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Komparationsachse Nord-Süd – Zwölftenkalanda

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 60-64)

das Neujahrsfest, flankiert von zwei religiösen Festen, die Christgeburt und Jordantaufe (geistige Geburt Christi), und sind durch die Wintersonnenwende und den Glauben an die Anwesenheit der Totenseelen auf der Oberwelt ein durchgehender Zeitabschnitt von außerordentlicher Komplexität mit einem ganzen Netz von Superstitionen, apotro-päischen und prophylaktischen Praktiken, mantischen Orakeln usw.544. Im nördlichen Balkanraum und Ostmitteleuropa setzt diese Periode mit den Umzugsliedern der Krip-penspieler (Herodeskasten), Herbergsucheliedern usw. ein, die sich vom dalmatinischen Küstenstreifen über Innerösterreich, Slovenien, Kroatien und Ungarn, Siebenbürgen bis in die Transdanubischen Fürstentümer und in die Ukraine hinein hinziehen (vicleim, vertep, betlemaši, kriskindle, betlejka usw.)545, ganz ähnlich wie das Sternsingen, die Drei-königslieder usw. am Ende der Periode546, die jedoch nicht den orthodoxen Kommuni-kationsraum tangieren, wo die theologische Bedeutung des Theophanie-(Epiphanie-) Festes der Jordanstaufe Christi die Signifikanz der Drei Magier aus dem Osten für das Heilsgeschehen überschattet hat547.

Bei den regölés-Umzügen in Westungarn und im siebenbürgischen Szeklerland sin-gen die theriomorph verkleideten Sänger am St. Stefanstag (2. Weihnachtstag) ein An-singelied, in dem die wundertätigen Hirsche mit tausend brennenden Kerzen am

Ge-weih eine wesentliche Rolle spielen548, ein europaweit verbreitetes Sagenmotiv549, das bereits in mittelalterlichen Heiligenviten auftaucht und auch in Südosteuropa große Verbreitung genießt550, vor allem in den rumänischen colinde-Liedern551, wo die Hin-din ihr eigenes Ende voraussieht (ganz wie das weissagende Lämmchen den Tod des Hirten in der Miorița-Ballade, vgl. oben)552 bzw. das nähende Mädchen, das der Hirsch, in einer überschwemmungsartigen Sintflut schwimmend, in seinem Geweih trägt ; aus seinen Knochen soll ihr neues Haus erbaut werden. Von der eindringlich magisch-my-thischen Atmosphäre dieser Lieder soll ein Beispiel in deutscher Übersetzung gegeben werden.

Der kleine Alt ist groß geworden, / so groß, / daß er ohne Ufer ist ; / Was treibt im Alt ? Hohe Tannen, / ausgedorrte Fichten, / zwischen Tannen und Fichten / schwimmt / ein dreijähri-ger Hirsch. // Der Hirsch schwimmt, / er hat ein Geweih, / auf dessen Sprossen / eine grüne seidene Wiege ist, / gestrickt aus 6-fachen geflochtenem Faden. // Wer aber sitzt in der Wiege ? Sieh’ da, ein großes Mädchen / mit einem Zopf auf dem Rücken, / hell wie die heilige Sonne. / Sie näht und stickt / ein Krägelchen für ihren Vater, / ein Taschentuch für ihren Bruder. / Und sie näht nicht / in üblicher Art, / sie singt dabei aus / lauter Kehle : / Sachte, sachter, / dreijäh-riger Hirsch, / sachte, sachter mit dem Schwimmen, / damit mein Nähen nicht verwirrt wird.

/ Denn es erbeben die hohen Wellen, / und ich könnte zwischen deine Geweihe fallen. // Sachte, sachter dreijähriger Hirsch, / denn ich habe drei Brüder, / die zum Hofe geschickt wurden, / und am Hofe / lernen sie viel. / Alle drei sind Jäger, / die mit Falken auf die Hatz gehen.

