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Rätsel und andere Kurzformen

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 147-200)

Exkurs 4 : Lokaler Diffusionssradius – das Schandlied auf Judas

2. Rätsel und andere Kurzformen

Rätsel sind oft zusammen mit den Sprichwörtern untersucht worden685, obwohl der Anwendungsrahmen des Fragespiels ein gänzlich anderer ist : Es geht nicht um die Evozierung kollektiven Wissens in einer Ausnahmesituation oder einer konventionel-len Konstellation, die zur Kommentierung reizt, sondern um ein aus der Wirklichkeit deutlich herausgehobenes Gesellschaftsspiel mit eigenen Regeln, wo cleverness, Vorwis-sen, die Spannung auf die Lösung und der Überraschungseffekt der Antwort mit der darauffolgenden Lachreaktion eine wesentliche Rolle spielen und den ganzen Vorgang sequenzenartig strukturieren. Der mysteriöse Zusammenhang zwischen bildlich ver-schlüsselter Deskription und dem gesuchten Objekt oder Wort hat auch die Semiotik interessiert686, geht es doch um eine Art Anti-Definition, die den Sachverhalt verun-klart statt ihn deutlich zu machen. Die Strategien der Lösungsfindung führen in ein anderes Weltbild und andere Denkweisen, denn wer würde die Lösung zu dem bulga-rischen Rätsel Sinja panica pălna pčenica (Eine blaue Schüssel voll Weizen) als nebeto i zvezdite, der Sternenhimmel, finden687. Die Lösungsfindung ist demnach eine eigene Kunst, die Phantasie und Bilddenken erfordert ; die Bildhaftigkeit und ungewöhnliche, ja surrealistische Zusammenstellung von Dingen, die üblicherweise bezuglos zueinan-der sind, bilden die eigentümliche Poetik dieser Aufgabenstellungen688. Die Witzigkeit der Lösung bildet den Reiz dieses Spiels und berstendes Lachen oder Bewunderung sind die belohnende Reaktion auf die noetische Akrobatik der phantasievollen Ant-wortfindung689. Die Bildhaftigkeit und sprachliche Verdichtung verbindet die Rätsel mit dem eigentlichen Sprichwort (nicht der Sentenz). Von der ehemals mythischen Wissensprüfung (Ödipus und die Sphinx, Turandot), von der in den Zauber- und No-vellenmärchen oft das Leben des Bräutigams bei der Brautgewinnung abhängt, ist nur mehr der spielhafte Gebrauch geblieben, an dem vor allem auch Kinder und Jugendli-che teilnehmen.

Rätselspiele waren schon im Altertum beliebt690, aber auch in Byzanz (auch in theo-logischer Spielart : Wer ist zweimal gestorben, wurde aber nur einmal geboren ? – Laza-rus)691, wurden in Südosteuropa seit dem 18. Jh. gesammelt692 und können heute auf eine umfassende, z. T. verstreute Bibliographie blicken693. Auch Kategorisierungsver-suche sind vorgenommen worden694, Kontextstudien695, Strukturdefinitionen696, mor-phologische Untersuchungen697 usw. ; vergleichende Studien finden sich eher in den Frühphasen698. Der Reiz dieser deskriptiven bildhaften Verbal-Kurzform liegt auch in der rhythmisierten oder versifizierten Formulierung : ψηλός ψηλός καλόγερος και κό-καλα δεν έχει (»ein langer langer Mönch, doch hat er keine Knochen« – der Rauch) mit Alliterationen, Binnenreimformen, Repetitionen und Echowirkungen, die manchmal

dem Kinderreim nahekommen.

