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Balladen und Erzähllieder

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 40-44)

Am Definitionsproblem der Ballade sind schon viele Studien gescheitert und es gibt keinen internationalen Konsens darüber, welche gattungsmäßige Spannweite dem Ter-minus beigemessen werden soll : Ursprünglich wohl als spätmittelalterliches Tanzlied entstanden, ist der »weiche« Begriff dieser Gattung nach allen Seiten hin offen und eigentlich nur inhaltlich bzw. stilistisch nach dominierenden Tendenzen und zugegebe-nermaßen vage einzugrenzen : Kürze und Dramatik, ohne Vorgeschichte und Erklärun-gen in der Faktizität der Ereignisfolge szenisch strukturiert und oft dialogisch darge-stellt, die Rezeptionsdistanz ist stark verkürzt, so daß der Zuhörer mehr zum Zuschauer der exzeptionellen Vorkommnisse und persönlichen Existenzsituationen des (der) Prot-agonisten wird, wobei amourös-tragische, familiäre oder soziale, aber auch novellistische Stoffe, manchmal auch in historischem Kleid, vorherrschen ; die Handlungsentwicklung wird in Antithetik, Repetitionen und bei Bevorzugung der direkten Rede rapid und dynamisch vorangetrieben. Nach inhaltlicher Verwandtschaft grenzt die Ballade als Er-zähllied eher an Sage, Legende und Schwank als dem Märchen257. Als polymorphe und multifunktionale Liedform kennt sie verschiedene Aufführungsformen (mit oder ohne Musikbegleitung, mit oder ohne Tanz) ; Balladen können auch in verschiedenen Brauchkontexten zum Vortrag kommen (mit oder ohne Veränderungen als Klagelied, Hochzeitslied, als religiöses Ansingelied im heortologion usw.) bzw. andere Liedgattun-gen (wie z. B. die Volksepik, das historische Lied usw.) können auch als Balladen gesun-gen werden258. Die Schwierigkeiten der Klassifizierung haben dazu geführt, daß der von der Société Internationale d’Ethnologie et de Folklore geplante europäische Balladenkatalog unvollendet geblieben ist259 ; dies gilt in gleichem Maße für den südosteuropäischen Raum260. Den Anreiz zu diesen Klassifizierungsversuchen hat die Tatsache der Ver-gleichbarkeit gegeben, die für den Balkanraum im Gegensatz zu anderen Liedgattungen besonders augenfällig ist und das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat.

Während der Terminus Ballade in den Balkansprachen fast durchwegs verwendet wird (mit Ausnahme Griechenlands, wo sich παραλογή durchgesetzt hat)261, allerdings nicht von den Sängern selbst, sondern von den Folkloristen, unterliegt der Begriffs-inhalt bedeutenden Schwankungen : In der weitesten Auslegung umfaßt er fast den Gesamtbestand des Volksliedes, in der engsten Auslegung die nicht-mythologischen und ahistorischen Lieder über Familienkonflikte und tragische Erosaffären bzw. an-dere exzeptionelle Ereignisse wie Inzestverbrechen, Giftmorde usw. Eine Übersichts-darstellung hat demnach kaum eine andere Wahl, als der Terminologie der einzelnen Forschungstraditionen zu folgen und auf die Durchlässigkeit der Gattungsbegrenzungen im Volksliedbereich neuerlich hinzuweisen. Die meisten der fast durchwegs sprachim-manenten und z. T. auch regionalspezifischen Textsammlungen selbst setzen sich

be-reits mit Stil, Metrum, Umfang, Repetitionen, Sprachführung, inhaltlichen Motiven und thematischen Präferenzen auseinander ; solche Balladensammlungen und Über-sichten liegen für das Rumänische262 vor, das Ungarische263, das Südslavische264, das Albanische265 und das Griechische266. Daneben gibt es auch Übersichtsdarstellungen, die sich mit der Theorie der mündlichen Überlieferung beschäftigen, Klassifikations-problemen, der Ästhetik der Ballade, sprachlichen Formelbildungen, Einflüssen, der Variantenforschung, translingualer Komparatistik, Refolklorisierung usw. ; auch diese Studien sind fast durchwegs sprachimmanent bzw. ländermäßig fokussiert (mit einigen Ausnahmen wie Vargyas’s epochemachende Balladenwerke)267 und betreffen ebenfalls das Ungarische268, Rumänische269, den südslavischen Raum270, das Albanische271 und Griechische272. Dazu treten noch z. T. vergleichende Einzeldarstellungen zu spezifischen Liedtypen, Motiven und Themen, wie das »verlassene Mägdlein«273, die Entführung274, die Wiedervereinigung der Geschwister275, Bruderzwist wegen bösem Eheweib276, der Schwimmer277, die Sonnenhochzeit278 und andere279. Eine Reihe von Studien bezieht sich auch auf spezifische Liedgruppen, entweder nach Maßgabe ethnischer Gruppie-rungen280 oder thematischer Kriterien281. Eine repräsentative sprachübergreifende Er-fassung der einschlägigen Bibliographie ist schon aus Raumgründen nicht möglich und nur von einem Forscherteam zu bewältigen.