/ Sie werden dich erblicken, / mir nachfolgen, / mit Falken dich jagen, / mit Windhunden dich bezwingen, / mit Speeren dich bearbeiten. // Sachte, sachter, dreijähriger Hirsch, / wenn meine Brüder dich sehen, / werden sie mir die Hochzeit machen / mit deinem armen Fleisch. / Hirsch, mit deinen Knochen / werden sie mir das Haus zimmern. / Hirsch, mit deinem Fell / werden sie das Häuschen umhüllen. / Hirsch, mit deinem Blut / werden sie das Haus bemalen.

/ Hirsch, mit deinem Haupt / werden sie einen festlichen Schmaus begehen. // Hirsch, deinen Schädel / werden sie an’s Pförtlein stellen, / (an’s gewölbte Pförtlein), / unten am Gärtlein. / Aus deinen Hufen / werden sie Becher machen, / kristallene Becher, / woraus die großen Boja-ren trinken / an seltenen Festen …553.

Zu den rumänischen Hirschjagd-colinde gehört auch die Version vom prahlenden Hir-schen, den der Jäger endlich doch erlegt : Aus seinem Geweih werden Flöten und Alp-hörner geschnitzt, die scharfen Augen gibt er den Falken, die Hufe den Spürhunden, sein Fleisch wird die Kämpfer und Hirten des Kaisers erwärmen554. Das Motiv des eitlen Hirsches, der auf der Flucht mit dem Geweih im Dickicht hängenbleibt, ist als antikes Fabelmotiv bekannt (ATU 77)555. Die Hirsch- und Hindinnenjagd hat in der kavalleresken Literatur erotisch-allegorische Untertöne, ein Teil dieser

Ansingelie-der wird auf das heiratsreife Mädchen gesungen. Im allgemeinen jedoch evoziert das Jagdszenarium die Virilität und Geschicklichkeit des Jünglings und wird in seiner Initi-ationsfunktion, parallel zu der strengen Gruppenorganisation der Burschen, gesehen556. Ähnliche Jagd-colinde werden auch auf den Löwen557, den Adler558, den Delphin559 und den Auerochsen560 gesungen. An die südslavische Oralepik erinnert auch die colindă vom Weltenbaum in der Mitte des Meeres, wohin der Held mit seinem Zauberpferd unbenetzt gelangt, um einen Goldapfel der Ewigen Jugend zu pflücken oder eines der Mädchen zu freien561, oder er jagt mit seinem Zauberrappen über den Himmel und holt sich die Schwester der Sonne, die nach ihr sucht562. Auch kosmogonische Mythen kommen zur Darstellung, wie in der colindă um den Diakon Theodor, einem Mönch mit Pferde-Seele563.

Solche Bilder von archaischer Größe sind im orthodoxen Süden nicht anzutreffen, wo die Abhängigkeit der kalanda-Lieder von den ekklesialen Troparien viel deutlicher ist, wenn auch z. T. in nicht mehr kirchensprachlichen, desintegrierten, reduzierten und zersungenen Formen und interpoliert mit Wandermotiven aus anderem Liedgut, wie es in tausende Male gesungenen Gebrauchsliedern im Kindermund zu erwarten ist. Im hellenophonen Kommunikationsbereich, um ein geographisches Gegengewicht zum balkanischen Norden zu schaffen, kommen dazu die verstechnischen Umstellungen von der byzantinischen reimlosen Hymnik zum »politischen« Vers des 15silbers im Volks-lied unter Einführung des Paarreims im 15. Jh. aus dem Westen564. Der ekklesiale Ur-spung dieser Ansingelieder ist vor allem bei den umfangreichen religiösen Ansingelie-dern auf Zypern noch deutlich565.