Die Kommunikationssituationen des Ratespiels sind kultur- und regionalspezifisch, doch für Südosteuropa läßt sich in groben Zügen eine Typologie erstellen699 : Auslösende Situationen sind wie beim Märchenerzählen und anderen Langformen der oralen Nar-ration monotone Alltagsbeschäftigungen, Wartesituationen, die langen Winterabende, Spinnstuben-Versammlungen, Frauenarbeiten, aber auch Feste und Feiern, Hochzeiten, Brauchsituationen wie der klidonas am Vorabend des Johannes-Tags, auch eigene Ver-sammlungen von Mädchen und Burschen oder auch Kindern ; die Teilnahmeberechti-gung ist gleich für Jung und Alt, besonders beliebt jedoch bei der Jugend. Neben indivi-duellen Paarbildungen Frager/Gefragter gibt es auch Gruppenformationen mit kompli-zierteren agonalen Spielformen, wo der/die jeweils »wissende« Anführer(in) die Spiel-partner auswählt und die beiden Gruppen zu einem durchstrukturierten Wissens-Wett-bewerb antreten, mit deklamierten Einleitungsformeln, Herausforderung, stereotypen Dialogen bei Nicht-Findung der Antwort oder richtiger Antwort, aktiver Teilnahme aller Partner der Gruppe, dialogischen Schlußformeln und einem Punktesystem, das sich in der Gewinnung von Städten, Burgen usw. äußert, die zum Schluß zusammengezählt wer-den ; gewonnen hat, wer mehr Städte »erobert« hat. Es ist müßig auf die kollektive Unter-haltungsfunktion, den gruppenstabilisierenden Effekt, die Exemplifizierung des Wertes von Wissen und Klugheit, den öffentlichen Auftritt auch von Kindern, die Gelegenheit des Kennenlernens und der Neckereien der Jugend usw. hinzuweisen700. Die dichoto-mische Struktur des Frage-Antwort-Spiels schafft nicht nur kommunikative Spannung, sondern erhält durch den Gruppen-Antagonismus vor einer größeren Versammlung von Dorfbewohnern auch zusätzliche soziale Dimensionen der Selbstpräsentation (ähnlich wie die Festumzüge der colinde-Sänger[innen], vgl. den Ersten Teil). Daß dies in einem quasi-rituellen Rahmen geschieht, darauf weist die Tatsache, daß niemand von dieser Un-terhaltung ausgeschlossen ist und alle an dem Ratespiel aktiv teinehmen können.

Die intellektuelle Befriedigung, die die Lösungsfindung hervorruft, wird auch durch die scheinbar surrealistische, irrationale und absurde Fragestellung provoziert, die eine vollkommen logische Erklärung erfährt. Der intellektuelle Spaß an der Witzigkeit die-ser Lösungen ruft Überraschung, Freude, Genuß und Lachen hervor, um so mehr, je unlogischer und chaotischer die Formulierung der Fragestellung mit der Inkongruenz ihrer Gegenstände ist. Diese wird häufig durch die Zusammenstellung von leblosen Ge-genständen (Objekt) und lebendigen Menschen (Subjekt) oder dem Zusammenspan-nen von einander ausschließenden Gegensätzen (coincidentia oppositorum) erreicht701. Solche adynata sind aus der christlichen Mystik in der byzantinischen Hymnik und Homiletik geläufig. Trotzdem ruft die Wiederherstellung der logischen Ordnung er-leichternde Befriedigung und Lachen über die Originalität dieses fingierten Chaos und der restituierten Realität hervor. In diesem Zusammenhang wird oft Freuds »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« (1905) zitiert.

Dies gilt natürlich vor allem für die pseudo-sexuellen Rätsel, die eine völlig harm-lose Erklärung haben : Die Tabubrechung findet nicht statt, die Phantasie des Gefrag-ten wird in eine Falle gelockt ; das was er nicht wagt auszusprechen, ist letztlich gar nicht gemeint. Ich beuge mich, kniee mich hin vor dir, mein Langes in deinen Spalt – die Truhe, der Schlüssel und das Schloß702. Das ausbrechende Lachen ist zugleich eines der Erleichterung. Solche Rätsel werden auch vor und von Kindern ohne Unterschied aufgegeben, von Buben und Mädchen in den langen Stunden der Viehweide, was ein erhellendes Licht auf die Praktiken der Sexualerziehung in Oralkulturen wirft, die von pädagogischen Vorstellungen seit der Aufklärung weit entfernt sind703.

