonischen Mythologien und der antiken Theseus- und Perseussage und der biblischen Paradiesschlange gilt der Drache als In-karnation des Bösen, des Übels und des Unheils, und bildet in der oralen Tradition ein

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 92-111)