Die kalanda haben als Gebrauchslieder gewöhnlich komprimierte Narrationen, tra-gen deutlich die Zeichen der oralen Übelieferung und foltra-gen als assoziative Motivkette den evangelischen Ereignissen nur aus der Ferne ; sie sind nicht in der Lage, die quasi-logischen Mentalstrukturen der ekklesialen Poesie (»typologische Übertragung«) zu reproduzieren und geben eher statische Bilder der offenen assoziationslogischen Denk-figuren der Volksmentalität566. Die Christgeburts-kalanda bringen in acht Versen nicht viel mehr als die Festankündigung, die Krippenszene mit Engelgesang und den Hinweis auf die Hirtenanbetung567 ; nur die Ankündigungsformel zeigt noch Reste von Kirchen-griechisch. Die zweite Standardvariante bringt »paganes« Bildgut und ist zur Gänze auf die Festankündigung reduziert568. Dieses Formelskelett kann freilich angereichert werden (in aromunischen Varianten folgt noch die Mahnung, die Christmesse nicht zu versäumen, oder auch umfangreichere und spezifischere Gabenbitten)569. Daneben gibt es noch regionsspezifische Varianten, wie zu B. die ostthrakische Version, die die Gottesmutter in den Geburtswehen zeigt ; hier ist auch von der Hebamme die Rede, die nach dem apokryphen Jacobus-Evangelium die Virginitätsprobe vornimmt570. Noch verstärkt treten pagane Elemente im Neujahrslied auf, das von einer Knabengruppe

un-ter Ausführung von apotropäischen und glückbringenden Gesten abgesungen wird571. In christlicher Umdeutung ist der 1. Januar der Festtag des kappadokischen Kirchen-vaters Basileios aus Kaisareia (der auch die Geschenke für die Kinder bringt), doch ist von dem »patristischen« Kontext nicht viel übrig geblieben, da der Heilige entweder als Schüler auf dem Weg zur Schule oder als Bauer auftritt. Das nur mehr assoziationslo-gisch »erklärbare« Schüler-Lied572 endet mit dem Blütenwunder des dürren Wander-stocks573. In ausführlicheren Varianten zieht er auf Pilger-Wallfahrt nach dem Hl. Grab, der Dialog mit drei Fürsten weist ihn jedoch dennoch als Schüler aus, der als Lesekun-diger aus den Erbauungsbüchern vorlesen soll574. Die Bauern-Variante ist vor allem im östlichen Hellenismus verbreitet : Christus besucht auf Erden die Landwirte und als ersten den Hl. Vasilis ; er fragt ihn nach Saat und Ernte, nach Vieh und Jagdglück – und alles steht zum besten. Dort wo Jesus gestanden hat, wächst ein Goldbaum mit einer Quelle, die Vögel auf dem Baum netzen ihre Krallen und besprengen den Hausherrn575. Doch dieser Lebensbaum, in religiöser Ausgestaltung, wird auch in manchen Theopha-nie-kalanda auftauchen.

Die Umzugslieder, die neben dem Tauftroparium am Vortag und am Festtag ge-sungen werden, stellen den Baptismus-Akt am Jordanfluß ins Zentrum und die Bitte Marias an den Hl. Johannes den Vorläufer, ihren neugeborenen Sohn zu taufen576. In manchen Varianten fehlt die Gottesmutter jedoch zur Gänze und Christus bittet den Prodromos selbst um die Taufe577. In einer Inselversion (Kasos) taucht jedoch der Para-diesbaum auf dem Christusgrab in einer merkwürdigen Motivsequenz wieder auf, die heterogene Bildelemente um die beiden Festbedeutungen, Epiphanie und Jordantaufe vor dem Hintergrund von Himmel und Hölle, Taufe und Jüngstem Gericht verbindet.