Die mehr als tausend Rätsel und ihre Varianten umfassende türkische Sammlung von Bașgöz und Tietze (auf Türkisch und Englisch) unterscheidet zwischen riddle proper, knowledge test riddles, word component riddles, die sich auf die Bezeichnung eines Gegen-standes beziehen, und parodierende mock riddles. Die Katalogisierung erfolgt aufgrund der Antworten704. Ähnlich der erschöpfende Thesaurus der neugriechischen Rätsel von Hatzitaki-Kapsomenu, die mehr als 30.000 griechische Rätsel mit ihren Varianten al-phabetisch nach den Antworten auflistet und derart ein für Südosteuropa repräsentati-ves Kompendium der Thematiken dieses Fragespiels nach Maßgabe der Antworten vor-legt705. Einen der größten Themenkomplexe bildet der Mensch : in seinen biologischen Gegebenheiten (Greis, Kind, Frau, Mann usw.), seiner sozialen Stellung (Berufe usw.), nach Körperteilen und ihren Funktionen706, nach Kleidung und Schmuck (Pluderhose, Gürtel, Schuhe, Strümpfe, Hut, Stock, Nachtrock, Überwurf, Brautschleier, Ohrring, Ring, Haube usw.) ; ein noch umfangreicherer Sektor ist Gebrauchsgegenständen ge-widmet707, worunter sich nicht mehr nur die Gegenständlichkeit der Agrarwirtschaft befindet, oder Gegenständen und Teilen des Hauses708, der Tier- und Pflanzenwelt709, Naturphänomenen und Himmelskörpern710, aber auch Musikinstrumenten (Geige, Klarinette, Lyra, Trommel, Klaviertasten, Dudelsack), der Welt der Schule (Buch, Ra-diergummi, Tintenfaß, Feder, Schreibtafel, Karte, Papier usw.), dem religiösen Leben711 und übernatürlichen Wesen (moires, pantokrator), aber auch neueren Technologien (Flugzeug, Auto, Zeitung, Fahrrad, Nähmaschine, Telegrafenmasten, Telefon, Zug, Photographie) und abstrakterer Begrifflichkeit712, die zeigt, daß sich das Rätselraten als Zeitvertreib und okkasionelles Gesellschaftsspiel praktisch bis in die jüngere Gegenwart fortsetzt.

Das auf die unerwartete Lösung beim Rätselraten erfolgende berstende Lachen713 verbindet die Rätsel mit dem Witz, der in gewissem Sinne auch eine dichotomische Struktur aufweist : 1. die Einleitung und Situationsentwicklung mit ihren Wieder-holungen und 2. die Pointe, auf die alles in steigernder Klimax hin abzielt. Die Frage, worüber lacht der Mensch, hat verschiedene Wissenschaftszweige beschäftigt714. Unter den vielen Gruppierungsmöglichkeiten der Witzformen ist in Südosteuropa besonders

der Kinderwitz untersucht worden, der oft viele folkloristische Motive enthält715, der Witz um ethnische Heterostereotypen716, aber auch moderne Formen wie die Ost-blockwitze um den gelebten Sozialismus oder auch nach der Wende717, die misogynen Tendenzen, die der Männerwitz vielfach enthält718, bzw. spezielle Textgruppen wie die Bektași-Witze in der türkischen Literatur719. Der Witz verbindet sich sowohl mit dem traditionellen Schwank sowie mit Kurzformen der urban legends und des rezenten All-tagserzählens720.

Doch zu den oralen Kurzformen zählen auch stereotype Alltagsfloskeln wie Flüche (kletvi) und Fluchformeln, Wünsche und Verwünschungen, Segenssprüche (blagoslovii), Grußformen und Abschiedsgruß (als gebärdenbegleitete Rede schon im Übergang zur Performanz), aber auch magisches Spruchgut wie Exorzismusformeln, Βeschwörungen und Bannsprüche, Zauberformeln und Orakel, Bindezauber und seine Lösung usw.