In gewisser Hinsicht ist eine solche Erfassung aber auch gar nicht notwendig, es sei denn zur Erstellung eines Hilfsinstrumentariums für die Balkankomparatistik ; die Vitalität der oralen Gesangskultur in einem solchen geographischen Großraum von überwältigender Vielfältigkeit führt zu einer Unzahl von Liedtypen und Varian-ten, jedoch noch gravierender sind die fließenden Grenzen der von der Folkloristik als Balladen bezeichneten Lieder zu anderen Liedkategorien hin, so daß es metho-disch eher angezeigt ist, sich auch bibliographisch an eine Minimaldefinition zu halten und eine maximale Erfassung gar nicht anzustreben. Und diese besteht in den her-ausstechenden Thematiken der Familienkonflikte wie Inzestverbrechen, Giftmorde, Kindestötung, tragische Liebschaften und Verwünschungen (die nach Maßgabe des magischen Weltbildes immer in Erfüllung gehen), die einen familiensoziologischen bzw. kulturanthropologischen Ansatz der Imaginationswelten der Balladenstoffe er-lauben, vor dem Hintergrund archetypischer Konstellationen und psychoanalytischer Hermeneutik. Als erste Andeutung sei nur auf die völlige Absenz (außer der Volksepik und den Heldenliedern) der Vaterfigur (gewöhnlich in Initiationsfunktion) hingewie-sen, die der Vorstellung vom Balkanpatriarchalismus völlig zuwiderläuft. Aus diesen Gründen seien zuerst kurz die Übergangsformen skizziert, sodann der Kernbereich der Balladenkonflikte analysiert, um dann in einigen Exkursen die bekannten Kom-parationsparadigmen in ihren geographischen, variationsmäßigen und interpretativen Verzweigungen zu verfolgen.

Die Kategorienbildung schon der frühen Sammlungen des 19. Jahrhunderts hat dazu geführt, daß Volksepik und Ballade terminologisch vielfach nicht auseinandergehalten werden, sei es durch die Erwähnung eines historischen Heldennamens282, das hohe Alter des Liedes283 oder Versformen, wie das Langzeilenlied284, das gewöhnlich in der Volksepik verwendet wird. Archetypik und Historizität können einander in ähnlicher Weise die Waage halten wie beim Heldenlied (vgl. wie oben)285. Dasselbe gilt für das Vorhandensein von mythologischen Wesen, wie dem zmej (als Schlangenbräutigam aus dem Märchen)286, Hexen287, Vilen als Wahlschwestern288 (auch der Sagenkreis um die Vilenheirat)289. Sozialhistorische Stoffe, die die Familienebene übersteigen, sind eher selten290, ethnische Konflikte in manchen Fällen nationalistische Retuschierungen aus der Wiedergeburtszeit291.

Erstaunlich ist immerhin die Anzahl, Verbreitung und Prägnanz von Tabubrechun-gen wie Inzestverbrechen292 und kriminellen Akten wie Giftmord293, die die Institution Familie auf imaginärer Ebene in einer extremen Dauerkrise zeigen. In einer Analyse der intrafamiliären Beziehungen in griechischen Balladen konnte Margaret Alexiou fest-stellen, daß in dem Beziehungsdreieck : Sohn (Bräutigam) – Braut (Tochter) – (Schwie-ger)Mutter die Ehe durchwegs in Brüche geht und wenn nicht mit Gewaltverbrechen, so doch mit dem Tod einer oder mehrerer Mitglieder der Kernfamilie oder zumindest der Auflösung der Ehe und damit der Annullierung der potentiellen Teknogonie en-det294. Dabei ist keineswegs nur die sprichwörtlich böse Schwiegermutter das treibende Movens295, sondern die Mutter-Imago selbst erweist sich als grundsätzlich ambivalent : lebenspendend und beschützend bzw. moralische Werte gegen ihre Überschreitung und Mißachtung vertretend, aber auch vernichtend und katastrophal, indem die grundle-gendsten Taburegelungen der Menschheit durchbrochen werden296.