Dieses bemerkenswerte Lied, das die Eckpfeiler der christlichen Jenseitsvorstellungen assoziativ vernetzt, hat in deutscher Übertragung folgenden Wortlaut :

Dies Fest ist nicht wie das vergangne, / ist groß und schrecklich und gespriesen, / wo Priester schreiten mit dem Kreuz in Händen / und in die Grotten gehen und den Jordan singen, / Hilfe sei Euch der große Johannes. / Unten in Jerusalem am Grabe Christi / Dort war kein Baum, es wuchs einer. / In der Mitte war Christus, am Rand die Madonna / und in den Zweigen ringsum Engel und Erzengel. / O Erzengel Michael, der du unsre Seelen nimmst, / gib mir die Silberschlüssel, die silberklingenden, / daß ich öffne das Paradies und kühles Wasser trinke, / und mich schlafen lege unter dem Zitronenbaum, / daß ich den Erzengel sehe, den furchtbar schrecklichen, / der die Seelen wiegt der Sünder und Gerechten, / wohin der Gerechte geht, sind weithin ausgebreitet, / mit Rosen, mit Rosen, Bäume gepflanzt. / Wohin der Sünder geht, o Schlangen ! O Bären ! / Wie das der Sünder hört, schlägt er seinen Leib / mit Stöcken und mit Stangen, bis ihm die Seele entfährt. / Und Maria die Despoina steht ihm tröstend zu Seite : / – Halt ein, du Sünder, schlage nicht deinen Leib, / ich bin barmherzig und rette deine Seele. /

In Jordans Wassern wurde getauft mein Sohn / Und sogleich im Himmel ein Paradies errich-tet. // Gebt uns den Hahn, gebt uns die Henne, / Gebt uns den Zwanziger, daß wir die Tür verlassen578.

Dies ist jedoch nicht mehr der mythische Weltenbaum in der Mitte des Meeres579, sondern eine christliche ikonographische Vorstellung, der Untertyp des Bildes von der

»Wurzel Jesse«, »Άνωθεν οι προφήται« (»Oben die Propheten«) genannt, die die Pro-pheten des AT auf den Baumzweigen sitzend zeigt, die in ihren Schriftrollen, die sie in Händen halten, das Kommen des Messias verkünden580. Die heilsgeschichtlichen Zeit-schichten sind in diesem Lied ineinander verschoben : In das Taufgeschehen sind der noch ungeborene Christus sowie der schon verschiedene Heiland in einer Endzeitvision des Jüngsten Gerichts zusammengespannt in dem Baumwunder am Grabe Christi, wo gleichzeitig der Eintritt in sein Leben (Taufe) stattfindet ; Geburt und Tod sind hier gleichsam außerzeitlich identisch geworden, wie Geburt und Tod des Jahreskönigs, des eniautos daimon. Die Vorstellung von Christus (und Lazarus) als Vegetationsheros (Re-surrektion im Frühjahr) ist eine Grundvorstellung der Volksfrömmigkeit581.

Gleichzeitig mit den religiösen Liedern des Festtags begehen die Kinder auch lär-mende Umzüge mit dem kurzen Dämonenabwehrlied gegen die kalikantzaroi, wo die die Totenseelen vorstellenden Zwölftengeister vor dem Weihwedel des Popen flüch-ten582. Die Parallelität von Umzügen und Liedern läßt die generelle Tendenz eines Süd-Nord-Gefälles der Religiosität der Ansingelieder im Balkanraum zum Teil als Konstrukt erscheinen, vor allem wenn man das Repertoire der variablen Loblieder auf Familienmitglieder in Rechnung stellt, wo die »paganen« Elemente vorherrschen ; doch sind auch hier nicht immer grenzscharfe Unterscheidungen zwischen den eigentlichen Ansingeliedern zum Festanlaß und den »panegyrischen Spezialliedern« zu treffen583. Dazu kommen zu Neujahr noch reine Glückwunschlieder, wie die der nordgriechisch-bulgarischen survaknici, die neben dem Schlag mit der Kornelkirschrute in Liedform auch Prosperität und Gesundheit wünschen584. Gemäß der Varianz der Festbedeutun-gen und der traditionellen LegierunFestbedeutun-gen von sakralen und säkularen Elementen ist die Variabilität dieser Ansingelieder relativ hoch zu veranschlagen, im Gegensatz zu ande-ren, die großräumig trotz der verschiedenen Sprachen eine relativ hohe Homogenität aufweisen.

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 60-64)