Dieses Spruchgut (επωδή) als metaphysische Kommunikation mit übernatürlichen Mächten zeichnet sich durch die gleiche vage Ungenauigkeit und partielle Unverständ-lichkeit aus wie das Rätsel in der Fragestellung : Doch hier wird nicht gespielt und nicht gelacht, jeder dieser Akte der weißen und schwarzen Magie ist bitterer Ernst721. Das heilige Wort ist unfaßbar wie die göttlichen Instanzen selbst ; das magische Spruchgut bewegt sich häufig in semikommensurablen Symbolnetzen christlicher oder weltlicher Provenienz, seine Sprachführung gleicht vielfach einem unverständlichen Abakadabra.

Die einschlägigen Formeln, die vielfach auch von Handlungsakten und Praktiken be-gleitet sind, finden sich meist in handschriftlich überlieferten magischen Handbüchern und therapeutischen Anleitungen medizinischer Selbsthilfe (iatrosophia), die in Ab-schriften und Kompilationen durch die Jahrhunderte manchmal bis auf die antiken und islamischen magischen Zauberpapyri zurückgehen722. Doch zur oralen Kommunikation mit extraterrestralen Instanzen zählt neben Orakelsprüchen und mantischen Praktiken, wo meist schon der performative Handlungscharakter überwiegt, auch das Gebet723 ; der griechische Revolutionsgeneral Makrygiannis schreibt in einer ausweglosen Situation einen Brief an Gott selbst724 und seine Handschrift »Visionen und Wunder« ist voll von Ansprachen an und Dialogen mit der höchsten metaphysischen Instanz725.

Im Rückblick bleibt festzuhalten, daß sich die Darstellung der mündlichen Folklore Südosteuropas nicht in dem gleichen Maße als komprimierbar erweist wie die Darstel-lung der schriftlichen Literaturen belletristischer Prägung im Balkanraum, was nicht nur mit der ungeheuerlichen Vielzahl der aufgezeichneten Varianten mündlich vermit-telter Texte und der dazu analog sich verhaltenden Zersplitterung der einschlägigen Se-kundärliteratur zusammenhängt, sondern auch mit der Tatsache, daß sich der Leser oral vermittelter Texte mit einer Welt konfrontiert sieht, die ihm nur teilweise verständlich ist, so daß sich wie von selbst die Notwendigkeit ergibt, in Form von Übersetzungen Beispiele dieser Textgattungen vorzustellen, die eine Vorstellung geben von der variie-renden Themengestaltung und den unterschiedlichen Denkfiguren der traditionellen Volkskulturen des Balkanraums, die sich eben signifikant von vergleichbaren mittel- und westeuropäischen Vorstellungen und Ausdrucksweisen unterscheiden. Aus diesen und anderen Gründen konnte eine erschöpfende und systematische Darstellung des Gesam-traums nicht geboten werden, die vermutlich einige Bände wird umfassen müssen und wiederum nur nach Ländern und Sprachen vorgenommen werden kann, wohl aber eine Übersicht ; jedoch konsequent wurde dabei der sprachübergreifende komparative As-pekt verfolgt, der ja den meisten Darstellungen abgeht. Darüberhinaus wurde versucht, in eigenen Exkursen einen diachronischen Durchblick über die transnationalen The-menvernetzungen und Motivschichtungen zu geben, um wenigstens an Fallbeispielen die Vieldimensionalität der Kulturverflechtungen jenseits von Staatenbildung, Hege-monialsprachen, Glaubenszugehörigkeiten usw. zu demonstrieren.

Ähnliches gilt für die Bibliographie, in den Fußnoten sowie in der kommentierten Bibliographie am Bandende. Bibliographien sind von Natur aus niemals vollständig.