Entscheidend ist in fast allen Fällen Rolle und Aktivität der Mutter : Zu den posi-tiven Fällen zählt der verhinderte Kindertausch297, die Hilfe für die schlecht verheira-tete Tochter298 usw., bei den Liebesaffären ihrer Kinder ist ihre Haltung unterschiedlich (gewöhnlich negativ für die Tochter und positiv für den Sohn)299, doch tritt sie auch für die Einhaltung der Ehrnormen ein300 (z. B. Verfluchung des nekrophilen Sohns301, Verhinderung des Inzests mit der Nichte302, der Verrat des Intimgespräches der Tochter

mit einem Jüngling an ihre Brüder, die sie zu Tode prügeln303). Das Motiv der Mut-ter als VerräMut-terin klingt schon in den Hochzeitslamentationen beim Verlassen des El-ternhauses durch die Braut an304. Die Wende der Mutterrolle ins Negative ist dann vollzogen, wenn sie z. B. als Kupplerin für ihre Tochter auftritt305 bzw. Inzestgelüste für ihren eigenen Sohn anmeldet306. Inzestvergehen und Blutschande sind in allen Ver-wandtschaftsgraden, vor allem zwischen Geschwistern, anzutreffen307. Doch die nega-tive Mutter-Imago308 kennt noch grausamere Spielarten : den Kindesmord (als Täterin oder Urheberin)309, die Tötung der verwaisten Braut durch die Schwiegereltern310, den

intendierten Tod der Braut durch die Mutter des Bräutigams, der nach dem Gesetz der symmetrischen Verkehrung die Tötung der grausamen Schwiegermutter durch ihren eigenen Sohnmit sich bringt311, und in einer grausigen Sequenz von Ehebruch, Kindes-mord, thyestischem Mahl und Todesstrafe die »Mutter Mörderin« (μάνα φόνισσα)312. Das letale Ende eines Sohnes kann auch durch die müttlerliche Verwünschung, die sich immer verwirklicht, herbeigeführt werden313 (eine solche bildet auch die Basisachse der Handlungssequenz im »Toten Bruder«)314. Mit geringerer Intensität ist das Motiv des ungewollten Brudermords anzutreffen315 bzw. des intendierten Brudermords, den die böse Ehefrau jedoch mit ihrem Leben bezahlt316.

Die abolute Dominanz des Mutter-Sohn-Inzests im nicht-ödipalen Sinn (treibende Kraft die Mutter) steht in schlagendem Gegensatz zur patriarchalen Wirklichkeit der Gesellschaft, wo zweifellos die Vater-Tochter-Beziehungen bei den Tabuübertretungen vorherrschen, die im Märchen wohl vorhanden sind, aber kaum im Volkslied. Derar-tige Interessenslücken beziehen sich z. B. auch auf homoerotische Beziehungen, die nicht einmal in den satirischen Porno-Liedern des Karnevals auftauchen317 (dieselbe eklektizistische Attitüde ist auch beim Bestiarium der Volkslieder zu beobachten, wo bestimmte Tiergattungen völlig absent sind)318. Daß sich das Krisenpanorama der Bal-laden um die gefährdete oder verhinderte Familie gerade auf den Mutter-Sohn-Inzest spezialisiert, betrifft sicherlich mehr die imaginäre Welt der Liedschöpfung, ist jedoch gerade deswegen nicht unabhängig von den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen zu sehen, die hinter diesen Liedern stehen319, und hat mit der Frauenrolle zu tun320. Geradezu ein Paradebeispiel scheint die berühmte, von Alberto Fortis 1770 im dal-matischen Hinterland aufgezeichnete321 »morlackische« Ballade »Hasanaginica«322 zu bilden, deren Handlungsführung ohne das islamische Eherecht und die zentralbalkani-sche Patriarchalität nicht denkbar wären323. Wenn man als Gegenbeispiel die kretische Ballade der »Erofile« aus dem Inselraum hält, wo die illegale Heirat zwar dem gesatzten Recht von Adel und Monarchie, aber auch dem Gebrauchsrecht der Population der Großinsel nicht entspricht, der tragisch-sentimentale Stoff jedoch dem Rechtsempfin-den der BallaRechtsempfin-densänger(innen) entgegenkommt324, so wird die schlagende Antithese im Ambiente der Sozialkonditionen augenfällig. Sowohl die gehorsame Agasfrau wie auch die ungehorsame Königstochter in Memphis finden ein tragisches Ende, das als ungerecht empfunden wird ; die eine durch die Eheregeln der islamischen Polygamie, die andere durch Selbstmord, nachdem ihr illegaler Ehemann von ihrem Vater zu Tode gefoltert worden ist. Die eine Ballade hat im Rahmen des romantischen Orientalismus ein enormes Echo im Europa des 19. Jahrhunderts gefunden325, die andere wird erst in Liedaufzeichnungen der Großinsel im 20. Jh. bekannt ; sie entstammt den veneziani-schen Drucken der Tragödie »Erofile« von Georgios Chortatsis (um 1600), die als po-pularer Lesestoff über die gesamte Balkanhalbinsel hin zirkulierte und in die mündliche