Auch diese ist es nicht, und aufgrund der prinzipiellen Impossibilität einer Erstellung einer vollständigen Bibliographie zur Balkanfolkloristik wurde ein solcher Versuch auch gar nicht ins Werk gesetzt. Nichtsdestoweniger mag eingestanden werden, daß sie reichhaltig ist, und nach Maßgabe ihrer Quantität auch einigermaßen repräsentativ.

Die Kriterien jeglicher bibliographischen Auswahl bieten immer Angriffsflächen für mißgünstige Rezensionen, denn sie resultieren zu einem gewissen Teil auch aus per-sönlichen Präferenzen und den Vorstellungen des Autors über seine Verantwortlich-keit gegenüber dem Leser. Welchem Leser ? Als intendierte Leserschaft wurden vor allem drei idealtypische Kategorien ins Auge gefaßt : der Balkanspezialist, ein Forscher der vergleichenden Folkloristik und ein Allgemeinleser mit Interesse für den südosteu-ropäischen Raum, von dessen reichhaltiger Folklore er schon gehört oder gelesen hat.

Dazu kommen noch Leser aus einem der Länder Südosteuropas selbst, die

möglicher-weise ihren eigenen engeren Sprach- und Kulturraum zu wenig berücksichtigt finden, und Studenten der Balkanologie und Volkskunde, Slavisten, Romanisten, Albanologen, Neogräzisten, Ungaristen und Turkologen. Der erstellte Buchtext stellt diesbezüglich einen Kompromiß dar : Der Haupttext mit der master narrative und den ins Deutsche übersetzten Beispielen ist für alle geschrieben, der reichhaltige Anmerkungsapparat mit weiteren Angaben, Diskussion und Spezialbibliographie wendet sich jedoch mehr an Spezialisten oder spezifisch Interessierte, weil er partielle Interessensaspekte befriedigen und Ausgangspunkt für weitere Forschung darstellen mag. Darin liegt wohl Ziel und Funktion der Gesamtdarstellung : als erste umfassende vergleichende Übersicht eine Plattform und ein Referenzwerk für weitere komparative Studien zu bilden, die den ver-gleichenden Aspekt in Einzelfragen noch weiter vertiefen oder Übersichten von noch größerer Vollständigkeit provozieren.

Weiters wurde versucht, die aus dem Band zur Balkanbelletristik vom 15. bis zum frühen 20. Jh. bekannten Strukturmodelle auch für die mündliche Folklore zu testen und zu modifizieren. Vorab bleibt festzuhalten, daß die dort festgestellte gegenseitige Infiltration und signifikante Interaktion von Schrift- und Oralkultur, die als allgemeines Charakteristikum des südosteuropäischen Kulturraums gelten kann, auch aus der um-gekehrten Optik gilt : Sowohl die mündliche Überlieferung hat auf die Literaturen des Balkanraums gravierend eingewirkt (schon mit den dalmatinischen Humanisten, die Langzeilenlieder von den Adriainseln und aus dem bosnischen Hinterland aufnehmen und literarisch verabeiten), als auch die Schrifttradition hat rückwirkend auf die Oral-kultur eingewirkt, so daß sich breite Übergangszonen einer »Zwischenliteratur« zwi-schen Oralität und Literarizität ergeben, die sich nicht mehr nur auf »Volksbuch« und populare Lesestoffe beziehen, sondern in Stoff und Form universellere Gültigkeit haben, und die eine scharfe Grenzziehung zwischen schriftlicher und mündlicher Kultur viel-fach nicht mehr erlauben.

Noch interessanter ist allerdings das Schicksal des heuristischen Strukturmodells der konzentrischen Ringe um den inneren Balkanraum, das sich auf Chronologie und Re-zeptionsgeschwindigkeit diffundierender Literaturparadigmen von außen (vorwiegend dem Westen) bezogen hat, wobei ein äußerer Ring bereits Renaissance und Huma-nismus aufnimmt, ein mittlerer etwa das 18. Jh. betrifft und ein innerer von Romantik und Realismus tangiert wird ; in balkanischen Kerngebieten wie Albanien, Hercegbosna, Makedonien usw. tritt diese Kulturdynamik noch später im 20. Jh. auf. Es erweist sich, daß dieses für die Literaturrezeption und -produktion der Schriftkultur vorgeschla-gene Modell für die Produktion der mündlichen Folklore nicht einfach umkehrbar ist im Sinne, daß die ausschließlich mündliche Überlieferung im zentralen Balkanraum reziprok einer schwächeren Oralkultur in den äußeren Kreisen entspräche, die mehr westliche Literatur aufgenommen haben : Mündliche »Literatur«« wurde in den

kon-zentrischen Ringen dieses Modells genauso produziert wie im Zentrum, sie weisen allerdings eine andere Dynamik auf in ihrer Korrespondenz zur Belletristik und den Schriftmedien und sind auch nicht in diesem Ausmaß Gegenstand des wissenschaft-lichen Interesses geworden wie die privilegierte südslavische Volksepik durch die Vuk-sche Sammlung, die mit Enthusiasmus von der europäiVuk-schen Romantik aufgenommen wurde, bis hin zu den Formelstudien von Milman Parry und Albert Lord im Zuge der homerischen Frage, die weltweit eine ganze Welle der oral poetry-Forschung ausgelöst haben. Dazu treten auch Qualitätskriterien sowie Forschungspräferenzen in Bezug auf Archaik und Mythologie, die etwa die Langzeilenlieder zuerst in den Hintergrund tre-ten ließen. Doch Qualitätskriterien haben für Textprodukte der mündlichen Überiefe-rung nur beschränkte Gültigkeit, da diese nur in Varianten exisitert. Dazu noch in der Folge.

Der Punkt jedoch, wo das Ringmodell um den inneren Balkanraum im Falle der südosteuropäischen Folklore versagt, ist die Kulturgeographie der Diffusions- und As-similationsprozesse, die nun, da sie nicht mehr der Internationalität der Elitenkultur folgt, sondern der Lokalität und Internationalität der Unterschichtenkultur (Arbeits-migration, Transhumanz, Populationsbewegungen, Kriege und Aufstände, Aussiedlun-gen, Kleinhandel und Handelskontakte), stärker an die Glaubenszugehörigkeit und die administrative Reichseinbindung angelehnt bleibt. Das Diffusionsmodell Zentrum → Peripherie ist nun insofern zu modifizieren, als neben Venedig/Italien und die Habs-burger Monarchie in weiten Teilen der Balkanhalbinsel das Osmanische Reich und die türkische Folklore einen signifikanten kulturellen Einflußfaktor darstellen, was nicht nur an Märchenstoffen und der Bosporus-Metropole als Handlungsort von Geschich-ten aller Art abzulesen ist, an der islamischen Heldentypologie der südslavischen und albanischen Volksepik, sondern auch und vor allem an dem türkischen Schwankhel-den Nasreddin Hodscha, der die lustigen Geschichten großer Teile Südosteuropas in-filtriert hat und mannigfaltige Legierungen eingeht mit lokalen Schwankhelden wie Hităr Petăr oder dem aus Italien importierten Bertoldo. Dazu kommen noch Stoffe und Paradigmen, die in diesem Band nicht abgehandelt wurden, wie etwa die Kara-göz-Figur des Schattentheaters, die nicht nur in das rumänische Puppenspiel integriert wurde, sondern auch das Vorbild für den neugriechischen Karagiozis abgegeben hat.