Überlieferung eingegangen ist326, die andere stellt selbst eine quasi-literarische Kompo-sition von hohen ästhetischen Ansprüchen dar, die durch die zahlreichen literarischen Übersetzungen den Status eines »orientalischen« Kunstprodukts erhalten hat327. Das relativ harmlose Vergehen wird im osmanisch-patriarchalen Kontext mit unerbittlicher Härte geahndet (die fünffache Mutter wird von ihrem Ehemann verstoßen, weil sie nicht rechtzeitg am Krankenbett des in den Grenzkämpfen Verwundeten erscheint und von ihrem Bruder zu einer Neuheirat gezwungen)328 ; in der Fiktivwelt eroshafter Re-naissancedichtung im mythischen Memphis, der die kretische Ballade verpflichtet ist, ist der Verstoß gegen die patriarchale Ordnung weit gravierender : Erofile hat heimlich den mit ihr aufgewachsenen Panaretos geheiratet, ihr Vater läßt sie jedoch am Leben, damit sie lebenslang um ihren Gatten weinen kann, was endlich dazu führt, daß die unglückliche Königstochter Hand an sich legt, um mit ihrem Geliebten im Tod vereint zu sein329.

Derartige tragisch-sentimentalen Stoffe lassen wie von selbst die Frage nach der Ka-tegorie des ženske pesme, eines spezifischen Frauenlieds, aufkommen330, bei dem Balla-denstoffe nach den älteren Sammlungen eine bevorzugte Rolle spielen ; in der schier un-beschränkten regionalen Varianz der Singsituationen, denen die an sich schon proble-matischen Liedgattungen eigentlich nur fallweise in der Mikroregion zuzuordnen sind, bildet die Sängerkategorie nach gender-Merkmalen eine durchaus unsichere Kategorie.

Bei den Kinderliedern fällt diese Unterscheidung überhaupt weg331. Eine andere Frage ist, wer spricht aus diesen Liedern ? Z. B. bei den Liedern auf die Fremde handelt es sich oft deutlich um die Perspektive und Ängste der zurückbleibenden Frauen im Falle der Arbeitsemigration. Aber auch hier ist bei gattungsspezifischen Verallgemeinerungen Vorsicht geboten332.

Bei deskriptiven Stereotypmotiven wie dem Frauenlob, der Klage, dem Raub usw.

spielen Naturvergleiche aus der Pflanzen- und Tierwelt eine wesentliche Rolle333, und stereotype Rituale wie die Hochzeit werden in eine astralkörperliche Dimension erho-ben (z. B. die Sonnenhochzeit, Miorița)334. Zur poetischen Syntax der Lieder, zu Vers-bau, Stereotypbestandteilen, Repetition usw. lassen sich kaum Vergleiche anstellen, da die Lieder sprach- und melodiegebunden sind ; eine translinguale Komparation läßt sich jedoch auf der Ebene der Thematik und Motivik anstellen, wo gerade bei der Bal-lade eine erstaunliche Konsistenz mancher Stoffe festzustellen ist.

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 40-44)