Die fast ausschließliche Westorientierung, die im Falle der Schriftkultur und Belletristik zu beobachten war und die von der klassischen osmanischen Literatur nur punktweise durchbrochen wurde, geht in eine kompliziertere Überschichtung von Vorbildern und Einflußfaktoren über, bei der der osmanische Osten eine durchaus signifikante Rolle gespielt hat. Die De-Osmanisierung der balkanischen Nationalstaaten ist auf dem Folk-loresektor (wie in der Sprache und Gebrauchsnomenklatur) nicht derart systematisch gewesen ; das stereotype Bühnenbild des griechischen Schattentheaters ist weiterhin

von dem türkenzeitlichen Klassengegensatz : windige Hütte des Karagiozis – prächtiger Serail geprägt.

Ein weiterer gravierender Unterschied der balkanischen Folklore zur südosteuropä-ischen Schriftkultur besteht in der Tatsache, die vorhin schon angeschnitten worden ist und die an sich für jegliche Form von mündlich vermittelten Texten gilt : Die oral tradierte Folklore existiert nur in Bündeln von Varianten, die jeweils in ihrer Gesamtheit zu untersuchen sind und die jegliche ästhetische Vergleichbarkeit auch jenseits ihrer Sprachgebundenheit (Dialekte, Idiome, Regionalsprachen) a priori einschränkt. D. h.

die Komparabilität eines Lied- oder Märchentyps erstreckt sich prinzipiell auf zwei ver-schiedene Ebenen : 1. die Vergleichbarkeit der Typen untereinander und 2. der Vergleich der Varianten untereinander. Die Variabilität bzw. Varianz der Varianten und Versionen folgt anderen Vergleichskriterien als die Komparation von Typen : Bei den Liedtexten gibt es »gute« und »schlechte« Varianten, vollständige, fragmentarische und zersungene, und bei den Märchen und vor allem Schwänken führt die Kombination der Einzelse-quenzen seitens erzählfreudiger und kreativer Narratoren zu narrativen Kompositionen, die die Typenbestimmung in Verzweiflung geraten läßt. Die Typenkataloge der Erzähl-forschung ergeben insofern ein falsches Bild, als von geographischen und historischen Gegebenheiten abstrahierend eine Typologie erstellt wird, die keiner Erzählwirklichkeit entspricht und nur mehr wissenschaftliche Ordnungsfunktion hat. Ein Gleiches gilt für die Liedforschung : »Das« Lied vom Toten Bruder in den einzelnen Balkansprachen gibt es gar nicht, sondern nur Bündel von Varianten, die in gewissen thematischen und sprachlichen Punkten übereinstimmen. Eine ästhetische Qualifizierung kann sich daher nur auf eine Einzelvariante beziehen, nicht auf den Liedtyp.

Daher ist es methodisch sinnvoll, den Begriff der Vergleichbarkeit auszufalten in a) Ty-pologien (Vergleich auf raumzeitlich abstrakter Ebene, wie dies die Typenkataloge der Erzählforschung tun), b) Komparationen im Wortsinn (die einen historischen Kultur-kontakt auf regionaler oder überregionaler Ebene voraussetzen) und c) genetische Rela-tionen, Vorgängigkeit und Altersbestimmung (im Fall von nachweisbarer Diffusion, wie dies die finnische Schule der internationalen Erzählforschung angewendet hat). Derar-tige theoretische Aspekte der Komparabilität sind jedoch nur punktweise in diese Dar-stellung eingeflossen. Damit sind die methodischen Schwierigkeiten und

Daher ist es methodisch sinnvoll, den Begriff der Vergleichbarkeit auszufalten in a) Ty-pologien (Vergleich auf raumzeitlich abstrakter Ebene, wie dies die Typenkataloge der Erzählforschung tun), b) Komparationen im Wortsinn (die einen historischen Kultur-kontakt auf regionaler oder überregionaler Ebene voraussetzen) und c) genetische Rela-tionen, Vorgängigkeit und Altersbestimmung (im Fall von nachweisbarer Diffusion, wie dies die finnische Schule der internationalen Erzählforschung angewendet hat). Derar-tige theoretische Aspekte der Komparabilität sind jedoch nur punktweise in diese Dar-stellung eingeflossen. Damit sind die methodischen Schwierigkeiten und

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 147-200)